Analyse
Erscheinungsdatum: 18. Mai 2023

Patrick Graichen und die Grünen: Sorge, Zorn und Hoffnung

15.05.2023 Berlin, Deutschland, Europa Robert Habeck nachdenklicher Blick - Vizekanzler sowie Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz der Bundesrepublik Deutschland. Archivfoto Portrait, Mimik, Emotionen *** 15 05 2023 Berlin, Germany, Europe Robert Habeck thoughtful look Vice Chancellor as well as Federal Minister for Economy and Climate Protection of the Federal Republic of Germany archive photo portrait, facial expression, emotions
Dass Patrick Graichen würde gehen müssen, haben viele Grüne schon geahnt; dass Robert Habeck den Schritt so schnell vollziehen würde, hat trotzdem viele überrascht. Angesichts der heftigen politischen Angriffe erleben viele in der Partei die Entlassung Graichens auch als politische Niederlage im Ringen um die Energiewende. Zugleich hoffen sie, dass es jetzt wieder um die Sache gehen kann.

„Es war der eine Fehler zu viel“, sagt Robert Habeck am Mittwoch, 17. Mai, um kurz nach elf Uhr. Nicht mal ein Monat, seit Patrick Graichen seinem Chef den ersten Fehler gebeichtet hat. Jetzt muss er weichen, weil die „Compliance-Brandmauer“ Risse hat. Als „weitreichend für mein Haus, schwer für mich und sehr hart für Patrick Graichen“ empfindet Habeck den Verlust des Staatssekretärs. Ärger und Bitternis begleiten den Minister zunehmend. Über den Image-Schaden, den er, sein Haus und die Grünen genommen haben; über den erschwerten Kampf für Heizungsgesetz und den Klimaschutz; über die Häme aus der Opposition, die eigene Skandale nun mit dem Narrativ relativiert, die Grünen seien selbst nicht besser.

Seinen Groll adressiert Habeck vor der versammelten Presse im Ministerium: „Dass Patrick Graichen in den letzten Wochen über das berechtigte Maß an Kritik und Aufklärung so angefeindet wurde, von mitunter rechtsextremen Accounts Lügen über die Familie verbreitet und von prorussischen Accounts weiter gepusht wurden, ist unerträglich.“ Es bereite ihm große Sorgen, sagt Habeck. „So können und so dürfen politische Debatten nicht ausarten.“ Wer Netz-Debatten verfolgt, mag Habeck beipflichten. Die Grenzen zwischen harter Kritik in der Sache, schrillen Kampagnen und hasserfüllten Lügen verlaufen zuweilen fließend. Dass Habeck in ein so scharfkantiges Freund-Fein-Denken verfällt, zeigt freilich auch, wie sehr er getroffen wurde – und wie schwer es fällt, kühl zu bleiben in der Einschätzung der Lage. So berechtigt seine Kritik und so verständlich seine Anwürfe zum Teil sein mögen; es wird ihn kaum stärker machen, weder im Rückerobern politischer Glaubwürdigkeit noch im Kampf gegen jene aggressiven Gegner, die nur darauf warten, dass er sich über sie aufregt.

Hört man am Tag nach der Graichen-Entlassung in die Partei hinein, ist da von Erleichterung, aber auch viel von Bedauern die Rede. Mancher zweifelt daran, ob es richtig gewesen ist, dem Druck der Gegner nachzugeben. In internen Chats der Partei herrschte weitgehend Stille, was zwei Ursachen haben dürfte: Zum einen sind viele tatsächlich angefasst von der Entwicklung und schweigen deshalb; zum anderen gibt es jenseits der Sitzungswochen ohnehin mal Luft zu anderem. Und auch das dürften viele genutzt haben, um einfach mal den Mund zu halten. Der Bundestag trifft sich erst nächste Woche wieder; so gesehen erklärt mancher, dass es bei all dem Schlamassel gar nicht schlecht war, die Entscheidung am Tag vor Christi Himmelfahrt öffentlich zu machen.

Einer, der was sagen möchte, ist der Grünen-Bundestagsabgeordnete Kassem Taher Saleh. Er ist in den vergangenen Monaten als Berichterstatter für das Gebäudeenergiegesetz intensiv im Austausch mit BMWK-Mitarbeitern gewesen. „Ich persönlich bedauere die Entscheidung sehr, denn sie haben alles transparent gemacht, haben alles eingesehen“, sagt er und lobt die Verdienste des Gehenden. Graichen habe den „heißen Herbst“ verhindert, Protesten Rechtsextremer gegen die ausfallenden Heizmittel maßgeblich den Drive genommen.

