Berlin.Table: Bundeskanzler Olaf Scholz hat beim Besuch Ihres Ministerpräsidenten Jonas Gahr Støre gesagt, Norwegen sei ein ganz besonders wichtiger Partner für Deutschland. War das die übliche höfliche Floskel oder mehr?
Botschafter Torgeir Larsen: Auf jeden Fall mehr. Der Ukraine-Krieg hat auf einen Schlag ganz Europa verändert. Nordeuropa ist jetzt näher an den Kontinent gerückt, wir brauchen uns mehr denn je gegenseitig, für unsere Sicherheit und für die Energieversorgung. Auch für Norwegen ist Deutschland wichtiger denn je.
Wie ist es dazu gekommen?
Da hole ich etwas aus: Mit dem Mauerfall entstand der Traum, dass Deutschland nie wieder Schlachtfeld zwischen Ost und West sein würde, sondern eine Brücke. Die deutsche Bevölkerung hatte kein Gefühl von Bedrohung mehr. Das war bei uns Norwegern durch die geografische Nähe zu Russland anders. Auch wir haben von einem neuen Verhältnis zu Russland geträumt, doch gleichzeitig haben wir eine gemeinsame Grenze, fast 200 Kilometer an Land, dazu kommt eine kürzere Seegrenze im Varangerfjord und fast 1000 Seemeilen, wo in der Barentssee und dem Arktischen Ozean unsere ausschließlichen Wirtschaftszonen aufeinander treffen. Und auch wenn wir nach der Auflösung der Sowjetunion eine völlig neue und enge bilaterale Zusammenarbeit mit Russland entwickelt hatten, hat es sich immer um eine Nachbarschaft mit einer Großmacht gehandelt, die strategische Atomwaffen 100 Kilometer von der gemeinsamen Grenze entfernt stationiert hat. So gesehen hat der 24. Februar 2022 bei uns Ängste bestätigt. In Deutschland aber hat er die Welt brutal verändert. Plötzlich ist Russland gefährlich geworden. Auch wegen der nuklearen Bedrohung. Von Kaliningrad nach Berlin ist es nicht weit.
Gab es in den nordischen Staaten das Gefühl: Endlich haben es die Deutschen kapiert?
Es gibt nicht so etwas wie Genugtuung, eher sorgenvolle Bestätigung. Wir haben eine andere Geschichte. Wir waren neutral bis zum Zweiten Weltkrieg. Dann wurden wir besetzt. Seitdem spielt der Pazifismus bei uns eine viel kleinere Rolle. Wir wissen, dass wir uns nicht allein verteidigen können. Norwegen ist 1949 Gründungsmitglied der NATO gewesen; unsere Sicherheit basiert auf deren Abschreckungspotenzial. Zugleich waren Beschwichtigung und selbstauferlegte militärische Beschränkung gegenüber unserem großen Nachbarn im Osten wichtiger Teil unser Sicherheitspolitik seit 1949. Weder Alliierte noch Atomwaffen sind in Norwegen stationiert, und Alliierte üben bei internationalen Trainings auch nicht nahe der Grenze zu Russland. Unsere Waffenausfuhrgesetze sind strenger als die deutschen. Norwegen war eines der letzten Länder, das Waffen an die Ukraine geliefert hat.
Wie sehr hat der Überfall auf die Ukraine das Denken im Norden verändert?
Ganz schnell kam die bis dato fast undenkbare Frage: Sollen Finnland und Schweden NATO-Mitglieder werden? In Finnland gab es dafür rasch Unterstützung von der eigenen Bevölkerung, weil das Land eine sehr lange Grenze und eine blutige Geschichte mit Russland hat. Für Schweden ist der Schritt größer. 200 Jahre gehörten Neutralität und Allianzfreiheit zur schwedischen Identität. Und doch hat es sich für den Beitritt entschieden. Die sicherheitspolitische Architektur Nordeuropas hat sich damit verändert. Der Ostseeraum ist damit enger mit Norwegen verbunden. Zugleich rückt der Atlantik mit den wichtigen NATO-Alliierten Großbritannien und den USA näher an die Ostseeanrainer – auch Deutschland.
Sie waren mal Stabschef von Jens Stoltenberg bei der Nato, einer NATO, von der Macron vor wenigen Jahren noch sagte, sie sei „hirntot“ …
… das sagt Macron jetzt nicht mehr. Die Bedeutung der NATO spielt heute eine überragend wichtige Rolle, das ist in allen europäischen NATO-Ländern angekommen. Wir brauchen eine gemeinsame europäische Abschreckung – daran gibt es seit Russlands völkerrechtswidrigem Angriff auf die Ukraine wenig Zweifel.
