Analyse
Erscheinungsdatum: 01. Oktober 2023

Stefan Seidler: One-Man-Show für Minderheiten im Bundestag

image

Erstmals seit mehr als 50 Jahren sitzt mit Stefan Seidler ein Abgeordneter des Südschleswigschen Wählerverbands wieder im Bundestag. Er vertritt dort nicht nur die dänische Minderheit und die der Friesen, sondern versteht sich auch als Anwalt der Küstenregion. Jüngste Wahlergebnisse zeigen: Seidlers Einsatz zahlt sich aus.

Stefan Seidler vertritt eigentlich die nationalen Minderheiten Schleswig-Holsteins, die Dänen, die Friesen. Schließlich ist er Abgeordneter des SSW, des Südschleswigschen Wählerverbands. Doch seinen Einzug in den Bundestag bejubelten auch Sorben, Sinti und Roma. Sogar Vertreter der türkischen Community und der LGBTQ-Gemeinde würden ihn aufsuchen. Den Mann aus der dänischen Minderheit freut das enorm. „Vor meinem Einzug in den Bundestag hatte das Minderheitensekretariat eine informelle Umfrage im Bundestag durchgeführt: Nur jeder zehnte konnte sagen, was genau eine Minderheit ist.“ Jetzt, zwei Jahre nach seinem Antritt, wisse das wohl jeder.

Der 44-Jährige trägt ein blaues Jackett mit Einstecktuch und empfängt in einem Büro – das dänische hygge (Gemütlichkeit) mit skandinavischem Design vereint. Hinter dem Schreibtisch hängt ein düsteres Bild. Es zeigt rechts eine große schwarz schraffierte Welle, daneben, auf hellem Grund, die Umrisse eines Boots. „Unter der Welle sehe ich die vielen politischen Projekte, die Schiffbruch erlitten haben“, sagt der Abgeordnete und schmunzelt.

Seidler selbst ist jetzt das Flaggschiff des SSW. 2021 lief es vom Stapel, um in Berlin anzudocken, mehr als ein halbes Jahrhundert nachdem der erste und zugleich letzte Abgeordnete für den SSW im Bundestag saß. Seitdem, seit 1954, spielt die Partei nur in Schleswig-Holstein politisch eine Rolle, prominent etwa bis 2017 als Mehrheitsbeschafferin in Torsten Albigs rot-grün-blauer „Küstenkoalition“. Aufgrund eines Staatsvertrags zwischen Deutschland und Dänemark ist der SSW von der Fünf-Prozent-Hürde befreit. Wegen der Größe des Bundestags hätten 2021 nur 40.000 Stimmen für ein Bundestagsmandat gereicht: Es wurden dann 55.000.

Wie groß die dänische Minderheit genau ist, weiß keiner. Schätzungen gehen von 50.000 Menschen aus, inklusive Kinder. In Schleswig-Holstein genügt das Bekenntnis zu ihr, um dazuzugehören. Viele, die ihre Kinder auf die begehrten dänischen Schulen im Norden der Republik schicken, fangen gemeinsam mit dem Nachwuchs an, Dänisch zu lernen. Seidler ist sich sicher: „Uns haben auch Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft gewählt.“

Keine Frage: Seine Partei, die wegen Überalterung von manchen schon für totgeweiht gehalten wurde, spürt Aufwind. Dabei hat der SSW inhaltlich nichts gemein mit Randparteien eher rechter, populistischer Provenienz. Politisch verortet er sich irgendwo zwischen Sozialdemokratie und Grün. „Ich habe das mal mit dem Geheimnis von Lego erklärt. Die dänischen Eigentümer haben sich irgendwann bewusst wieder auf ihren Kern konzentriert, nämlich Legosteine. Computerspiele und Freizeitparks hatten ausgedient.“ Die Legosteine des SSW, das seien die Minderheiten – und die nordische Region, aus der sie kommen.

