Der Grundrechte-Report erscheint jedes Jahr. Ist diesmal etwas anders?
Seit einigen Jahren sprechen wir darüber, dass es immer wieder Krisen gibt mit Blick auf die Grundrechte – und müssen jetzt feststellen, dass diese Diagnose zu einem Dauerzustand geworden ist. Als es um die Frage ging, was das Schwerpunktthema 2023 ist, haben wir gemerkt: Es gibt so viele Themen, über die man das sagen könnte.
Was sind besonders wichtige Bereiche?
Da ist zum einen der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Wobei es uns nicht so sehr um die außenpolitischen Aspekte geht, sondern um die Frage, ob die von der deutschen Politik als Reaktion getroffenen Maßnahmen mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Beispielsweise beim Bundeswehr-Sondervermögen gibt es da große Zweifel.
Warum?
Das Friedensgebot ist an verschiedenen Stellen im Grundgesetz verankert. In einem Beitrag im Report wird dargelegt, dass die kurzfristige Änderung des Grundgesetzes, die zur Ermöglichung des Sondervermögens notwendig war, in Konflikt steht: einerseits mit den historischen Wertungen, die im Grundgesetz und für dessen Auslegung auch heute noch eine gewichtige Rolle spielen. Andererseits wird aufgezeigt, dass es bemerkenswert ist, dass die Schuldenbremse bei anderen politischen Richtungsentscheidungen als unüberwindbare Hürde gilt, im Zuge der Aufrüstung allerdings mit einem kurzen Federstrich vom Tisch ist.
Gibt es einen weiteren Schwerpunkt?
Die wachsende soziale Spaltung und Armut im Land. Die hohe Inflationsrate führt dazu, dass die Lage von ohnehin schon in Not lebenden Menschen noch prekärer wird. Hier geht es unter anderem um die Neuberechnung der Grundsicherung und die Frage, ob sie noch vereinbar ist mit dem von der Verfassung gewährleisteten Recht auf ein Existenzminimum.
Ersatzfreiheitsstrafe, Streikrecht, Umgang mit der „Letzten Generation“: Viele der Texte behandeln Punkte, die Politik und Justiz derzeit beschäftigen. Sind Sie dazu in Kontakt mit der Bundesregierung?
Wir als Redaktion des Grundrechte-Reports sind nicht Teil von Beratungsgremien oder Expertenrunden, die an Gesetzgebungsprozessen beteiligt sind. Jeder der zehn mitwirkenden Bürgerrechtsorganisationen ist aber auf ihre Weise aktiv. Pro Asyl zum Beispiel spielt bei der aktuellen Debatte um Asylrechtsverschärfungen eine wichtige Rolle und wird auch von der Politik angesprochen. Wir als Herausgeberkreis aber nicht.
Würden Sie das gerne ändern, um mit dem Report eine größere Wirkung zu erzielen? Sie könnten etwa ans Ende jedes Kapitels konkrete Vorschläge oder Forderungen stellen.
In der Redaktion ist das für uns kein Thema und wäre auch nicht bei jedem Beitrag passend, weil es teilweise auch um viel grundsätzlichere Fragen geht. Aber es wäre natürlich schön, wenn der Report breiter rezipiert würde. Uns geht es als Redaktion weniger um Mitgestaltung konkreter Politiken, sondern um das Berichten über aktuelle und vielfach in der Tagespolitik unterbelichtete Themen. Wir nennen uns auch „alternativer Verfassungsschutzbericht“: Die Behörde hat durch ihr Handeln in den letzten Jahren – beim NSU-Komplex oder mit Hans-Georg Maaßen als Ex-Präsident – gezeigt, dass sie bei den Fragen, die uns beschäftigen, eher nicht in der Lage ist, die in der Verfassung angelegten Werte zu schützen. Darüber zu berichten und solche Perspektiven einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen entspricht eher unserem Selbstverständnis als Report.
Ferda Ataman, heute Antidiskriminierungsbeauftragte, sagte bei der Präsentation des 2022-Reports: „Viele denken bei der Wahrung von Bürger- und Menschenrechten an Regimes im Ausland. Aber auch bei uns müssen die Grundrechte geschützt und verteidigt werden.“ Ist das in der Gesellschaft schon angekommen?
Ich finde es schwierig, ein gesamtgesellschaftliches Klima zu beurteilen. Aber ich weiß, was gemeint ist. Oft zeigt man auf autokratische Staaten und sagt: Schaut mal, wie katastrophal die Lage dort ist. Ich denke, diese Einstellung ist nicht komplett unzutreffend, weil es etwa um die Presse- und Meinungsfreiheit hierzulande deutlich besser bestellt, ist als in der Türkei oder in Russland. Auf der anderen Seite denke ich, dass das Bewusstsein dafür, dass staatliche Akteure auch in Deutschland Grundrechte verletzen, schon da ist. Nur der systematische Blick darauf ist eben nicht so stark ausgeprägt.
Im Report heißt es mit Blick auf die Aktionen von Klimaaktivistinnen, der Begriff des Rechtsstaats werde zu einer „Law and Order“-Parole umgedeutet. Wie meinen Sie das?
In sozialen Netzwerken liest man von vielen Menschen, sie würden sich ein Durchgreifen des Rechtsstaats wünschen und härtere Sanktionen wünschen. Dass das Festkleben auf der Straße und damit das Blockieren des Verkehrs als Gewalt im Sinne der strafrechtlichen Nötigung gilt, knüpft zwar an der sogenannten Zweite-Reihe-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs an. Selbstverständlich ist diese Wertung allerdings nicht. Dass eine Straßenblockade also mit den Mitteln des Strafrechts – das ja als „ultima ratio“, also letztes Mittel gilt – sanktioniert werden soll, wird auch in unserem Report kritisiert.
Kritik an den Aktionen kommt auch aus der Bundesregierung und von Parlamentariern.
Ja, wenn man sich anschaut, wie da polarisiert wird, dann ist das schon ein starkes Stück. Etwa, wenn man in der „Letzten Generation“ eine kriminelle Vereinigung sieht, was auch schon von einem Gericht als Anfangsverdacht bestätigt wurde. Das sehen wir kritisch. Das gilt auch für bewusste Schmerzgriffe durch die Polizei beim Wegtragen der Leute. Da muss man sich schon fragen, ob das rechtsstaatlichen Prinzipien genügt.