Deutschland und Norwegen haben bei Thyssen-Krupp in Kiel sechs U-Boote in Auftrag gegeben, für 5,5 Milliarden Euro. Welche Bedeutung hat dieser Deal?
Das ist das erste Projekt in Europa, bei dem wir gemeinsam identische U-Boote bauen, an denen wir gemeinsam unsere Marinesoldaten ausbilden. Wir sind sehr verschiedene Länder, bei uns leben 5,5 Millionen Menschen, in Deutschland 84 Millionen. So kooperativ wie bei diesem Projekt müssen wir denken in Europa. Norwegen hatte zuletzt die Wahl zwischen südkoreanischen Panzern und deutschen. Die norwegische Regierung hat ganz bewusst die deutschen Kampfpanzer bestellt. Dazu gab es eine Debatte in Norwegen. Wegen unserer Berge fanden viele, wir bräuchten eher Luftabwehr. Aber die Regierung hat gesagt, es geht nicht bloß um unser Land, sondern um uns alle in Skandinavien – und um die militärische Zusammenarbeit mit unseren nordischen Nachbarn, die alle Leoparden haben. Natürlich spielt die strategische Zusammenarbeit mit Deutschland hier ebenso eine wichtige Rolle.
Wie hat Norwegen das Zögern des deutschen Bundeskanzlers bei der Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine wahrgenommen?
Die Panzerdebatte war lange eine sehr deutsche. Ich glaube, dass die „Zögern-Debatte“ mit dem Gefühl von Bedrohung zu tun hat, das in unterschiedlichen Teilen Deutschlands und auch zwischen den Generationen unterschiedlich empfunden wird. Plötzlich gibt es eine instabile Großmacht in Europa, und die hat Atomwaffen. Deutschland hat im Gegensatz zu Frankreich oder Großbritannien keine, sondern ist auf die NATO zur Abschreckung angewiesen. Die USA sind für Deutschland also noch wichtiger geworden. Deshalb, so vermute ich, ist die Vorsicht besonders groß und das Bedürfnis besonders mächtig, eng mit den USA zu marschieren. Außerdem muss Deutschland in dieser Lage seine neue sicherheitspolitische Rolle als großes Land mit einer starken Ökonomie erst finden. Das ist schwierig, auch mental, und es braucht Zeit.
Wir reden dabei auch über einen Konflikt zwischen Demokratien und Autokratien. Die Sorge ist, dass Demokratien schwächer sind, weil Entscheidungsprozesse länger dauern.
Man kann durchaus der Meinung sein, es gehe in einigen Bereichen zu langsam. Aber man darf nicht vergessen, wieviel sich verändert hat in nur zwölf Monaten. Wieviel Energie aus allen Erdteilen plötzlich nach Deutschland fließt, wieviel Waffen an die Ukraine geliefert werden. Es geht wirklich um eine Zeitenwende, insbesondere angesichts der deutschen Geschichte. Mitten in Europa muss Deutschland jetzt eine neue Rolle definieren, zusammen mit allen Nachbarn, in Ost-, Süd- und Nordeuropa.
Beim Besuch des norwegischen Verteidigungsministers in der Ukraine Anfang März wurde offenbar auch über eine Zusammenarbeit mit Deutschland bei der Ausbildung ukrainischer Piloten gesprochen. An welchem Flugzeug, am F16?
Nach meiner Kenntnis gibt es keine konkreten Pläne. Prioritär geht es erstmal um Lieferungen von Munition, Panzern und Luftabwehrsystemen sowie um Training gemeinsam mit Deutschland und anderen Alliierten, etwa von ukrainischen Streitkräften.
Sie waren bei einem Training, in Bayern. Wie fühlt es sich an, wenn man weiß, da werden Menschen trainiert, die womöglich bald an der Front sterben?
Die Ukrainer waren unheimlich motiviert. Es waren ältere Männer, die meisten zwischen 45 und 63 Jahren. Ziel des Trainings dort ist, die Fähigkeit der ukrainischen Infanteristen zu taktischer Zusammenarbeit zu stärken. Aber Krieg ist brutal. Mit dem Training versuchen die Ausbilder auch, die Ukrainer zu befähigen, länger zu überleben, sodass die Chance wächst, dass mehr von ihnen überleben.
