Table.Media: Herr Burkert, wir stehen kurz vor einem Streik der Eisenbahner. Natürlich geht es ums Gehalt, aber worüber klagen die Kollegen im Alltag? Worin liegen die besonderen Herausforderungen für Ihre Mitglieder?
Martin Burkert: Natürlich muss das Geld stimmen. Aber vor allem ist da die tagtägliche Belastung – und die hängt stark mit der Arbeitszeit zusammen. Vor allem die Wochenenden sind ein Riesenthema. Beim 9-Euro-Ticket im letzten Sommer gab es Kollegen, die über Wochen kein Wochenende mehr frei hatten.
Aber Ihre Leute können doch wählen – mehr Geld oder mehr Freizeit?
Ja, man kann sechs oder zwölf Tage mehr Urlaub wählen, hat dann aber dafür Gehaltseinbußen. Aber das macht die Wochenendarbeit nicht wett.
Hat sich die Stimmung in den Zügen nach dem Ende der Maskenpflicht wieder normalisiert?
Nicht wirklich. Wir hatten im vergangenen Jahr bei den verbalen Übergriffen, und das geht bis hin zum Bespucken, eine Steigerung um bis zu 90 Prozent im Vergleich zu 2019. Auch bei den handgreiflichen Übergriffen haben wir eine deutliche Zunahme. Das hatte erst mit der Maskenpflicht zu tun, dann auch mit dem 9-Euro-Ticket, das zu so vollen Zügen geführt hat, so dass die Aggressivität massiv gestiegen ist. Aber das ist ja kein spezifisches Bahn-Phänomen; wir reden ja insgesamt von einer Verrohung der Gesellschaft.
Lässt sich das auch in Zahlen wiedergeben?
Die handgreiflichen Übergriffe sind massiv gestiegen. Allein im Nahverkehr sind uns 15.000 verbale Übergriffe gemeldet worden, mit Steigerungsraten, die wir uns nicht hätten vorstellen können. Und dann kommt noch eine hohe Dunkelziffer dazu.
Sie haben kürzlich auch den Vandalismus in den Zügen beklagt.
Stimmt, es gibt täglich Sachbeschädigungen und Übergriffe. Allen voran von den sogenannten Fußballfans, die teilweise wie die Vandalen hausen und ganze Züge demolieren. Das sieht manchmal aus, das ist unglaublich. Das hat mit Fußballfans nichts mehr zu tun. Solche Züge werden inzwischen nach Möglichkeit mit Männern besetzt, auch wenn Frauen besser deeskalieren können. Aber mittlerweile ist das Gefahrenpotenzial bei den reinen Fußballzügen so hoch, dass in den Spätabend- und Nachtzügen keine Frauen mehr mitfahren. Beim Oktoberfest ist es übrigens genauso; da spielen vor allem die Betrunkenen eine unrühmliche Rolle.
Finden Sie denn noch Personal für solche Züge?
Es ist schwierig geworden. Wir wissen von Zügen, wo sich unsere Kolleginnen und Kollegen in die Lok gesetzt haben, weil ihre Sicherheit nicht mehr gewährleistet war. Wobei es große Unterschiede gibt: Mit den Eishockey-Fans zum Beispiel ist es meist sehr friedlich und problemlos. Da fahren die Zugbegleiter eigentlich gerne mit. In Fußballzügen ist das Klima leider häufig ein völlig anderes.
Und wer ist für die Sicherheit zuständig?
Das gehört zum Aufgabenbereich der Bundespolizei. Aber die sind auch unterbesetzt, die kommen auch nicht mehr dazu, die Fernverkehrszüge ausreichend mit Personal zu besetzen.
Wie werden unter diesen Umständen die Mitarbeitenden geschützt?
Das Personal wird natürlich in Deeskalation geschult. Aber es gibt auch Schulungen zur Selbstverteidigung. Ja, das findet alles stat. Und es gibt ein EVG-Hilfetelefon bei Übergriffen, bei dem sich jeder und jede sofort melden kann. Da gibt es unmittelbar Rat und Hilfe, und vor allem werden die Vorfälle dort auch dokumentiert.
