Verfassungsrichter sollten unabhängige Garanten und Schiedsrichter der liberalen Demokratie sein. Sie sind der Verfassung verpflichtet und nicht einer Ideologie, sie haben juristisch zu argumentieren, nicht parteipolitisch. So lautet seit der Gründung im Jahr 1951 des Bundesverfassungsgerichts das Selbstverständnis der 16 Verfassungshüter in Karlsruhe.
Doch je mehr sich in den Demokratien autoritäre Tendenzen breitmachen, desto stärker geraten Verfassungsgerichte unter Druck. Ungarn, Polen oder die USA sind Beispiele dafür. In Israel macht sich die neue Regierung gerade daran, das Höchste Gericht zu schwächen. In Karlsruhe hingegen scheinen die Kontrolleure der Mächtigen solchen Gefahren bisher zu trotzen.
In diesen Wochen und Monaten vollzieht sich am Bundesverfassungsgericht wieder ein Umbruch. Sieben der sechzehn Richterinnen und Richter werden ersetzt, weil sie das Ende ihrer zwölfjährigen Amtszeit erreicht haben. Vergangenen Sommer zog Heinrich Amadeus Wolff auf Vorschlag der FDP neu in die Runde ein. Kurz vor Weihnachten hatte der Bundestag bereits Rhona Fetzer (SPD-Vorschlag) und Thomas Offenloch (SPD) in das höchste Richteramt berufen, beide wechselten vom Bundesgerichtshof ans Verfassungsgericht. Auf Vorschlag der Grünen siedelte zudem der Verwaltungsrechtler Martin Eifert (Grüne), der schon 2020 einmal für einen Posten gehandelt worden war, von der HU Berlin nach Karlsruhe um. Damals hatte er noch das Nachsehen.
Damit setzt sich ein Trend fort: Die neuen Richter und Richterinnen dürften bislang nur einem Fachpublikum bekannt sein. Während früher oft profilierte Persönlichkeiten nach Karlsruhe berufen wurden, darunter Roman Herzog, Udo di Fabio, Ernst-Wolfgang Böckenförde oder Ernst Gottfried Mahrenholz, Namen, die auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt waren, sind die Neuen heute weniger prominent. Es sind Männer und Frauen mit ausgewiesener Expertise und untadeligem Ruf, jedoch ohne Eifer, sich in politische Prozesse einzumischen. Das muss in Zeiten aufgewühlter öffentlicher Debatten und zugespitzter Meinungskämpfe kein Nachteil sein.
Im Lauf des Jahres stehen nun drei weitere Wechsel in Karlsruhe an. Zweimal hat das Vorschlagsrecht die CDU/CSU, einmal die SPD. Viel Bewegung also, und es stellt sich die Frage: Was bedeutet die Neuaufstellung für das politische Berlin? Hat das Revirement überhaupt Folgen?
Das Bundesverfassungsgericht hat bei den Deutschen einen hervorragenden Ruf. Umfragen zufolge genießt es enorm viel Vertrauen, viel mehr als etwa Bundesregierung oder Bundestag. Das Gericht wird als selbstbewusst und unabhängig wahrgenommen. Tatsächlich ist es den Regierenden immer wieder in den Arm gefallen, 2020 etwa, als es zum Ärger der Regierung Merkel eine mangelhafte Kontrolle der Europäischen Zentralbank rügte. Oder 2021, als es das deutsche Klimaschutzgesetz als unzureichend verwarf.