Apropos Kriegsbefähigung. Der norwegische Munitionshersteller Nammo kann seine Produktion trotz voller Auftragsbücher nicht ausdehnen, weil er nicht die nötige Strommengen erhält. Den hatte sich zuvor TikTok gesichert. Wie kann das sein?
Das liegt an unserer Energiekrise. Ja, wir Norweger haben auch eine Energiekrise! Bei uns läuft alles über Strom, aus Wasser- und Windkraft. Und jetzt gibt es Engpässe. Zuletzt war der Strom in Südnorwegen teurer als in Deutschland. Die Elektrifizierung der norwegischen Gesellschaft ist schon umfassend und nimmt an Fahrt zu. Wir müssen jetzt die Infrastruktur für mehr erneuerbaren Strom aufbauen, stehen also vor der gleichen Herausforderung wie Deutschland.
Und zugleich exportiert Norwegen Strom über Unterwasserkabel nach Deutschland oder Großbritannien?
Richtig. Wir liefern nicht nur Gas, Öl und Elektrizität. Wir können auch Wasserstoff liefern, blauen und grünen.
Was ist blauer Wasserstoff?
Das ist Wasserstoff, der aus Gas hergestellt wird und bei dem das dabei entstehende CO2 abgeschieden und unterirdisch gelagert wird. In Norwegen lagern wir seit 1996 CO2 sicher unter dem Meeresgrund. In einer Übergangszeit wird blauer Wasserstoff notwendig sein, um schnell genug den enormen Bedarf der deutschen Industrie befriedigen zu können. Es wird dauern, bis das mit grünem, also durch erneuerbare Energien, zum Beispiel norwegische Offshore-Windkraft, erzeugtem Wasserstoff möglich ist.
Haben Sie schon Kunden für die unterirdische Speicherung von Kohlendioxid an der Westküste?
Das ist noch in der Erprobung. Es gibt allerdings schon Vereinbarungen mit mehreren europäischen Unternehmen. HeidelbergMaterials etwa möchte schon ab 2024 jährlich 400.000 Tonnen CO2 aus der norwegischen Zementproduktion einlagern. Robert Habeck hat diese Anlage bei seinem Norwegen-Besuch im Januar besichtigt. Ein weiteres Beispiel ist das britische Unternehmen Cory, das ab 2030 1,2 Millionen Tonnen CO2 aus der energetischen Müllverbrennung aus London nach Norwegen verschiffen möchte.
In Deutschland ist CCS noch verboten.
Deutschland hat nicht das London-Protokoll ratifiziert, das den grenzüberschreitenden Transport von CO2 regelt. Aber ich glaube, dass sich Deutschland der Lagerung von CO2 öffnen wird, um seine Industrie klimaneutral zu machen.
Wie lange wird es technisch dauern, bis der blaue Wasserstoff grün wird, also mit der Kraft der neuen Offshore-Parks gewonnen wird? Die von Norwegen angepeilten 30 Gigawatt entsprechen 30 Atomkraftwerken, Norwegen plant mit 1500 Windrädern. In Deutschland bräuchten wir dazu wahrscheinlich 100 Jahre …
… wir planen mit Fertigstellung zwischen 2035 und 2040. Ab 2030 wird unsere Gasförderung ziemlich steil absinken, da ist der Peak unserer Vorräte wahrscheinlich erreicht. Es gibt viele „Memorandums of Understanding“, aber um einen europäischen Markt für Wasserstoff zu schaffen, ist es noch weit. Noch gibt es weder konkrete Verträge zwischen künftigen Produzenten und Abnehmern, noch den nötigen regulativen Rahmen in Deutschland. Aber es gibt jetzt sowohl regierungs- wie unternehmensseitig Gespräche zwischen Deutschland und Norwegen. Dabei geht es um die Produktion von Wasserstoff und die entsprechende Transportinfrastruktur zwischen beiden Ländern. Binnen weniger Monate wird dazu eine Machbarkeitsstudie vorgelegt werden.
Deutschland baut so große LNG-Terminals, dass Kritiker sich sorgen, dass dafür noch mehr Gasfelder erschlossen werden und der Ausstieg aus der fossilen Wirtschaft verzögert würde. Sie waren mal Risikoanalyst für Gas und Öl bei Statoil, dem Vorgängerkonzern von Equinor. Was halten Sie von Deutschlands LNG-Aktivismus?