Wer kommt für die Schäden in den Zügen auf?
Oft werden die Züge von den Vereinen bestellt. Die kassieren den Fahrpreis dann bei den Fans ein. Aber bei Beschädigungen von Fahrzeugen bleiben die Bahnen auf den Kosten sitzen. Das ist hochproblematisch.
Und die Bahnen legen das anschließend auf alle um?
Die Bahnen überlegen inzwischen häufig, überhaupt noch zu fahren. Man schaut schon sehr genau hin, welche Vereine auffällig werden. Wir haben im nächsten Jahr Fußball-Europameisterschaften, und man muss sich schon fragen, wie man die Sicherheit bei großen Sportereignissen noch gewährleisten kann. Im Ausland dürfen teilweise ja keine deutschen Fans mehr in die Stadien. Da sollte jetzt bei uns die Planung beginnen, insbesondere an den neuralgischen Punkten.
Täuscht der Eindruck, dass es nicht selten Fans von Drittligamannschaften sind, die sich besonders hervortun?
Es scheint tatsächlich, dass man da nicht so draufschaut wie bei Bundesligaspielen. Und sich Randalierer das vielleicht zunutze machen. Wenn wir das eindämmen wollen, geht das nur mit mehr Präsenz in den Zügen und mit klaren Konsequenzen. Für uns ist klar: Für solche Fans dürfen keine Sonderzüge mehr zur Verfügung gestellt werden.
Eine klare Forderung - haben Sie die dafür nötige politische Unterstützung?
Nur bedingt. Wir brauchen mehr Unterstützung dahingehend, dass die Bahnen, wenn sie solche Züge ablehnen, sich nicht den Vorwurf einhandelt, sie würden sich der Daseinsvorsorge entziehen. Es geht um die Sicherheit von allen. Wir müssen mit den Fußballvereinen ernsthaft über diese Gewalt ins Gespräch kommen. Viel ernsthafter als bisher.
Es braucht also auch mehr Sicherheitspersonal in den Zügen?
Wir sind inzwischen in engem Austausch mit der Gewerkschaft der Polizei, was die Sicherheit in Zügen und auf den Bahnhöfen angeht. Ein runder Tisch, aus dem Bundesinnenministerium heraus initiiert, wäre eine gute Sache. Das würden wir sehr begrüßen und auch unsere Expertise einbringen.
Die Deutsche Bahn hat im vergangenen Jahr über 27.000 neue Mitarbeiter eingestellt. Wie viele von ihnen sind wieder abgesprungen?
Die Fluktuation ist hoch und sehr unterschiedlich, was die Berufe angeht. Sie ist im Bereich der Sicherheit, der Instandhaltung oder der Reinigung wesentlich höher als in anderen Bereichen. Das Geld spielt einfach eine große Rolle, und viele wechseln dann für ein bisschen mehr pro Stunde. Discounter wie Lidl, Edeka oder Norma zahlen 15 Euro, während wir noch bei 12,50€ sind, was zum Teil noch aufgestockt wird. Deshalb ist in diesen Bereichen die Bereitschaft zum Wechsel höher.
Hat Sie eigentlich überrascht, dass der Deutschlandtakt erst 2070 kommen soll?
Natürlich war ich schockiert, auch weil die jetzige Bundesregierung schon mal 2050 als Startdatum genannt hatte. Aber Fakt ist, der Takt wird nur kommen, wenn die Mittel massiv aufgestockt werden, vor allem was die Digitalisierung der Stellwerke angeht. Auch die weitere Elektrifizierung, die ja im Koalitionsvertrag steht, muss kommen, damit der Halbstundentakt klappt. Und da reden wir über 50 Milliarden Euro, nur für die Oberleitungen. Es ist insgesamt eine enorme Aufgabe – aber der Zeitplan 2070 ist völlig inakzeptabel.
Rettet uns die Digitalisierung oder brauchen wir auch neue Gleise und Strecken?
Das Schienennetz wird 188 Jahre alt. Und zum Teil fahren wir noch auf diesem alten Schienennetz. Wenn wir die Verkehrswende wollen, müssen die Mittel jetzt sprunghaft steigen. Bisher haben wir den Turnaround nicht geschafft, deshalb brauchen wir bis 2030 45 Milliarden an frischem Geld.
