Analyse
Erscheinungsdatum: 02. April 2024

Sicherheit bei der Fußball-EM – ein Cocktail schwer kalkulierbarer Herausforderungen

Trotz der WM-Erfahrung von 2006 steht die Polizei bei der Fußball-EM vor einer völlig neuen Herausforderung. Islamismus, Geopolitik, Technik, Hooligans und Personalmangel geben den Rahmen vor für eine Strategie, auf die auch der Bundestag noch Einfluss nehmen will.

Von Mitte Juni bis Mitte Juli erwartet Deutschland bei 51 Spielen der Fußball-Europameisterschaft gut zwölf Millionen Gäste. So mancher mag da von einem neuen Sommermärchen träumen. Die Polizei dagegen hat vor allem mit den Sicherheitsrisiken zu kämpfen, die in ihrer Kombination außergewöhnlich werden dürften. Neben der akuten Gefahr islamistischer Anschläge beeinflussen auch Konflikte wie der russische Angriff auf die Ukraine und der Gazakrieg die Sicherheitslage. Dazu haben sich die Tricks, Techniken und Fanszenen weiterentwickelt; außerdem kämpft die Polizei mit Personalnot und nach eigenen Angaben auch mit Gesetzen, die ihr viele Maßnahmen schwerer machen.

Die letzten Fußballturniere dieser Größenordnung fanden während der Pandemie oder in autoritär regierten Ländern statt – und waren dadurch leichter kontrollierbar, als es die EURO 24 sein wird. Bei der Weltmeisterschaft 2006 gab es noch keine Smartphones, das erste iPhone kam 2007 auf den Markt. Auch Drohnenabwehr war damals noch kein Thema. Außerdem, so der Polizeihauptkommissar und GdP-Bundesvize Michael Mertens zu Table.Briefings, sei eine völlig neue Generation von Fans herangewachsen. „Die Engländer sind eine Wundertüte“, was so viel heißen soll wie: Bei ihnen weiß man nie, was kommt. Aber auch die Fanszenen von Ungarn und Polen gelten als teils problematisch und gewaltbereit.

Die zehn austragenden Stadien (Berlin, Hamburg, München, Stuttgart, Frankfurt, Leipzig, Köln, Gelsenkirchen, Düsseldorf und Dortmund) gelten in Sicherheitskreisen als die sichersten Orte der EM. Fanmeilen und Public-Viewing-Events dagegen sind klassische „weiche Anschlagsziele“. Zwar wird es Taschenkontrollen geben, komplett abriegeln aber wird man die Fanzonen nicht können. Seit Jahren feilen die sieben Länderpolizeien mit der Bundespolizei und den Stadionbetreibern deshalb an ihren Sicherheitskonzepten; viele Faktoren dürften sich aber erst während des Turniers ergeben. „Wenn du eine Viertelfinalpaarung hast, bei der Länder mit großen Communities in der Stadt beteiligt sind, hast du wieder mit ganz anderen Phänomenen zu tun“, sagt Benjamin Jendro, Sprecher der Berliner GdP.

Gerade in der Hauptstadt prallen viele Kulturen, Nationalitäten, Religionen aufeinander; entsprechend bunt und lebendig kann es werden, aber auch entsprechend gefährlich bei Auseinandersetzungen. Partien wie Serbien gegen Albanien oder Türkei gegen Griechenland bergen besonderes Konfliktpotenzial. Auch Gaza- und Ukrainekrieg könnten das Turnier beeinflussen; die Ukraine hat sich als Teilnehmer qualifiziert. „Es kann während des Turniers passieren, dass Herr Putin auf die Idee kommt, Social-Media-Soldaten Fake News verbreiten zu lassen, und 5.000 Russlanddeutsche aus Hellersdorf-Marzahn machen sich angestachelt auf den Weg zum Stadion“, fürchtet Jendro.

Die zentrale Koordination der Sicherheit übernimmt Nordrhein-Westfalen. Dort finden, auf vier Stadien verteilt, 20 der 51 Spiele statt. In einem internationalen Kommunikationszentrum in Neuss bündeln Polizeien der teilnehmenden Länder, andere Behörden und teilweise Geheimdienste ihre Informationen. Zweimal täglich erstellt das Zentrum ein Lagebild mit Bewegungen der Fanszene, Einschätzungen der beteiligten Gruppen und weiteren Einflussfaktoren, das dann an die Polizeiführer geht.

Natürlich sieht man auch innerhalb der Bundesregierung das Risiko. Die jüngst ausgehobenen Islamistenzellen und auch die ausgerufene höchste Gefahrenstufe im benachbarten Frankreich waren Hinweis genug, dass maximale Wachsamkeit notwendig sein wird. Viele hätten es ihr gegönnt, aber dass sich die israelische Mannschaft in den Play-Off-Spielen dann doch nicht qualifizieren konnte, hat die Sorgen durchaus ein wenig herunter gedimmt.

