Saskia Esken hob die Stimme und schwor die Genossen ein: „Der Kanzler hat gezeigt, dass er führen, ordnen und regieren kann.“ Und als ob sie es betonen müsste, schob die Parteivoristzende beim Landesparteitag der Baden-Württemberg SPD hinterher: „Die SPD steht geschlossen hinter ihm.“ Das war am Samstag in Offenburg. Fast zeitgleich erklärte Kollege Lars Klingbeil am Rande der SPD-Dialogkonferenz in Essen: „ Olaf Scholz ist der Kanzler. Und alle, die in der SPD Verantwortung tragen, haben in den letzten Tagen auch deutlich gemacht, dass wir hinter ihm stehen.“
Mit aller Kraft versuchen die sozialdemokratischen Führungskräfte eine Debatte auszutreten, die nicht mehr auszutreten ist. Denn eine Frage wabert durch die sozialdemokratischen Kreisverbände und Unterbezirke und hat längst auch Berlin erreicht: Ist Olaf Scholz, der in diesen Wochen mit den schlechtesten Umfragewerten ausgestattet ist, die ein deutscher Regierungschef je hatte, auch der richtige, um die Wahl am 23. Februar erfolgreich zu bestreiten? Kann er die Wählerinnen und Wähler in den verbliebenen 100 Tagen noch von sich überzeugen?
Oder lässt sich kurz vor Toresschluss doch noch ein sogenannter Kamala-Harris-Effekt erzeugen, ein Momentum der allgemeinen Erleichterung wie in den USA, als Joe Biden seinen Rückzug ankündigte und den Weg für seine Vizepräsidentin freimachte? Erhöhte es also die Chance, doch weiterhin den Kanzler zu stellen, wenn der Kandidat Scholz kurzfristig doch noch ausgetauscht wird?
Auch wenn ihn in Offenburg und Essen niemand namentlich nannte – zur Debatte steht Verteidigungsminister Boris Pistorius, seit Monaten stabil und mit einigem Vorsprung beliebtester deutscher Politiker, erfahren und einigermaßen trittsicher auf dem heiklen Feld der Verteidigungspolitik, unprätentiös, authentisch und sachkundig, zumindest in Sicherheitsfragen. Soll die SPD ihn kurzfristig auf den Schild heben und gegen Friedrich Merz ins Rennen schicken, nachdem Olaf Scholz kaum noch jemand zutraut, sich aus seinem Imagetief herauszuarbeiten?
Die Chancen der Sozialdemokraten auf einen Wahlerfolg im kommenden Februar erscheinen ohnehin nicht besonders groß – warum sollen sie dann die kleine Restchance nicht versuchen zu nutzen? Das fragen sich viele in der Partei, und die deutschen Medien stöbern mit großem Eifer und erkennbarer Lust immer weitere Kronzeugen auf.
Die Schwächen des Kanzlers sind hinlänglich beschrieben. Er gilt als sachkundig und vielseitig, als erfahren und clever, nur die Sache mit der Führung, die er sich einst selbst attestiert hat – sie wurde bis zu jenem Mittwoch vor zehn Tagen nicht wirklich erkennbar. Lange hatten die Genossen ihrem Kanzler und seinen Moderations- und Kompromissqualitäten vertraut. Mit dem Ergebnis, dass seine Werte immer weiter absackten und er die Koalition nun vorzeitig auflöste. Scholz ist kein Meister der Empathie und auch nicht der flammenden Rhetorik, eher ein Besserwisser und Rechthaber. Und das sind keine Attribute, um sich aus einem Tal herauszuarbeiten.
Selbst die harte Live-Abrechnung mit Christian Lindner am Abend des Koalitionsbruches tragen ihm viele nach. Ein staatsmännischer Auftritt, so argumentieren sie, hätte anders ausgesehen. Und auch der Talk-Auftritt bei Caren Miosga wird ihm nicht positiv angerechnet. Für nicht wenige war er zu selbstverliebt, zu hölzern, nicht wirklich überzeugend und gewinnend.