Was erwarten Sie vom Verkehrsminister?
Er kann der Minister der Verkehrswende werden. Es ist seine Chance. Das brauchen wir in Deutschland, aber auch international. Wir kämpfen gerade in Europa für eine digital gesteuerte automatische Pufferkupplung bei Güterwaggons. Dass man also kein Personal mehr braucht, um Güterwaggons zusammenzukoppeln, sondern dass das automatisch geht.
Das macht aber nur Sinn, wenn ganz Europa mitzieht, oder?
Richtig, das kostet sechs bis acht Milliarden Euro. Die Umrüstung könnte sofort losgehen, auch in Deutschland. Wir sind ja zusammen mit Frankreich in solchen Fragen die Lokomotive. Wir haben den Anspruch, den Güterverkehr auf 25 Prozent Marktanteil zu bringen und den Personenverkehr zu verdoppeln, wenn wir die Klimaziele erreichen wollen. Ich habe auch den Kanzler schon um Unterstützung der Automatischen Kupplung gebeten. Es wäre ein gewaltiger Schub für die Verkehrswende – zumal hunderttausend LKW-Fahrer allein in Deutschland fehlen.
Geht es nur um neue Kupplungssysteme oder auch um neue Güterwaggons?
Sicherlich muss man mittelfristig den Fuhrpark Zug um Zug erneuern. Gerade auch, wenn wir neue Märkte erschließen wollen, etwa beim Flüssiggas oder beim Gefahrgut. Diese Märkte sind hochinteressant für die Güterbahnen.
Wenn wir über Europa reden – wie geht es weiter im grenzüberschreitenden Verkehr?
Wir haben seit einiger Zeit einen einheitlichen Führerschein – das ist eine der großen Erfolge auch unserer Arbeit als Gewerkschaften. Alle Lokführer müssen in Europa die gleiche Ausbildung machen.
Und wie verständigen Sie sich, wenn der französische TGV-Lokführer auf der Rheintalschiene fährt?
Darüber gibt es Streit. Die EU-Kommission will Sprachcomputer einführen, das halten wir und die Arbeitgeber für sicherheitsgefährdend. Wir wollen das B1-Sprachniveau aufrecht erhalten. Das heißt, Lokführer aus Polen oder Frankreich, die bei uns fahren, brauchen ein gewisses Sparachniveau – und umgekehrt. Daran halten wir fest, und vermutlich wird das noch eine harte Auseinandersetzung mit der Kommission werden. Aber hier geht es um die Sicherheit.
Gerade war in Johannesburg der Kongress der Internationalen Transportgewerkschaften. Was waren dort die Top-Themen?
Die Privatisierung des Öffentlichen Nahverkehrs, überhaupt die Privatisierung des Verkehrs. Das ist ein Thema, das Gewerkschaften weltweit beschäftigt. Da stemmen wir uns natürlich dagegen. Dann das Sicherheitsthema, das auch global zu einer Herausforderung geworden ist. Die Übergriffe haben überall zugenommen.
In Anbetracht von Transformation und knapper Kassen: Haben Sie die Befürchtung, dass auch in Deutschland die Privatisierung des Öffentlichen Verkehrs einen neuen Schub erfährt?
Von gewissen politischen Kräften wird das eigentlich ständig versucht. Das betrifft den Ausschreibungswettbewerb im Nahverkehr und auch die Struktur der Deutschen Bahn an sich. So gibt es die Idee, Netz und Betrieb zu trennen und das gesamte operative Geschäft der DB zu verkaufen. Das lehnen wir ab und wollen den integrierten DB-Konzern erhalten. Denn Experimente an der Grundstruktur des Eisenbahnsystems – allein im Glauben an den Segen des Wettbewerbs – würden die Schiene auf Jahre destabilisieren und die Weiterentwicklung lähmen. Was wir wirklich brauchen, ist mehr Engagement beim Abbau des gigantischen Investitionsstaus und dem Ausbau der Schienennetzes, also deutlich mehr Geld und schnellere Umsetzung.