Regional zieht gerade. „In diesen Zeiten multipler Umweltkrisen ist die Globalisierung für viele nicht der richtige Weg – mit Plastik aus Asien oder Lebensmitteln aus Südamerika.“ Regionale Produkte seien nachhaltiger und klimafreundlicher. Wobei der SSW nicht gerade klein denkt: Der gesamte Ostseebereich sei „seine Region“, sagt Seidler, der in Århus Politologie studiert hat, bevor er mit seiner dänischen Frau in seine Heimatstadt Flensburg zog.

Der Abgeordnete ist eine One-Man-Show, er gehört zu keiner Fraktion und sitzt in keinem Ausschuss. Seine Anliegen muss er geschickt setzen, Schnittmengen mit Mitgliedern aller demokratischen Fraktionen finden, um Themen zu pushen. In Dänemark sei das normal. „Da bekommt man nur Mehrheiten, wenn man auch über die Mitte hinweg zusammenarbeiten kann, über politische Gräben hinweg.“ Er selbst führe mit Vertretern aller demokratischer Parteien erfreulich konstruktive Gespräche.

Dazu, dass es innerhalb der Ampel-Koalition und ihren Fraktionen gerade eher undänisch zugeht, mag er öffentlich nichts sagen. Schließlich ist er auf deren good will angewiesen. Nur soviel: „Die SPD versteht sich oft als großer Bruder. Das merkt man im Guten wie im Schlechten.“ Für die Grünen sei das gewiss schwer.

Auch Reden meldet Seidler bewusst dosiert an. Bisher waren es knapp 30. Etwa zum Thema Küstenschutz. „Dafür sind zwar drei Ministerien zuständig. Aber niemand hat sich in Berlin bislang damit ernsthaft beschäftigt. Seit zwei Jahren trommle ich dafür, dass wir das koordinieren.“ Denn die Meeresspiegel stiegen unaufhaltsam; für die Altstädte von Schleswig oder Eckernförde seien langfristig hundertmal pro Jahr Hochwasserwarnungen prognostiziert. „Greenpeace war in Flensburg unterwegs und hat mit Kreide aufgezeichnet, wo das Wasser stehen würde, direkt bei mir vor der Haustür.“

Erst kürzlich, anlässlich der Haushaltsdebatte, habe er Cem Özdemir wieder vehement auf das Problem hingewiesen, denn auch Özdemirs Haus hat Küstenschutz-Titel. Die sollten gekürzt werden. „Wenn Sie jetzt in den Haushaltsentwurf der Bundesregierung schauen, sind Hochwasserschutz und Küstenschutz der einzige Bereich im Landwirtschaftsministerium, bei dem gar nicht gekürzt wurde“, sagt er stolz. „Da kann man nicht mehr diskutieren, ob der SSW im Bundestag einen Unterschied macht oder nicht.“ Freilich sei so ein Erfolg nur möglich durch die gute Zusammenarbeit mit anderen Abgeordneten aus der Küstenregion.

Auch für den Bundesfreiwilligendienst ist Seidler in die Bütt gegangen. Freiwilliges Engagement sei der Kitt der nordischen Gesellschaften. Dass in Deutschland jede vierte FSJ- oder FÖJ-Stelle weggekürzt werden soll, findet der Familienvater einen Skandal. Gerade angesichts des Aufstiegs rechter Demagogen. „Es geht ja nicht nur darum, dass junge Menschen in Altenheimen oder Kindergärten mithelfen. Sondern wir ziehen sie dadurch in die Demokratie, geben Leuten, die noch nicht wissen, was sie wollen, eine Aufgabe, beteiligen sie.“

Überhaupt wünscht Seidler sich mehr Grundvertrauen untereinander. Deshalb komme auch die Digitalisierung nicht so voran wie beim Nachbarn im Norden: Das Misstrauen, das sich in hohen Datenschutzauflagen niederschlägt, wirke lähmend. Ähnliches gelte für den Arbeitsmarkt. Dänemark habe eigens eine Vertrauenskampagne aufgelegt, mit dem Ziel, dass kompetente Verantwortliche Entscheidungen selber treffen, ohne diese absegnen lassen zu müssen. Die Kampagne habe zur Entbürokratisierung beigetragen.

