Offiziell heißt die Partei „NEOS – Das Neue Österreich und Liberales Forum“ und existiert in der Form erst seit gut zehn Jahren. Zur FDP gibt es seit geraumer Zeit Kontakt: Schon 2017 besuchte Christian Lindner Parteichefin Beate Meinl-Reisinger während des Wahlkampfs in Wien, nach der Bundestagswahl 2021 wiederum lobte die ihren deutschen Kollegen: Als Finanzminister werde er dafür sorgen, „dass eine verantwortungsvolle Politik für die nächsten Generationen über die nächsten Jahre umgesetzt wird“.
Nach der Nationalratswahl am Sonntag in Österreich könnte es sein, dass Lindner etwas Ähnliches sagt: Meinl-Reisinger möchte nämlich ebenfalls Finanzministerin werden. Und zwar in einer Koalition mit ÖVP und SPÖ, um eine Regierungsbeteiligung der FPÖ trotz deren wahrscheinlichen Siegs zu verhindern. Beide Parteien würden sich für die gleichen Ziele einsetzen, heißt es von der FDP – etwa eine „wirtschafts- und wachstumsfreundliche Politik, die Entlastung der Bürger und Betriebe sowie mehr Ordnung und Kontrolle in der Migration“.
Es gibt dennoch Unterschiede: Weltoffenheit und gesellschaftspolitische Liberalität sind für die NEOS ein Kernanliegen. Die FDP teilt diesen Markenkern grundsätzlich, hat ihn in der Bundesregierung zuletzt aber hintangestellt. Während die deutschen Liberalen derzeit zudem als Bremser wahrgenommen werden, präsentieren sich die NEOS – offiziell lassen sie im Namen das „die“ weg – als konstruktive Kraft.
Sie seien die„entscheidende Kraft“ in der Frage, ob es eine „Reform-Regierung“ gibt oder eine Neuauflage der 2019 am Ibiza-Skandal zerbrochenen Koalition aus ÖVP und FPÖ, betonen sie. Für die ÖVP hätte ein Bündnis ohne die Rechtsextremen einen Vorteil: Sie könnte trotz eines zweiten Platzes bei der Wahl weiter den Kanzler stellen.
Karl Nehammer ist seit Ende 2021 Regierungschef der noch unter Sebastian Kurz gestarteten schwarz-grünen Koalition, davor war er für Inneres zuständig. Er hat eine Koalition mit der FPÖ nicht ausgeschlossen, nur mit deren aktuellem Chef Herbert Kickl – seinem Vorvorgänger als Innenminister – will er nicht zusammenarbeiten.
Nehammer fährt ohnehin selbst einen strengen Kurs: Er will etwa nach Syrien und Afghanistan abschieben. Wenn es nach ihm geht, verwirken Asylbewerber und anerkannte Flüchtlinge, die Urlaub im Heimatland machen, zudem ihr Asylrecht. In Sachen Asyl- und Migrationspolitik hat er auch einen bekannten Fan in Deutschland: Markus Söder. Zusammen mit seinem Innenminister Gerhard Karner nahm Nehammer im September 2023 an einer Sitzung des bayerischen Kabinetts teil. Söder sagte denn auch, bei dem Thema brauche es „mehr Wien statt Berlin“.
Im SPÖ-Wahlprogramm steht dagegen, das Grundrecht auf Asyl „darf niemals hinterfragt werden“. Trotzdem wäre eine Annäherung zwischen Schwarz, Rot und Pink – die Farbe der NEOS – in diesem Bereich vorstellbar, alle drei Parteien wollen etwa schnellere Abschiebungen. Mehr Diskussionen dürfte es in Sachen Vermögens- und Erbschaftssteuer geben. Die NEOS lehnen beides ab, für die Sozialdemokraten unter ihrem Chef Andreas Babler ist es ein Kernanliegen.