Die starke Haltung des Gerichts gegenüber den politischen Entscheidungsträgern mag überraschen. Immerhin spielen diese bei der Auswahl der Richter und Richterinnen eine große Rolle. Bundestag und Bundesrat wählen je die Hälfte. Da dafür Zweidrittel-Mehrheiten erforderlich sind, waltete in den vergangenen Jahrzehnten ein informelles Bündnis aus SPD und Union. Sie teilten sich die Richterstellen. In jüngerer Zeit gaben sie auch mal einen Posten an FDP oder Grüne ab. So kam es, dass Richter und Richterinnen häufiger als früher Parteimitglieder sind oder einer Partei bekennend nahestehen. Peter Müller, CDU, amtierte fast zwölf Jahre lang als Ministerpräsident des Saarlandes. Stephan Harbath etwa, der Präsident des Gerichts, war bis 2018 Vize-Chef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Das Auswahlverfahren und die Nähe zu den Parteien werden kritisiert, insbesondere von der Linken und der AfD, die in die Bestimmung der Richter nicht eingebunden sind. Ihr Argument: Es bestehe die Gefahr der Parteilichkeit. Tatsächlich befand 2018 ein Forscherteam der Universität Mannheim um den Politikwissenschaftler Thomas Gschwend, die Urteile aus Karlsruhe zeigten „ein gewisses Maß an parteilicher Prägung“. Jedoch kooperierten die Richter und Richterinnen über die Parteigrenzen hinweg und kämen oft zu gemeinsamen Ergebnissen. Gschwends Befund: „Das ist ein Beleg dafür, dass Bundesverfassungsrichter sachlich und unabhängig entscheiden und sich nicht allein von einer unter Umständen durchaus vorhandenen Parteinähe lenken lassen.“
Es hat mehrere Gründe, dass sich das Gericht seine Unabhängigkeit erhalten konnte. Anders als der US-amerikanische Supreme Court und trotz der politischen Einflussnahme bei der Berufung. Die nötige Zweidrittelmehrheit bei der Richterwahl sorgt dafür, dass sich ganz überwiegend konsensfähige Kandidaten und Kandidatinnen durchsetzen und Radikale außen vor bleiben. Die – bisher – im Sinne des Links-Rechts-Musters paritätische Besetzung der beiden Senate zwang diese zudem auch in ideologisch aufgeheizten Fragen zu kompromissorientierten Lösungen.
Hinzu kommt das Selbstverständnis der Juristen.Einmal gewählt, fühlen sie sich nicht mehr an mögliche politische Vorgaben „ihrer“ Parteien gebunden. Würden sie politisch statt juristisch argumentieren, wäre ihr Ruf schnell ruiniert. So gilt der Erfahrungssatz: „Das Bundesverfassungsgericht prägt den Richter mehr als der Richter das Bundesverfassungsgericht.“
Dennoch ändern sich auch für Karlsruhe die Zeiten. Union und SPD haben im Sechs-Parteien-Bundestag (die CSU extra gerechnet sind es sieben) keine Zweidrittelmehrheit mehr. Das Parteiensystem wird vielfältiger. So konstatiert der Berliner Juraprofessor Michael Kloepfer in der Neuen Juristischen Wochenschrift: „Die Veränderung durch die Wahlen zum Deutschen Bundestag im Jahr 2021 gleicht einem politischen Erdbeben, das wesentliche Auswirkungen auf die Statik des politischen Lebens in Deutschland haben wird.“ Dies werde sich auf das Verfassungsgericht auswirken.
Mittelfristig ist also davon auszugehen, dass das Gericht heterogener wird. Zudem ist fraglich, ob sich AfD und Linke langfristig aus Karlsruhe fernhalten lassen. Wie in der Gesamtgesellschaft könnten auch in Karlsruhe die Ränder zulasten der Mitte an Gewicht gewinnen. Das „Patt“ zwischen Links und Rechts, das Kompromisse und Ausgewogenheit beförderte, könnte kippen – mit Folgen für Unabhängigkeit und Ansehen des Gerichts.
Bedenklich ist dabei, dass der Bundestag nach geltender Rechtslage mit einfacher Mehrheit beschließen könnte, dass bei der Wahl der höchsten Richter und Richterinnen keine Zweidrittel-Mehrheit mehr nötig ist. Das würde den Weg zu einem parteiischen Gericht öffnen, die Auswüchse zeigen sich in den USA. Experten wie Kloepfer regen daher an, die Zweidrittel-Mehrheit im Grundgesetz abzusichern. Doch das ist die langfristige Perspektive. Für die kommenden Jahre dürfte Karlsruhe auch in seiner neuen Besetzung ein unabhängiger und für die Regierenden unbequemer Wächter und Schiedsrichter der Berliner Republik bleiben.