Analyse
Erscheinungsdatum: 02. Februar 2023

Warum die CSU zur Landpartei werden könnte

v.l.n.r. Bernhard Loos, Wolfgang Stefinger, Stephan Pilsinger (Bilder: IMAGO/IPON, Tobias Koch, Timo Hänseler)
Kein Bundestagsabgeordneter mehr aus München? Keiner aus Würzburg oder aus Nürnberg? Allmählich wird der CSU bewusst, was ihre jahrelange Blockade bei der Reform des Wahlrechts für sie bedeutet: Der Ampelvorschlag raubt ihr fast jede Chance, aus den großen Städten Abgeordnete nach Berlin zu entsenden.

Bei der CSU ist der Katzenjammer groß. Es ist eine Mischung aus heißem Zorn auf die angeblich rücksichtslose Ampel und aus der Erkenntnis, dass man sich mit der eigenen Strategie wahrscheinlich selbst ein Bein gestellt hat. Jahrelang hatte die Partei von Markus Söder bei der Reform des Wahlrechts sämtliche Änderungsvorschläge blockiert. Jetzt will die Ampel-Koalition mit ihrer Mehrheit eine Reform beschließen, die der CSU weh tun dürfte.

Formal geht es der Ampel darum, die Zahl der Abgeordneten dauerhaft zu reduzieren und unter Kontrolle zu halten. Ihre entscheidenden Bausteine: Es bleibt wie bisher bei 299 Direktwahlkreisen. Es soll aber keine Überhangmandate mehr geben. Und um das zu verhindern, gewinnt die sogenannte Zweitstimme noch etwas mehr Gewicht: Sie alleine wird künftig darüber entscheiden, wie sich die Mehrheiten im Parlament verteilen. Die Konsequenz: Bislang direkt gewählte Abgeordnete, die ihren Wahlkreis nur knapp gewonnen haben, sind womöglich trotz dieses Erfolges nicht mehr im Parlament. Das trifft nicht nur die CSU. Aber die CSU trifft es besonders.

Allmählich erkennen die Christsozialen, wie groß die Veränderungen sein werden. Sie wehrten sich gegen jede Reform ja auch deshalb, weil sie Direktmandate grundsätzlich für die wertvolleren Mandate halten – und diese deshalb auf keinen Fall antasten wollten. Darin spiegelte sich eine romantische Vorstellung vom Wahlkreisabgeordneten als großem Kümmerer wider, der sich „bei denen da oben“ für die örtlichen Belange einsetzt. Das mag für ländliche Gebiete so sein, in städtischen Ballungsräumen wissen die Bürger dagegen oft erst mit dem Aufhängen der ersten Wahlplakate, wer die Direktkandidaten ihres Stadtbezirks sind.

Die Alternative, also die Verringerung der Wahlkreise, hätte die CSU zwar auch getroffen. Aber sie hätte beim Prozess mitwirken können. Jetzt, in der Opposition, ist das vorbei. Und das wird für die CSU aller Voraussicht nach massive Folgen haben: Es wird ihre Zusammensetzung und soziologische Struktur in der Bundestagsfraktion grundlegend verändern.

In Gefahr geraten nun aus Sicht der CSU vor allem die Wahlkreise in den Städten, in denen SPD und Grüne stärker sind, die Ergebnisse deshalb knapper ausfallen und die Prozentzahlen der Sieger vergleichsweise klein bleiben. Bei einem Dreikampf zwischen CSU, Grünen und SPD holt der Sieger am Ende meist weniger als 30 Prozent der Stimmen. Auf Grundlage des von der Ampel geplanten Wahlrechts wären bei der Bundestagswahl 2021 alle drei Münchner Wahlkreissieger der CSU auf der Strecke geblieben, ebenso die Kandidaten aus Nürnberg, Fürth und Augsburg.

Die naheliegende Schlussfolgerung, städtische Kandidatinnen und Kandidaten der CSU künftig stärker über die Landesliste abzusichern, hat in den goldenen Jahren der CSU noch funktioniert und ist auch immer so praktiziert worden. Doch diesen Weg hat sich die CSU mit ihrer Weigerung, den Bundestag über eine Verringerung der Wahlkreise zu verkleinern, selbst verbaut. Das Verhältnis zwischen Erst- und Zweitstimmen wäre in diesem Fall das gleiche geblieben. Jetzt wird sich das zugunsten der Zweitstimme, die künftig Hauptstimme heißen soll, verschieben. Bei ihren jetzigen Wahlergebnissen würde für die CSU über die Liste sehr wahrscheinlich niemand mehr in den Bundestag einziehen.

Im gar nicht mal unwahrscheinlichen Fall, dass es genau so kommt, wird die CSU auf Bundesebene zu einer Partei des ländlichen Raums. Ursula Münch, die Politikwissenschaftlerin und Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing: „Die Gefahr sehe ich.“ Für das Profil der Partei würde das enorme Folgen haben. Zum einen käme es zu der kuriosen Situation, dass nicht die städtischen Wahlkreissieger der CSU, sondern ihre unterlegenen Konkurrenten von Grünen, SPD und FDP über die Liste in den Bundestag einziehen würden. Die CSU würde als Vertreterin der Interessen durch die Konkurrenz ersetzt werden. Das würde das politische Gewicht der CSU in den urbanen Zentren weiter schwächen.

Zum anderen würde sich das Profil der CSU-Landesgruppe im Bundestag ändern. Sie würde ländlicher und vermutlich auch konservativer werden. Das wiederum hätte zwangsläufig Auswirkungen auf die Gesamtfraktion und damit auch auf mögliche künftige Koalitionskonstellationen im Bund.

In der CSU sind jetzt einige zornig. Das werde man SPD, Grünen und FDP lange nicht vergessen, heißt es dort. CSU-Generalsekretär Martin Huber hatte sich in seiner ersten Reaktion sogar zu der Äußerung verstiegen, dass die Ampel etwas mache, was man nur aus Schurkenstaaten kenne. Die Hoffnung der Kritiker richtet sich jetzt darauf, dass es in letzter Minute zu einem Kompromiss mit der Regierung kommt – oder dass die Pläne am Ende juristisch gestoppt werden. Doch die Hoffnung, dass das Ampel-Konzept verfassungswidrig und ein Sieg vor Gericht deshalb so gut wie sicher ist, wird längst nicht von allen geteilt. Den Realisten ist klar, dass die Regierung nicht aus purem Machtrausch gehandelt, sondern ihr Konzept sorgfältig geprüft hat. Das werde sich nur schwer kippen lassen.

Deshalb richtet sich der Zorn nicht nur Richtung Berlin und Ampel. Wie bei der CDU richtet er sich auch nach innen. „Das ist an der Engstirnigkeit des Herrn aus Peißenberg gescheitert“, heißt es über die vielen vergeblichen Anläufe zu einer Wahlrechtsreform. Mit dem „Herrn aus Peißenberg“ ist CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt gemeint, den viele für den Hauptschuldigen halten. „Wenn man das Unvermeidliche nicht rechtzeitig macht, kommt es am Ende immer schlimmer“, sagt einer der Kritiker über Dobrindts Blockadestrategie.

Von CSU-Chef Markus Söder ist in der Sache bisher nur wenig zu hören. Für Söder zählt derzeit ausschließlich die Landtagswahl im Herbst, von der sein weiteres politisches Schicksal abhängt. In München ist die Auseinandersetzung über das Wahlrecht stets unbeachtet geblieben. Das Thema hat man in der Parteispitze gerne Dobrindt überlassen.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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