Analyse
Erscheinungsdatum: 06. März 2024

Neuwahlen? Warum das unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen ist

SPD, Grüne, FDP – für alle sind die Umfragen schlecht und baldige Neuwahlen keine gute Aussicht. Dennoch hat die inhaltliche Aufstellung für einen Wahlkampf längst begonnen. Die Probleme sind mächtig und Lösungen besitzen großes Spaltungs-Potenzial. Was also würde für einen Bruch sprechen – und wie schwer wäre der Weg danach?

Neuwahlen? Aber ja, die Ampel kommt doch nicht mehr zusammen. Neuwahlen? Aber nein, das will doch keiner und es geht doch gar nicht. In der Hauptstadt kann man bei der Frage zurzeit was erleben. Zum einen, weil sich anscheinend alle fragen, wie die Koalition sich nochmal zusammenraufen soll. Und zum anderen, weil alle, die schon etwas länger dabei sind, wortgewandt erklären können, warum Neuwahlen politisch und juristisch höchst unwahrscheinlich bis unmöglich sind. Das Problem: Kaum ist das ausgesprochen, taucht schon wieder die Frage auf: Vielleicht doch besser Neuwahlen?

Regierung und demokratische Opposition stecken in einer fast unauflösbaren Situation: Die wirtschaftlichen Probleme, die außenpolitischen Baustellen und die heiklen Wahlen verlangen dringend gemeinschaftliche Antworten. Stattdessen: wenig Bewegung, Konkurrenzdenken, Trotz, üble Nachrede, Missgunst, unterschwellige und öffentliche Dispute. Bekommt diese Koalition noch einen gemeinsamen Aufbruch hin? Oder endet die Ampel vorzeitig?

Die Ausgangslage

Für Donnerstag hat Haushaltsstaatssekretär Wolf Heinrich Reuter die Staatssekretäre aller Häuser zu Kaffee und Kuchen ins BMF eingeladen. Diese Kaffeerunde ist so was wie der inoffizielle Auftakt zu den Haushaltsverhandlungen 2025. Zur Begrüßung wird Reuter seinen Gästen erklären, dass das Geld knapp und die Spielräume eng sind.

Der Haushalt hat die Ampel schon im vergangenen Jahr unter erheblichen Stress gesetzt. Und zwar schon lange bevor ihr das Bundesverfassungsgericht einen roten Strich durch ihre bisherigen Rechnungen machte. Danach – in den nächtlichen Sitzungen im Kanzleramt – geriet das Regierungsbündnis mehrfach an den Rand des Bruchs.Christian Lindner drohte damit, Olaf Scholz und Robert Habeck mussten zumindest die Möglichkeit erwägen, der FDP-Chef könne es ernst meinen. Das war für alle keine angenehme Erfahrung.

Hinzu kam, dass nach der Einigung einiges keinen Bestand hatte, dass Lindner plötzlich Geld fand, dass sich Kerosinsteuererhöhungen als unpraktikabel erwiesen, dass Kürzungen bei den Bauern nicht durchsetzbar waren – und nicht von allen Beteiligten gleichermaßen verteidigt wurden.

Kann das in den Verhandlungen um den Haushalt 2025 – unter verschärften Sparzwängen – gut gehen? Der nächste Haushalt ist für SPD, Grüne und Liberale der Schlüsseltest. Wie sortieren sich die Parteien dabei inhaltlich? Wären sie auch bereit für einen Wahlkampf? Und wie, sollte es zum Streit und nicht zu einer Einigung kommen, könnte der Pfad danach aussehen? Für den Kanzler, für die Ampel, für den Bundespräsidenten?

Die zeitlichen Zwänge

Für die bevorstehenden Haushaltsverhandlungen soll es erneut keine Eckpunkte geben, um nicht schon jetzt mögliche Bruchstellen kenntlich zu machen. Und der Haushalt soll – wie in normalen Zeiten üblich – Anfang Juni im Kabinett beschlossen werden, damit er noch vor der Sommerpause im Parlament ist.