Im Bundesinnenministerium, gespeist durch Informationen von Bundespolizei und BKA, laufen die Fäden zusammen, was Gefährdungslagen durch Cyber-Angriffe oder islamistische Terrorattacken angeht. Das Gefährdungspotenzial wird jedenfalls als hoch eingeschätzt. Daran ändern auch die angekündigten Grenzkontrollen wenig, das ist selbst aus Bundespolizeikreisen zu hören. Im Oktober erhöhte die Bundespolizei ihre Kontrollen an den Grenzen zu Polen, Tschechien, Österreich und der Schweiz bereits, um Geflüchtete aufzuhalten; Innenministerin Nancy Faeser verordnete verlängerte Kontrollen bis Mitte Juni – einige gehen davon aus, dass das Datum nicht zufällig gewählt ist, sondern bewusst zu einem direkten Übergang in EM-bedingte Kontrollen führen soll. Einziger Unterschied: Dann wird die Polizei stärker auf Indizien wie Quarzhandschuhe, Baseballschläger und Bengalos achten als bei mutmaßlichen Schleusern; ob Fahrzeugkontrollen professionalisierte Attentäter abhalten können, ist fraglich.

Und als ob das nicht genug der Herausforderung wäre, kommt ein massives Personalproblem hinzu. I n Berlin, wo unter anderem das Endspiel stattfindet, fehlen nach Polizeieinschätzung gut 3.000 Beamte. Viele Stellen sind ausgeschrieben; was fehlt, sind Bewerbungen. Wegen der EM haben die Sicherheitsbehörden in Berlin und Nordrhein-Westfalen sowie die Bundespolizei Urlaubssperren verhängt. Mit 50- und 60-Stunden-Wochen oder mehr müssen viele Einsatzkräfte trotzdem rechnen. Teilweise fehlen auch technische Geräte, die auf dem Markt verfügbar wären. Immer wieder erlaube der rechtliche Rahmen nicht, sie einzusetzen. „Würden wir Gesichtserkennungssoftware benutzen und hätten überall Kameras, dann könnten wir sehen: Aha, der Terrorist bewegt sich vom Hauptbahnhof zum Stadion“, sagt Gewerkschafter Jendro. „Die gesetzlichen Rahmenbedingungen entsprechen in jedem Fall nicht den sicherheitspolitischen Herausforderungen, vor denen wir heute stehen.“

Sicherheit bleibt auch während der EM Ländersache. Die Folge: 16 Landespolizeien müssen mit Sicherheitsbehörden des Bundes kooperieren und das dann noch mit den manchmal sehr unterschiedlichen Verwaltungsphilosophien der Kommunen unter einen Hut bringen, weil die Städte unter anderem für die Genehmigung von Public-Viewing-Events zuständig sind. In Berlin etwa gibt es wiederum wegen des eigenen Versammlungsfreiheitsgesetzes kein generelles Vermummungsverbot mehr. Die Versammlungsbehörde muss also für jede Veranstaltung prüfen, ob ein Verbot angemessen wäre. Mit einer Vermummung, so Jendro, ließen sich wesentlich leichter Waffen zu einem Fantreff schmuggeln.

Er kritisiert außerdem, dass der Senat noch immer nicht festgelegt hat, wo sich die Fangruppen der jeweiligen Nationalitäten versammeln sollen. Dabei erfordere etwa der Alexanderplatz ganz andere Maßnahmen als der Hardenbergplatz. Vom Berliner Innensenat heißt es dazu, man befinde sich derzeit „in enger Absprache“ für die Zuweisungen der Fan-Treffs während der Gruppenphase.

Auch der Bundestag will sich nun noch einmal mit der EM befassen, berät am 10. April in zweiter Lesung über einen Unionsantrag, der auch das Sicherheitskonzept für die EM nochmals anpassen soll. Er sieht unter anderem vor, dass die „für die Sicherheit zuständigen Organisationseinheiten im Bundesministerium des Innern und für Heimat in der Hausleitung verortet werden“. Anders ausgedrückt: Die Verantwortung soll ganz oben in der politischen Leitung liegen.

Der Liberale Manuel Höferlin, Mitglied im Innenausschuss, erinnert zwar daran, dass die Bundesregierung entsprechende Punkte für das Sicherheitskonzept bereits umsetze. Im Übrigen sei Deutschland „als Gastgeberland gut aufgestellt und auf jede Eventualität vorbereitet.“ Bei der Polizei dagegen ruft die Befassung des Bundestags teilweise Unmut aus:. „Es geht völlig an der Realität vorbei, wenn der Bundestag jetzt noch mal über Anpassungen am Sicherheitskonzept nachdenkt“, sagt Benjamin Jendro. „Es ist Anfang April und in Deutschland haben wir Vergaberichtlinien.“ Würde noch einmal an Anschaffungen wie Überfahrtschutz für LKW oder Drohnenabwehr gerüttelt und würden sich dann mehrere Anbieter auf eine Ausschreibung bewerben, bestehe das Risiko, dass gar nichts angeschafft werden kann, weil ein unterlegener Wettbewerber vors Verwaltungsgericht zieht.

Von beteiligten Ministerien auf Bundes- und Länderebene wie von Bundes- und verschiedenen Landespolizeien ist offiziell vor allem Zurückhaltung und vorsichtige Zuversicht zu hören. Gewerkschafter Jendro formuliert dagegen klar: „Du wirst bei allen Sicherheitsmaßnahmen immer ein Restrisiko haben: nichts zu 100 Prozent verhindern zu können.“

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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