Der zuletzt scharf polarisierende Friedrich Merz muss jetzt eine Koalition schmieden, wie er sie sich nie gewünscht hat. Wenn er am Ende dieser Wahlnacht nicht viel Glück hat, dürfte es eine historisch schwierige Aufgabe werden. Sie verlangt gegenüber nötigen Partnern eine Zugewandtheit und Kompromissbereitschaft, die Merz zuletzt nicht ausstrahlte. Er muss für seinen versprochenen Politikwechsel werben und zugleich Zugeständnisse machen; schwerer könnten die nächsten Tage kaum werden.
Falls es nicht für Schwarz-Rot reicht, muss Merz versuchen, ein Dreier-Bündnis mit SPD und Grünen zu schließen. Aber Merz’ letzter Wahlkampfauftritt in München, der seit Samstag bei Freund und Feind viral geht, hat viele in der SPD derart provoziert, dass ihre künftige Führung schon mit Verweis auf ihre Basis für eine Beteiligung an einem Bündnis einen immens großen Preis verlangen könnte. Auch manche CDU-Granden haben so eine Entwicklung befürchtet – und werden das Merz nicht öffentlich, aber subtil wissen lassen.
Merz hatte bis zuletzt einen Wahlkampf gegen Rot und Grün geführt und dabei offenbar auf Zugewinne aus der Gruppe der potenziellen AfD-Wähler gesetzt. Er und seine Leute haben ihre Rhetorik aber schon unmittelbar nach Schließung der Wahllokale deutlich verändert. In der Berliner Runde flackerten zwischen Union, SPD und Grünen die Gefechte der vergangenen Tage nur noch kurzzeitig auf. Merz hatte schon in seiner ersten Reaktion im Konrad-Adenauer-Haus erklärt, es sei richtig gewesen, einen „sehr harten Wahlkampf“ zu führen. „Aber jetzt werden wir miteinander reden. Wir müssen so schnell wie möglich eine stabile Regierung bilden, mit guter stabiler Mehrheit. Die Welt da draußen wartet nicht.“ Seine Rede von „linken und grünen Spinnern“ sei nicht auf die politischen Mitbewerber gemünzt gewesen, sondern auf „die sogenannte Antifa“, die ihn als Faschist und Nazi beschimpft hatte. Und Thorsten Frei betonte, die Union werde grundsätzlich mit allen sprechen, „die in der demokratischen Mitte für eine Mehrheitsbildung in Frage kommen“. Und damit schloss er die Grünen ein, die Alexander Dobrindt am Vortag in München noch ausdrücklich aus der politischen Mitte ausgeschlossen hatte.
Auch bei SPD und Grünen bemühte man sich, schnell von den Bäumen herunterzukommen, auf die man sich von Merz getrieben sah. Als Robert Habeck in der Berliner Runde nach seiner Reaktion auf Merz’ Äußerungen aus dem Löwenbräukeller gefragt wurde, antwortete er nur noch: „Ist egal jetzt.“ Der sichtlich erschöpfte Bundeskanzler Olaf Scholz bemühte sich, in der Niederlage Würde zu bewahren. Er erklärte, er werde nicht der Verhandlungsführer der SPD sein, signalisierte aber: „Wir werden sicher Wege finden, über eine Zusammenarbeit zu sprechen.“ Und Boris Pistorius, der nun wohl eine wichtigere Rolle in der SPD spielen wird, hatte bereits am früheren Abend gesagt, seine Partei hoffe, dass die Union mit Merz „nach der Rede von gestern“ nun den richtigen Ton treffe. „Wir waren immer gesprächsbereit, wir sind es.“
Merz und Habeck benannten die drängendsten Herausforderungen in möglichen Verhandlungen. Merz stellt die Frage, „ob wir nicht sehr viel schneller eigenständige europäische Verteidigungspolitik herstellen müssen“. Europa stehe „von zwei Seiten so massiv unter Druck, dass es meine Priorität ist, Einigkeit in Europa herzustellen“. Habeck machte darauf aufmerksam, dass voraussichtlich eine verfassungsändernde Mehrheit im künftigen Bundestag fehle, um die Schuldenbremse zu reformieren. „Ohne die Reform der Schuldenbremse wird es nicht gehen“, sagte Habeck. „Wir werden Unsummen brauchen.“ Die Fragen nach Verteidigung, der Ukraine, dem Verhältnis zu den USA müsse man „vor die Klammer“ ziehen. Markus Söder erinnerte an dieser Stelle indes wieder an andere Streitfragen. Die Wähler wollten – Stichwort: Migration – einen Politikwechsel. „Die, die nicht den großen Auftrag bekommen haben, müssen erkennen, dass die Menschen etwas anderes wollten als die alte Politik, die alte Ampel“, sagte der CSU-Vorsitzende. Das klang danach, als müsse aus seiner Sicht mindestens auch die Migrationspolitik vor die Klammer.
Thorsten Faas von der FU Berlin glaubt, die Regierungsbildung werde erneut schwierig werden, insbesondere, wenn auch die Grünen fürs Regieren gebraucht würden. „Es wird nicht alles wieder gut werden“, sagt er Table.Briefings. „Lagerübergreifend werden die Gegensätze bleiben“, sagt er voraus. Die FDP würde durch die Union ersetzt, aber die programmatischen und kulturellen Unterschiede blieben ja doch bestehen. „Vermutlich wären dann die Grünen das Problem der Koalition“, mutmaßt er. Überrascht ist Faas von der Wahlbeteiligung: „Aber offensichtlich war vielen Menschen klar, dass etwas auf dem Spiel steht.“