„Was wir definitiv in Zukunft besser machen müssen, ist unsere Kommunikation und unsere Narrativsetzung“, sagt Taher Saleh. „Weder auf FDP noch SPD ist Verlass. Ein Machtwort vom Kanzler gibt es nicht, er lässt Robert Habeck wieder in der Kälte stehen." In keinem Punkt habe Olaf Scholz seinem Wirtschaftsminister in den letzten Monaten zur Seite gestanden. „Vor Christine Lambrecht hat er sich trotz der fatalen Fehler gestellt, gelobt, was für eine tolle Ministerin sie sei.“

Die Union, bei der Skandale um Vetternwirtschaft oder Parteispenden häufiger mal vorkommen, polterte am lautesten gegen die Grünen; Markus Söder sprach gar von Korruption. „Uns mit Union oder FDP zu vergleichen, ist nicht unser Stil und soll nicht unser Maßstab sein“, sagt Taher Saleh. „Aber eins ist klar: Nach Graichens Abgang ist für die anderen jetzt eine neue Messlatte gesetzt.“ Allen müsse bewusst sein, dass Vergleichbares nicht mehr passieren dürfe: „Familienmitglieder anstellen, Milliarden verplempern wie Andreas Scheuer, Anstellungen wie bei Doro Bär. Oder Olaf Scholz, der sich bei Wirecard oder Warburg-Bank an nichts erinnern kann.“

Der zwischenzeitliche Höhenflug der Grünen ist fürs Erste vorbei. Die Wahlniederlage in Bremen lässt sich auch durch regionale Fehler erklären. Aber einen erheblichen Teil hat die Berliner Debatte dazu beigetragen. Das hat die Bremer Sozialsenatorin Anja Stahmann im Table.Media-Interview offen so ausgesprochen. Die Grünen in Bayern und Hessen müssen nun hoffen, dass bis zu ihren bevorstehenden Landtagswahlen andere Themen in den Mittelpunkt rücken. Die bayerische Landespartei hatte ihren Unmut über Mängel am GEG schon vor Tagen geäußert. Und Tarek al-Wazir, Spitzenkandidat und Wirtschaftsminister in Hessen, monierte bei Maischberger so neutral wie deutlich: „Das ist kein Rückenwind.“

Bremens Noch-Sozialministerin Stahmann hat mit der Freiheit, die man nur nach Wahlen hat, am Dienstag eingeräumt, die Menschen womöglich in ihrer Opferbereitschaft überschätzt zu haben. „Es ist uns nicht gut gelungen, die notwendigen und unausweichlichen Maßnahmen zum Abwenden der Klimakatastrophe mit der sozialen Frage zu verbinden“, sagte sie. Und fügte hinzu, möglicherweise sei die Partei zu naiv gewesen im Glauben, dass die Gesellschaft als Ganzes schon zu den ganz großen Schritten bereit sei.

Diese Kritik schmerzt und trifft doch auch einen Punkt; in den Ländern wie im Bund haben viele Grüne erkannt, dass der Umbau nicht mit Kälte verbunden werden darf. Zugleich stehen alle Grüne nach wie vor hinter Habecks Grunddiktum, dass man eines nicht mehr machen dürfe: aus Angst vor den Folgen nichts tun. Das hätten die CDU-geführten Regierungen lange genug so gehalten; deshalb müssten die Grünen auf dem Weg entschlossen bleiben.

Ob sie dabei jetzt wieder ohne gefährliche Nebengeräusche weitermachen können, ist nicht sicher. Mancher Journalist kündigt schon an, dass die Aufarbeitung jetzt erst begonnen habe. Unsicherheit bleibt deshalb fürs Erste ein Begleiter der Grünen, die nur hoffen können, dass der eine Fehler zu viel der Letzte war. Versprechen will man das offenbar nicht. „Niemand kann eine General-Aussage an dieser Stelle machen“, sagte Katharina Dröge dazu bei Maischberger.

Der Koalitionspartner SPD erweist sich in dieser Phase als Graustufe zwischen Freund und Feind. „Niemand weiß, was das Steineumdrehen noch bringt“, kommentiert Boris Pistorius, ohne konkreter zu werden. „Der eine oder andere fühlt sich vielleicht gemüßigt oder ermuntert, noch das ein oder andere durchzustechen.“ Das könnte die Grünen, aber womöglich auch alle anderen Parteien noch treffen. Über Habeck sagt Kabinettskollege Pistorius immerhin: „Ich bin mir sicher, er wird sich da wieder rauskämpfen.“ Klingt wahlweise ein bisschen gönnerhaft oder ein bisschen solidarisch.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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