Cem Özdemir hat bei diesem Gesetz lange gezögert, noch länger überlegt, wie er es machen sollte – und dann ist der Landwirtschaftsminister am vergangenen Montag doch ziemlich überraschend mit dem Werbeverbot um die Ecke gekommen. Vor allem für seine Kolleginnen und Kollegen in der Ampel. Dass diese Idee mit wenigen Worten im Koalitionsvertrag steht, wussten alle; dass Özdemir es so ausgestalten würde, ahnten sie dagegen nur. Eine knappe Woche später sind die politischen Fronten verhärtet. Hier die Gegner aus der Industrie und aus der FDP; sie kritisieren ungezielte und vermeintlich wirkungslose Verbotsmaßnahmen und befürchten wirtschaftliche Einbußen. Dort das Ministerium, das vor allem auf die Gesundheit der Kinder abhebt – und trotz des Gegenwinds auf einen Erfolg hofft.
Sollte das Werbeverbot wie geplant kommen, wären die Auswirkungen massiv. Özdemirs Pläne sehen vor, sich an der Verbotsliste aus den europäischen Nährwertprofilen der WHO zu orientieren. Das Modell gibt Nährwert-Obergrenzen für unterschiedliche Lebensmittelkategorien vor. Ist der Grenzwert überschritten, ist Werbung an Kinder verboten. Das betrifft pauschal Schokolade, Gebäck, Eis, Fruchtsäfte, Energy-Drinks sowie Limonade und Milchprodukte, wenn ihnen Zucker zugesetzt ist. Kompromiss-Limonaden mit Süßstoffen darf es auch nicht geben. Schorle ist erlaubt. Verboten werden soll Werbung, die zwischen 6 und 23 Uhr läuft und sich an Kinder richtet oder – regelmäßig – von ihnen wahrgenommen werden kann. Betroffen ist das gesamte Medienangebot für Kinder, analog, im Netz und an Plakaten in der Nähe von Kitas, Schulen und Spielplätzen.
Die Reaktionen sind inzwischen so massiv wie die möglichen Konsequenzen. Die Liberalen werfen Özdemir vor, er verfolge das Ziel, „aus jedem unmündigen Kind einen unmündigen Bürger werden zu lassen“. Die FDP-Abgeordnete Ulrike Harzer hält die WHO-Kriterien für weltfremd und verlangt, dass Eltern ihre Kinder für gesundes Essen sensibilisieren müssten. Noch drastischer äußert sich Christoph Minhoff, Hauptgeschäftsführer des Lebensmittelverbands. Er spricht von der Rückkehr der „alten Verbotspartei“. Dem Ministerium gehe es „nicht darum, die Kinder zu schützen, sondern die Erwachsenen zu erziehen“.
Die Verlagswirtschaft fordert, die Politik dürfe die Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft nicht zusätzlich staatlich belasten. Der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger und der Medienverband der freien Presse erklären, dass Werbeeinnahmen für die Finanzierung der Presse unverzichtbar seien. „Vor diesem Hintergrund sind Werbeverbote immer auch Einschränkungen der Pressefreiheit.“
Auch die Werbewirtschaft wehrt sich. Der Zentralverband bemängelt fehlende Wirksamkeitsnachweise von Özdemirs Vorhaben. „Die untaugliche Verbotspolitik nimmt in Kauf, die Refinanzierung von Medien und Sport weitgehend zu beschädigen und den Wettbewerb, darin eingeschlossen den Markterfolg von Innovationen, auszuschalten“, sagte Verbandspräsident Andreas F. Schubert bei Kress. Branchenexperten warnen schon, dass durch das Verbot Werbeinvestitionen von bis zu drei Milliarden Euro pro Jahr betroffen sein könnten.
Das Ministerium sah früh voraus, dass es mit diesem Gesetz nicht einfach werden würde. Also entschied man sich, damit auf die Zeit nach der Fußball-WM und nach der Grünen Woche zu warten. Es sollte Ruhe herrschen, die Sache sollte einigermaßen beherrschbar bleiben. Die Strategie des Ministeriums, das Vorhaben kurzfristig anzukünden, zeigte den Wunsch, die öffentliche Debatte von Beginn an zu bestimmen. Also gab es keine Vorabstimmung mit möglichen Gegnern im Kabinett; in diesem Fall wäre die Gefahr groß gewesen, dass das Gesetz nicht vom Ministerium selbst, sondern über geleakte Informationen an die Öffentlichkeit kommen würde.
Özdemir wollte den Ton der Debatte setzen. Weil dem Grünen-Politiker klar war, welchen Aufruhr dieses Vorhaben auslösen würde, setzte er auf eine klare Botschaft: das Recht von Kindern auf eine gesunde Ernährung. Verbraucherschützer und Gesundheitsverbände hat er damit auf seine Seite bekommen. Geschlossen demonstrierten sie ihre Unterstützung für Özdemirs Pläne. Ramona Pop von der Verbraucherzentrale präsentierte eine Forsa-Umfrage, der zufolge 85 Prozent der Erwachsenen in Deutschland sich ein entsprechendes Werbeverbot wünschen.
Entsprechend froh gibt sich das Ernährungsministerium am Wochenende. Özdemirs Sprecher Julian Mieth berichtet von „außerordentlich viel Zustimmung“. Auch diverse Kabinettsmitglieder hätten bereits ihre Unterstützung zum Ausdruck gebracht, so Mieth zu Table.Media. Im eigenen Haus, das unter Amtsvorgängerin Julia Klöckner noch auf die Selbstregulierung der Werbebranche setzte, habe man eine große Offenheit für das Vorhaben wahrgenommen, weil freiwillige Selbstverpflichtungen nicht gewirkt hätten. Laut Mieth war die Werbewirtschaft schon 2022 in den Prozess eingebunden, habe aber „keine substanziellen Lösungsvorschläge gemacht“. Das ändere aber nichts daran, dass die Werbewirtschaft auch im weiteren Prozess beteiligt sein werde. Und dabei könne sie „selbstverständlich ihre Sichtweise einbringen“.
Beim Blick auf die erwartbaren wirtschaftlichen Einbußen der Industrie setzt das Ministerium darauf, „dass es genügend andere Werbefelder gibt“. Im Übrigen würden die Lebensmittel ja „nicht verboten“. Außerdem würden sicher neue und gesündere Rezepturen entwickelt. Und für die könne und dürfe dann ja wieder geworben werden.
Soll wohl heißen, dass das alles doch nicht ganz so schlimm sei. Dass das auch die Kritiker irgendwann so sehen, ist eher unwahrscheinlich. Das Gesetz befindet sich nun in der Abstimmung mit den anderen Ministerien, mit dem Parlament und mit den Bundesländern.