Seit Tagen wurde darüber spekuliert, am Sonntag geschah es: Joe Biden zieht sich aus dem US-Präsidentschaftsrennen zurück. Das sei im besten Interesse seiner Partei und des Landes, schrieb der 81 Jahre alte US-Demokrat in einem Brief, der auf Facebook, Instagram und X veröffentlicht wurde. Noch nie in der Geschichte der USA ist ein amtierender Präsident so kurz vor dem Wahltermin ausgestiegen. Die Entscheidung dürfte den US-Wahlkampf noch turbulenter machen. Der republikanische Präsidentschaftsbewerber Donald Trump könnte davon profitieren.
Nach Ansicht von Thomas Silberhorn (CSU), dem Transatlantik-Experten der Union, war es offenbar die Kritik von Barack Obama und Nancy Pelosi am vergangenen Donnerstag, die den Ausschlag für Bidens Rückzug gab. Klar sei aber auch, dass es den Demokraten in den letzten Wochen nicht gelungen sei, „sich in der Frage der Präsidentschaftskandidatur gut zu koordinieren“, sagte Silberhorn Table.Briefings.„Ich vermute, dass wir nun eine Diskussion bekommen werden, ob Joe Biden noch Präsident bleiben kann. Das hat er vor, aber das werden die Republikaner natürlich umgehend kritisieren.“
Als wahrscheinliche neue Kandidatin gilt Vize-Präsidentin Kamala Harris. Ihr bleiben allerdings nur noch wenige Monate bis zur Wahl im November, um für sich zu werben. Das demokratische Establishment hatte sich in den vergangenen Tagen schon informell auf Harris geeinigt, sollte Biden aufgeben, schreibt CNN. Kamala Harris war zuletzt auffallend viel durch das Land gereist und hatte sich in Wahlkampfveranstaltungen auch schon auf den republikanischen Vizepräsidentschaftskandidaten J.D. Vance eingeschworen.
Die 59-jährige Juristin war 2017 bis 2021 Senatorin aus Kalifornien und zuvor Generalstaatsanwältin in dem US-Bundesstaat. Die erste afro-amerikanische Vizepräsidentin ist umstritten, da sie in ihrer Amtszeit als wenig auffällig galt. Ihre Aufgabe, durch Verhandlungen mit den Staaten- Mittel- und Südamerikas die Migrationsbewegungen zu stoppen, meisterte sie nur unzureichend.
Die liberale Politikerin mit asiatischen und afrikanischen Wurzeln gilt als Gegenmodell zu Donald Trump. Harris favorisierte gegen den Willen Bidens eine Finanzierung der Abtreibung durch die Krankenkassen, und sie steht hinter dem Green New Deal und einem Verbot von Fracking. Außerdem will sie das Waffenrecht verschärfen und Eltern belangen, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken. In ihren Positionen steht sie konträr zu Trump, der all dies ablehnt und seinen Wahlkampf auf die weiße, männliche Arbeiterschicht fokussiert.
Praktischer Nebeneffekt einer Harris-Kandidatur: Die bisher für Biden gesammelten Spenden können einfacher auf Harris übertragen werden, da sie als Vizepräsidentin qua Amt die Nachfolgerin des Präsidenten ist. Erwartet wird, dass Biden im Laufe der Woche gesundheitliche Einschränkungen und seine Fitness als Grund für den Rückzug nennen wird. Als weitere potenzielle Kandidaten der Demokraten waren in den letzten Tagen auch der Gouverneur von Kalifornien, Gavin Newsom, und die Gouverneurin von Michigan, Gretchen Whitmer, genannt worden.