Analyse
Erscheinungsdatum: 26. September 2024

Protokoll eines demokratischen Dramas

Sieben Unterbrechungen in knapp viereinhalb Stunden: In der konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtages ist es nicht zu der Wahl eines Landtagspräsidenten gekommen. Der Alterspräsident von der AfD weigerte sich, die Beschlussfähigkeit des Parlamentes festzustellen, um einen Antrag der anderen Parteien zu vermeiden.

12:02 Uhr: AfD-Alterspräsident Jürgen Treutler (73), der bisher noch nie in einem Parlament saß, eröffnet die Sitzung. Er benennt die Fraktionsvorsitzenden und parlamentarischen Geschäftsführer.

12:09 Uhr: Schon nach wenigen Minuten kommt es zu einem ersten Zwischenruf: Als Treutler zu seiner Eröffnungsrede ansetzen will, unterbricht ihn Andreas Bühl, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Fraktion. Er will, dass zuerst die Beschlussfähigkeit des Parlamentes festgestellt wird. Als der Direktor der Landtagsverwaltung, Jörg Hopfe, herbeieilt und Treutler von der Seite anspricht, unterbricht dieser die Sitzung. Die parlamentarischen Geschäftsführer aller Fraktionen kommen zum Podium, um sich mit den beiden zu besprechen.

12:15 Uhr: Treutler setzt die Sitzung fort und hält seine Rede. Wie fast alles, was er an diesem Tag sagt, liest er vom Blatt ab. Mit der üblicherweise überparteilichen Rolle eines Alterspräsidenten hat die Rede nichts zu tun. In der typischen AfD-Opfererzählung beschwert er sich über die seiner Partei feindlich eingestellten Medien und argumentiert, dass die hohe Wahlbeteiligung ein Hinweis darauf sei, dass seine AfD-Fraktion den Landtagspräsidenten stellen müsste.

12:26 Uhr: Treutler will die Tagesordnung vorlesen, doch der Landtagsdirektor erinnert ihn an die Vereinbarung, die zuvor getroffen worden sei. Demnach sollte er nach der Rede die Beschlussfähigkeit feststellen – also die Abgeordneten namentlich aufrufen und die Schriftführer benennen. Auch Bühl fordert dies, denn: Sobald die Beschlussfähigkeit festgestellt ist, kann der Landtag über die Tagesordnung abstimmen. Dann wäre Treutler gezwungen, über TOP4 abzustimmen, also den Antrag, der auch den Nicht-AfD-Fraktionen ein Vorschlagsrecht für die Landtagspräsidentenwahl gewähren würde. Treutler unterbricht die Sitzung zum zweiten Mal.

13:31 Uhr: Treutler tritt vor das Parlament und kündigt eine erneute Rede an, obwohl er seine Rede schon gehalten hatte. Will er filibustern? Bühl unterbricht ihn direkt, weil er sich erneut nicht an die Abmachung gehalten habe. Treutler unterbricht die Sitzung zum dritten Mal.

14:15 Uhr: Treutler setzt die Sitzung fort. Die Beschlussfähigkeit will er erst später feststellen. Jörg Hopfe eilt wieder an seine Seite. Durch Treutlers Mikro ist deutlich zu hören, wie Hopfe sagt: „Das ist aus unserer Sicht rechtswidrig.“ Andreas Bühl sagt: „Was Sie hier tun, ist Machtergreifung!" Tilo Kummer (BSW) beantragt eine Unterbrechung. Jürgen Treutler unterbricht die Sitzung zum vierten Mal.

14:57 Uhr: Treutler setzt die Sitzung fort. Er beteuert, weiterhin beim ersten Tagesordnungspunkt, also seiner Rede, zu sein. Nun wird es turbulent, Zwischenrufe überschlagen sich. Schließlich hält Treutler einen zweite Rede, in der er darlegt, warum vor der Wahl des Landtagspräsidenten nicht über die Geschäftsordnung abgestimmt werden soll.

15:12 Uhr: Nach seiner Rede bittet Jürgen Treuter die Parlamentarischen Geschäftsführer nach vorn um zu verhandeln. Diese weigern sich, fordern, dass über die Beschlussfähigkeit abgestimmt wird. Jürgen Treutler unterbricht die Sitzung zum fünften Mal.

15:23 Uhr: Treutler setzt die Sitzung fort. Da er weiterhin nicht abstimmen lassen will, kocht die Stimmung hoch. Treutler unterbricht die Sitzung zum sechsten Mal.

15:44 Uhr: Treutler setzt die Sitzung fort. Jetzt kommt es zu einer öffentlichen Aussprache. Alle Parteien dürfen ihre Rechtsauffassung zur Geschäftsordnung äußern. In den Reden wird Treutler heftig kritisiert. Ihm wird vorgeworfen, die Rechte der Abgeordneten zu beschneiden. Der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Torsten Braga, bekräftigt die Rechtsauslegung seiner Partei: Unmittelbare Wahl nach Feststellung der Beschlussfähigkeit, ohne Abstimmung über Änderung der Geschäftsordnung. Jürgen Treutler unterbricht die Sitzung zum siebten Mal und bittet die Verhandler nach vorne.

16:05 Uhr: Treutler setzt fort und schließt sich der Rechtsauffassung seiner Partei an. Dann kommt Andreas Bühl (CDU) ans Rednerpult. Er kündigt an, dass seine Partei das Verfassungsgericht zur Klärung anrufen möchte. Jürgen Treutler unterbricht die Sitzung erneut – bis zum Samstag um 9:30 Uhr. Dann geht es weiter.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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