Jetzt wird halböffentlich aufgerechnet und lange Aufgestautes vorgebracht. Dass ausgerechnet aus dem traditionellen Mittagstisch der Seeheimer, des eher pragmatischen Parteiflügels, Vertrauliches nach außen dringt, hat eine besondere Qualität. Dort wird häufig Heikles besprochen, es bleibt in der Regel in den Räumen der Parlamentarischen Gesellschaft– wenn etwas heraussickert, ist es eher nebensächlich. Nun berichtete der SPIEGEL von Aussagen am vergangenen Dienstag, wonach der Kanzler bei den Wählern „unten durch“ sei und der Wechsel zu Pistorius kommen müsse. Sonst drohe bei der Wahl im Februar ein „Desaster“.
Nun fällt Scholz auf die Füße, dass er – der sich in der manchmal nur schwer nachvollziehbaren Parteilogik – immer eher der Parteilinken zugeordnet hat, nie um eine besondere Nähe zu den Seeheimern bemüht hat. „Er wärmt einfach nicht die Herzen“, bekennt ein erfahrener Genosse, und so ist auch zu erklären, dass unter den Seeheimern, die immer stolz auf ihre Loyalität zu sozialdemokratischen Kanzlern waren, schon beim Parteitag vor einem Jahr in Berlin der Name Boris Pistorius als mögliche Alternative für die Wahl 2025 kursierte.
In Niedersachsen, dem Heimatverband von Pistorius, melden sich zuhauf Mitglieder, die auf eine Kandidatenwechsel drängen, in Hamburg forderten zwei sozialdemokratische Mitglieder der Bürgerschaft offen einen Kanzlerkandidaten Boris Pistorius. Und in Hessen twitterte ein SPD-Kommunalpolitiker ein unverblümtes „Scholz hat fertig“. Und jeder Wahlkreisabgeordnete kann Debatten über Qualitäten und vor allem Schwächen des Kanzlers bestätigen.
Es gebe „ein Grummeln“ in der Bundestagsfraktion, räumte vergangene Woche Fraktionschef Rolf Mützenich ein. „Natürlich ist das ein Thema“, bestätigen auch Kollegen in der Fraktionsführung. Denn natürlich machen sie sich Gedanken über eine Wiederwahl, zumal der nächste Bundestag deutlich weniger Parlamentarier als bisher umfassen wird. Erste Abgeordnete, so heißt es, kündigten bereits ihre Wahlkreisbüros, weil sie keine Hoffnung mehr sehen.
Öl in die glimmende Glut goss am Wochenende auch noch Franz Müntefering, indem er im Tagesspiegel „rasches Handeln“ empfahl. „Eine Kanzlerkandidatur ist kein Selbstläufer und schon gar kein Vorrecht auf Wiederwahl“, wird er zitiert. Die SPD könne zeigen, „dass Demokratie alles kann“. Das war zum wiederholten Mal ein Tritt ans Schienbein des amtierenden Kanzlers. Und ein Politprofi wie Müntefering weiß das.
Die Scholz-Befürworter geraten zunehmend in die Defensive. Er habe durchaus erfolgreich in einer schwierigen Dreierkonstellation moderiert, sagen seine Unterstützer, nur habe es kaum jemand wahrgenommen. Die Regierung habe viel erreicht, nach Ausbruch des Ukraine-Krieges die Energieversorgung gesichert, die Energiewende eingeleitet, den Krieg nicht eskalieren lassen, den Mindestlohn angehoben und vieles Liegengebliebene angeschoben.
Ein weiterer Vorteil für Scholz, darauf weist der frühere Wahlkampfleiter und Kampagnenexperte Matthias Machnig gegenüber Table.Media hin: „Es gibt viele Einzelmeinungen, aber keinen Anführer.“ Zudem müssten sich alle fragen, die Boris Pistorius auf den Schild heben: „Wollen sie ein zweites Mannheim?“ 1995 beim Parteitag in Mannheim hatte sich Oskar Lafontaine nach wochenlangem parteiinternem Gegrummel und Geraune an die Spitze der Kritiker gesetzt und den amtierenden Parteivorsitzenden Rudolf Scharping gestürzt.
Noch hält die Parteiführung im Willy-Brandt-Haus tapfer dagegen. An einer weiteren Debatte über den Kanzler hat sie kein Interesse, und das hat gute Gründe. Denn die Option Pistorius wäre mit Tücken verbunden, und das wissen sie im Willy-Brandt-Haus sehr genau. Der Osnabrücker kennt die Härten eines Bundestagswahlkampfes als Spitzenkandidat bisher nur aus der Lektüre. Tücken, die schon Peer Steinbrück und Martin Schulz unterschätzt haben. Und Pistorius mag ein versierter Verteidigungspolitiker und Innenpolitiker sein, doch die Feinheiten des Arbeits- und Rentenrechts, der Gesundheitspolitik oder der Netzentgelte sind ihm nicht vertraut – und in TV-Duellen vor einem Millionenpublikum immer gefährlich für Fehltritte.