Beide Parteien sind sich aber nicht völlig fremd, im Stadtstaat Wien – wo die SPÖ seit 1945 den Bürgermeister stellt – regieren sie seit Ende 2020 zusammen. Der pinke Vizebürgermeister ist dort für Bildung zuständig, einem Hauptthema der Liberalen. Mit den Roten gibt es da viele Anknüpfungspunkte: Die NEOS wollen etwa kostenlose Ganztagsplätze an Schulen und Kitas inklusive Mittagessen sowie einen Rechtsanspruch „auf qualitätsvolle Bildung und Betreuung“ ab dem ersten Geburtstag. Zudem plädieren sie – analog zum deutschen Startchancen-Programm – für einen bundesweiten „Chancenindex“, um Mittel bedarfsgerecht zu verteilen.
Konkrete Bezüge zu Deutschland finden sich auch in den Wahlprogrammen von SPÖ und ÖVP. Erstere nennt beispielsweise die Gaspreisbremse der Bundesregierung als gelungenes Instrument im Kampf gegen die Inflation – Österreich hatte 2023 hier besonders hohe Werte. Die Christdemokraten wiederum führen den Ausbau des Güterverkehrs auf der Schiene und die Weiterentwicklung von CO₂-Speichertechnologien als Felder an, in denen eine Zusammenarbeit mit dem Nachbarn wichtig sei.
Für welche Mehrheiten es reicht, hängt mit davon ab, ob es zwei prominente Kleinparteien über die Vier-Prozent-Hürde schaffen. Da wären zum einen die Kommunisten (KPÖ), die in Graz als zweitgrößter Stadt des Landes die Bürgermeisterin stellen und in Salzburg den Vize. Erfolgreicher in den Umfragen war zuletzt die vom Musiker und gelernten Arzt Dominik Wlazny gegründete Bierpartei. Sie will „Politik ohne Politiker“ machen und stellt mehrere Bezirksräte in Wien, Wlazny selbst schaffte es bei der Bundespräsidentenwahl 2022 mit gut acht Prozent sogar auf den dritten Platz.
Wer am Ende auch regiert: Was sich die Parteien von Deutschland definitiv nicht abschauen wollen, ist der permanente Streit. Ebenfalls mit Besorgnis registriert wurde in Wien der Erfolg der AfD, die gute Kontakte zur FPÖ pflegt. Nach der Landtagswahl in Brandenburg beglückwünschten die Freiheitlichen, wie sie in Österreich genannt werden, die deutschen Parteifreunde zum „imposanten Wahlerfolg“. Vor einem Jahr war Alice Weidel sogar zu Besuch bei Herbert Kickl.
Dass Österreich als Vorbild dafür gilt, welche Koalitionen auch in Deutschland denkbar wären, liegt auch an der FPÖ. Schon 2000 und 2017 kam sie in die Regierung, 2019 gab es erstmals Schwarz-Grün auf Bundesebene. Auch mit großen Koalitionen aus Schwarz und Rot hat man in Wien mehr Erfahrung: Die ÖVP war in den vergangenen 37 Jahren immer an der Bundesregierung beteiligt, fast ein Vierteljahrhundert davon zusammen mit der SPÖ.
Nun könnte zur Abwechslung mal Deutschland als Modell dienen für den Nachbarn, der noch nie eine Dreierkoalition auf Bundesebene hatte. Gut möglich, dass sich die Parteien dabei vor allem deshalb zusammenraufen, weil sie eine Regierungsbeteiligung der Rechten verhindern wollen. Rechnerisch möglich wäre aktuellen Umfragen zufolge auch eine Koalition aus ÖVP, SPÖ und den Grünen – eine sogenannte Dirndl-Koalition aus ÖVP, Neos und Grünen dagegen nicht.
Eine blau-rote Koalition gilt zumindest unter dem linken Chef Babler als ausgeschlossen – die SPÖ wirbt in Anzeigen mit seinem Konterfei, er sei „die einzige Garantie für eine Regierung ohne FPÖ“. Eine Ampel-Koalition wie in Deutschland war ursprünglich auch mal Thema in Österreich, rechnerisch wird es dafür voraussichtlich jedoch nicht reichen.