Seidler legt auch den Finger in Wunden, die andere übersehen. Eine vergleichsweise kleine Panne war, dass pendelnde Studierende vergessen worden waren bei den Energiehilfen. Also junge Leute, die in Dänemark, Frankreich oder Österreich leben, und in Deutschland studieren. Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger, erzählt er, habe ihm nach seiner Einlassung im Bundestag dazu versprochen, diese Lücke zu schließen. „Aber sie musste zurückrudern, weil die Mühlen der Verwaltung dafür schon zu weit waren.“ Er konnte dann mit der SSW-Landtagsfraktion so „über Bande“ spielen, dass am Ende die Kieler Landesregierung den betroffenen Studierenden in Schleswig-Holstein half. „Das sind die Synergien des Mandats, auf die wir gehofft hatten.“

Demnächst besucht der dänische Verkehrsausschuss sein Pendant im Bundestag. Seidler freut sich, dass er zu dem Termin geladen ist. Ihm brennt der grenzüberschreitende Bahnverkehr unter den Nägeln. Denn da hakt es gerade sehr. „Die Dänen wollen ja immer Vorreiter sein, das Modernste haben, was es überhaupt gibt. Und da haben sie sich so tolle E-Züge gekauft, dass die weder in Schweden noch in Deutschland fahren können.“ Für die rund 13.000 Deutschen, die jeden Tag nach Dänemark pendelten, um dort zu arbeiten, sei das ein echter Schildbürgerstreich. „Die sollen demnächst zu einem winzigen Kaff namens Tinglev fahren und dort umsteigen, um zur Arbeit zu kommen.“

Die Politik der Dänen sieht Seidler, der zuletzt für die Kieler Regierung die deutsch-dänischen Beziehungen koordiniert hat, nicht nur rosig. Die derzeitige sozialdemokratische Regierung in Kopenhagen signalisiere Europa: Abschottung, keine Immigration, größtmögliche Restriktion in der Asylpolitik. „Da sind die Dänen echt hart. Und da muss ich ganz ehrlich sagen, da sind wir als dänische Minderheit nicht unbedingt stolz drauf.“ Der SSW stehe für eine tolerante und offene Gesellschaft.

Immerhin verhält es sich beim SSW umgekehrt wie bei Parteien, die vor Ort abgestraft werden dafür, was „die in Berlin“ machen. Bei den Kommunalwahlen im Mai war der SSW stärker denn je. Vielerorts verdoppelte er seine Anteile, gewann Bürgermeisterposten. In Flensburg, der Heimat von Robert Habeck, mit dem Seidler auf dem Flur im Bundestag auch mal kurz Dänisch schnackt, wurde der SSW mit rund 25 Prozent sogar stärkste Partei.

Seidler hält diesen Erfolg der Sichtbarkeit seines Bundestagsamts in den Medien geschuldet, in den lokalen, aber auch auf Social Media. „Vorher waren bei uns manche skeptisch, ob sich der Wahlkampf lohnen würde“, verrät er. „Jetzt sagt niemand mehr in der Minderheit, dass sich das Mandat nicht gelohnt hat.“ Vor allem freut ihn, dass der SSW jetzt wieder attraktiv für den Nachwuchs ist. Denn den braucht die Partei, deren Gründung auf eine Grenzziehung zurückgeht, die inzwischen 103 Jahre her ist.

Briefings wie Berlin.Table per E-Mail erhalten

Keine Bankdaten. Keine automatische Verlängerung.

Sie haben bereits das Table.Briefing Abonnement?

Anmelden

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

Teilen
Kopiert!