Zudem müsste die Kampagne, die in der Parteizentrale unter maximalem Druck angelaufen und natürlich auf Scholz zugeschnitten ist, umgesteuert und neu ausgerichtet werden. Jeder Tag, der verstreicht, erhöht die Komplikationsrate einer solchen Operation. Auch Experte Machnig weist darauf hin: „Es wäre ein totaler Kaltstart für Pistorius. Ohne eigene Leute, ohne Detailwissen, ohne auf ihn zugeschnittenen Apparat – das ist nicht ohne Risiko.“ Vor allem aber ist da der Faktor Geschlossenheit: Er hat 2021 trotz ebenfalls lausiger Aussichten noch drei Monate vor dem Wahltag maßgeblich zum Einzug ins Kanzleramt beigetragen. Daran erinnern sie in der Parteiführung dieser Tage gern.
Zumal auch der Verteidigungsminister in der eigenen Partei nicht unumstritten ist. Seine bedingungslose Unterstützung der Ukraine, seine militärisch aufgeladene Rhetorik, seine Forderung „kriegstüchtig“ zu sein, erhöhen seine Reichweite in konservative Kreise hinein. In der SPD hat ihm das nicht nur Freunde beschert.
Und dann ist da noch der Faktor Herkunft, der dem einen oder anderen im WBH bremsen könnte, auf einen Kandidaten Boris Pistorius umzuschwenken. Pistorius ist Niedersachse und er würde im Falle einer Spitzenkandidatur den Mit-Niedersachsen Lars Klingbeil, Hubertus Heil oder Matthias Miersch Karriereoptionen verbauen. Als Spitzenkandidat wäre er im Falle eines Juniorpartners in einer Großen Koalition – keine ganz unwahrscheinliche Option – der natürliche Vizekanzler. Viele Männerplätze für weitere Niedersachsen wären dann nicht mehr zu vergeben. Für Olaf Scholz wäre im Falle eines Juniorpartners in einer GroKo kein Platz mehr.
Allen besorgten Genossinnen und Genossen ist aber auch klar: Eine Operation Kandidatenwechsel hätte nur Aussichten auf Erfolg, wenn Olaf Scholz den Weg aus eigenen Stücken frei macht. „Wenn Scholz will, wird er Kanzlerkandidat“, sagt der kampagnengestählte Matthias Machnig. Eine offene Feldschlacht wäre für die Partei suizidal. „Einen Putsch kann es nicht geben“, sagen selbst Scholz-Kritiker. Für einen freiwilligen Rückzug des Noch-Kanzlers, der für sein Beharrungsvermögen bekannt ist, spricht derzeit jedoch nichts. „Die SPD und ich sind bereit, in diese Auseinandersetzung zu ziehen – übrigens mit dem Ziel zu gewinnen“, sagte Scholz an diesem Sonntag vor dem Abflug zum G20-Gipfel nach Brasilien.
Und doch ist offen, ob die SPD Scholz am 11. Januar zum Kandidaten nominieren wird. Erst einmal steht nun aber die Vertrauensfrage am 16. Dezember an. „Das werden noch lange vier Wochen“, stöhnt der erfahrene Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer. Auch aus seinem Bochumer Wahlkreis hat es Rufe nach einem Kandidatenwechsel gegeben.
Schäfer erinnert daran, dass sich auch in den USA der im Moment des Wechsels gefeierte „Kamala-Harris-Effekt" als große bunte Seifenblase entpuppte, die in der Wahlnacht jäh zerplatzte. „Warum fasst der Parteivorstand keinen Beschluss im Sinne von Scholz?“, fragt sich nun der eine oder andere hochmögende Sozialdemokrat. Dann wäre die Diskussion erstickt, „dann wäre ein Deckel auf der Debatte". Einen solchen Beschluss zu fassen, wäre ein unmissverständliches Statement. Den Beschluss aufzuschieben, allerdings auch. Die nächste Vorstandssitzung findet am 25. November statt.