Ich finde die Planung völlig richtig. Erstens, weil man nicht weiß, wie sich die Märkte entwickeln und deshalb Puffer braucht. Zweitens, weil man LNG-Terminals auf Wasserstoff umrüsten kann. Und drittens spielen die europäischen Gasmärkte für die Weltproduktion keine entscheidende Rolle. Asien hat eine viel größere – und steigende – Gas-Nachfrage.
Wie sicher ist die unterseeische Infrastruktur heute?
Als die Pipelines von North Stream 2 explodierten, war das ein echter Wake-up-Call. Deutschland und Norwegen haben deshalb die NATO um die Organisation eines gemeinsamen Überwachungs- und Koordinierungszentrums gebeten, und die NATO hat positiv reagiert. Es soll die Informationen von staatlichen Behörden, NATO-Allierten, EU-Institutionen und Privatunternehmen koordinieren.
Private Unternehmen sollen bei einer hoheitlichen Aufgabe mitmischen?
Die private Unternehmen der Energiewirtschaft sind grundsätzlich verantwortlich für Kontrolle, Instandhaltung und Sicherheit der Infrastruktur und haben die entsprechenden Ausrüstungen und Fähigkeiten. Die Staaten besitzen wichtige spezielle Überwachungs- und Sicherheitsressourcen. In der besonderen Situation, in der wir uns derzeit befinden, ist die Zusammenarbeit von Unternehmen und Staaten also essentiell.
Von außen klingt Norwegens Energiewirtschaft für uns ziemlich perfekt: Es exportiert Energie und entsorgt den Müll, also das CO2. Sie profitieren also doppelt von den aktuellen Bedürfnissen. Was gibt Norwegen dafür zurück?
Wir geben der europäischen Industrie die Möglichkeit, klimaneutral zu produzieren und trotzdem konkurrenzfähig zu bleiben. Und das sehr sicher, denn wir haben viel Erfahrung bei der Speicherung von CO2. Das ist es, was wir zurückgeben.
Norwegen hat der Ukraine schon Hilfe in Höhe von 7,5 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Ist diese hohe Summe auch eine Antwort auf die Tatsache, dass Norwegen vom Krieg ökonomisch unfreiwillig profitiert hat?
Ja, das war auch eine moralische Frage. Wir können uns die Hilfe leisten, die Ukraine und Europa braucht sie, und die Sicherheit der Ukraine ist auch unsere.
Gibt es so etwas wie ein schlechtes Gewissen, heute noch so viel Geld mit Gas zu verdienen?
Wir diskutieren in Norwegen über die Frage, wie moralisch wir sind, wenn wir Gas exportieren. Müsste man nicht längst ganz ausgestiegen sein? Aber es wird dauern, bis die Welt auf fossile Energien verzichten kann. Würde Norwegen die Gasförderung schließen, würden der Rohstoff deshalb einfach aus anderen Weltteilen geliefert. Die Transformation weg von der Öl- und Gasindustrie und hin zu Erneuerbaren und Klimaneutralität ist in Norwegen längst im Gange. Viele Ingenieure haben entsprechend die Branche gewechselt und arbeiten nun im Offshore-Wind. Aber jede Umstellung braucht Zeit. Die Grenze zwischen Übermoralismus und Überpragmatismus ist ein schmaler Grat. Das wissen wir.
Im Mai verlassen Sie Berlin und werden höchster politischer Beamter im Außenministerium in Oslo. Welche Erfahrungen bleiben besonders in Erinnerung?
Das erste Erlebnis passierte, bevor ich ankam. Damals habe ich versucht, ein Auto in Berlin von Oslo aus zu leasen und benötigte dafür etwas, das es bei uns nicht mehr gibt: ein Faxgerät. Sie glauben gar nicht, wie absurd das für einen Norweger war. Die zweite war der Halbmarathon, an dem ich an Palmsonntag teilgenommen habe: Eine derartig perfekte Organisation von 35.000 Teilnehmern, das hätten wir nicht hinbekommen. Vor allem aber habe ich jetzt ganz Deutschland kennenlernen dürfen, in all seiner Vielfalt. Hamburg ist für viele von uns Südnorwegern kulturell näher als zum Beispiel Helsinki oder Stockholm. Bayern oder Sachsen dagegen sind herrlich exotisch. Diesen Pluralismus in 16 Bundesländern finde ich großartig!
Torgeir Larsen ist seit Mai 2022 norwegischer Botschafter in Deutschland. Er war zuvor unter anderem Staatssekretär im norwegischen Außenministerium sowie Stabschef bei NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Im Mai 2023 wechselt er als „Permanent Secretary“ in das Außenministerium nach Oslo.