Es war im Sommer des vergangenen Jahres, die Energiepreise waren auf Rekordhöhe, die Gasspeicher leer, und Olaf Scholz und seine Mitstreiter begannen sich um die Stimmung der Deutschen zu sorgen. In diesem Umfeld formulierte Scholz den Leitsatz, den er immer und immer wieder intonierte: „You’ll never walk alone.“ Und manchmal übersetzte er auch gleich selbst: „Wenn wir zusammen stehen, kommen wir durch diese Krise.“ Es war die immergleiche Botschaft: Lasst uns zusammenrücken! Lasst uns füreinander da sein! Und um das kollektive Schutzverständnis auch materiell zu untermauern, stellte der Kanzler, gedrängt von seiner Fraktion, generös einen dreistelligen Milliardenbetrag bereit.
Das Geld also floss, für Benzindeckel, Gaspreisbremse, Strompreisbremse, Unternehmenshilfen und anderes mehr – obwohl zuvor schon die Pandemie einen dreistelligen Milliardenbetrag gekostet hatte. Doch der Kanzler sorgte sich. Er hatte nicht vergessen, wie in Frankreich aufgebrachte Gelbwesten das Land lahmgelegt hatten. Und es war ihm natürlich auch nicht entgangen, wie manche Corona-Versammlungen im eigenen Zuständigkeitsbereich, in Ostdeutschland, aber auch im biederen Stuttgart aus dem Ruder gelaufen waren.
Dieser spürbaren Verunsicherung, die sich bisweilen auch in krudem Volkszorn entlud, wollte er früh begegnen. Um keinen Flächenbrand entstehen zu lassen, den Deutschen französische Verhältnisse zu ersparen; aber auch, um seine Sozialdemokratie hinter sich zu versammeln.
Lange dachte er zudem, dass im notwendigen klimaneutralen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft eine Chance liegen könnte, quasi eine Win-win-Situation für alle. Er betrachtete den Klimawandel – jenseits des Krieges und seiner Folgen – als eher technisches Projekt, aus dem sich mit geschickter Politik durchaus auch Kapital für Deutschland und Europa schlagen lassen könnte.
Doch inzwischen ist die Tonlage eine völlig andere. Und es scheint so, als ob auch die Genossen in der Realität angekommen sind. Als ob auch sie die Meldungen von Rekordtemperaturen, Ozeanerwärmung, schmelzenden Polkappen und rasant schrumpfender Artenvielfalt nicht länger verdrängen wollten. Als ob sie sich nun ganz bewusst absetzen wollten von der Beruhigungsrethorik, mit der Angela Merkel – und sie selbst – das Land über Jahre hinweg regiert hatten.
An die Stelle des beruhigend-wattierenden Untertons ist jedenfalls eine Nüchternheit getreten, die die Realitäten benennt. Ja, eine gewisse Düsternis prägt inzwischen den Sound. Ganz offensichtlich haben auch die Sozialdemokraten erkannt: Der Klimawandel mitsamt seinen Herausforderungen drängt sich mit einer Wucht in den Alltag der Deutschen, die sie lange unterschätzt haben. Vor allem aber: Es ist kein Geld mehr da, um die Belastungen abzufedern. Corona, großzügige Energiehilfen und keine neuen Einnahmen haben alle Reserven aufgezehrt. Oder wie es ein führender Genosse formuliert: „Die Kriegskasse ist leer.“
Noch zögert der Kanzler, aber das Führungspersonal um ihn herum hat den Schalter bereits umgelegt. Die Genossen beginnen, die Deutschen auf härtere Zeiten einzustimmen. Bei der Parlamentarischen Geschäftsführerin der Bundestagsfraktion, Katja Mast, hörte sich das dieser Tage so an: „Bei Öl und Gas werden massive Preissteigerungen auf uns zukommen.“ Und Parteichef Lars Klingbeil bekannte auf der Spargelfahrt des Seeheimer Kreises: „Die nächsten 10 bis 15 Jahre werden ruckelig werden.“ Wortgleich fügte er die Passage auch in seinem Statement im hessischen Hanau ein. „Wir brauchen überall Veränderungen, nicht kleine, sondern große“, hatte er auf dem Wannsee noch gesagt.
Ein Strategiewechsel? Einsicht in die Realitäten? Neue Ehrlichkeit? Offenkundig ist: Die Sozialdemokraten, die sich immer noch als Anwalt der arbeits- und strebsamen Deutschen verstehen, wollen ihrer Klientel nichts mehr vormachen. Und so beschönigte auch Generalsekretär Kevin Kühnert zwei Tage später im ZDF-Talk bei „Lanz“ nichts mehr: Man dürfe sich „die nächsten 20 Jahre nicht als Abenteuerurlaub vorstellen, auf den sich die meisten freuen“. Kühnerts nicht sehr fröhliche Prognose: „Das ändert unser Leben.“ Andere Spitzengenossen formulieren es so: „Die Vollkaskozeit ist vorbei.“ Womit sie sagen wollen: Weder Benzindeckel noch Energiepreisbremsen werden noch einmal eine Wiederholung erfahren.
Es ist eine Operation am offenen Herzen. Denn das deutsche Gesetz, das deutliche Preissteigerungen für fossile Energien beim Heizen und Autofahren festgelegt hat, ist vier Jahre alt, und durch neue EU-Regeln wird der Preis noch sehr viel stärker steigen als zunächst geplant. Dazwischen liegen Zeitabschnitte der Verdrängung, eine Pandemie, ein Bundestagswahlkampf und ein Kriegsausbruch. Keine Phasen, um die Deutschen auf weitere Zumutungen einzustimmen. Aber nun drängt die Zeit. Ob die Wähler die neue Offenheit, die reichlich abrupt daherkommt, zu schätzen wissen, ist offen. Zumal die AfD die Enttäuschten, Ignoranten und zur Verdrängung Neigenden nur zu gerne aufsaugt.
Aber die Sozialdemokraten haben sich zu neuer Ehrlichkeit entschlossen. Und das frühzeitig, mehr als zwei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl – also mit Zeit genug, um Anpassungen und Korrekturen vorzunehmen. Aber erst einmal ist die Linie klar. Es wird Entbehrungen geben. Und der Streit ums Heizungsgesetz wird irgendwann im Rückblick eher lächerlich erscheinen. Generalsekretär Kühnert nannte es bei „Lanz“ so: „Es wird hart werden an vielen Stellen.“