Die Ampelparteien müssen deshalb längst für sich selbst und dann zusammen festlegen, wo sie sparen können und wo sie Geld locker machen möchten, um insbesondere der Wirtschaft neuen Schub zu geben. BMF und BMWK sind darüber schon jetzt in engen Gesprächen, bei Robert Habeck und Christian Lindner sei der Wille groß, wird aus beiden Häusern kolportiert. Wie das aber aussehen könnte, ohne die Bundeswehr erneut zu vernachlässigen und den Umbau zur CO2-Neutralität nicht zu gefährden, weiß aktuell niemand. Bekannt ist nur, dass die Grünen auf ein riesiges, schuldenfinanziertes Investitionsprogramm setzen und aus dem BMF dazu bis jetzt ein lautes Nein zu hören ist.

Die Alternativen

Bisher herrscht die Überzeugung vor, in der Koalition seien die Kräfte des Zusammenhalts größer als die Fliehkräfte. Alle drei Koalitionspartner haben in den Umfragen schwache Zustimmungswerte. Neuwahl-Überlegungen werden in der Regierung als „überflüssig“ bezeichnet. Klingt nach: Die Koalition könnte sich zusammenraufen und einen großen Wurf konzipieren, Bürokratie abbauen, die Wirtschaft fördern durch Steuersenkungen und Sondervermögen.

Wenn ihr dazu die Kraft fehlt oder der Wille, kann sie wie bis jetzt am Ende fast immer die „kleine Lösung“ suchen, die großen Streitfragen ausklammern und weiterwurschteln bis zur regulären Bundestagswahl. Immer vorausgesetzt, erschreckende und existenzbedrohende Wahlergebnisse zwischen Mai und September werfen nicht einen oder mehrere Koalitionspartner aus der Bahn.

Oder einer oder mehrere Partner kommen zu dem Schluss, es gehe im bestehenden Bündnis nicht weiter. Es bleibe nur der Bruch der Koalition. Doch was passiert dann?

Gefühlsleben: Wie die Parteien im Innern dastehen

Für SPD und Grüne geht es um die Frage, ob sie den Status einer potenziellen Kanzlerpartei halten können. Für die FDP geht es – mal wieder – um die parlamentarische Existenz. Sie steht vor der Entscheidung, welcher Weg die Freidemokraten verlässlicher in den Abgrund führt: Verbleib oder Austritt aus der Ampel?

Die Grünen sind in Umfragen verhältnismäßig stabil. Sie haben die Untergangsstimmung nach dem Verfassungsgerichtsurteil überwunden. Auf dem Karlsruher Parteitag im November hielt Vizekanzler Habeck eine Rede, die Ton und Thema für einen bevorstehenden Wahlkampf setzte. Deutschland wieder stark machen, stand quasi über der Rede – verbunden freilich mit der Überzeugung, dass das nur mit vielen Investitionsmilliarden möglich ist.

Die SPD hatte im Herbst sehr und immer mehr mit ihrem Kanzler gefremdelt. Scholz stellte das Funktionieren der Ampelregierung über die Bedürfnisse der eigenen Leute. Er wirkte fast desinteressiert an den Schmerzen seiner Partei. Dann kam der Parteitag Anfang Dezember – und eines wurde klar: Am Sozialen will Scholz nicht rütteln lassen. Das brachte auf dem Parteitag Beifall und seither eine Wiederannäherung, zusammen mit der Überzeugung, bei der Kriegsunterstützung maßvoll zu bleiben. Letzte Verschärfung: Seit Lindner das Moratorium für neue Sozialausgaben und Subventionen verkündet hat, kommt zur Überzeugung Zorn auf den Finanzminister.

Der FDP geht es anders, nicht nur, weil ihr der Parteitag erst noch bevorsteht. Sie hat bislang zwei Strategien versucht. In der großen Krise nach dem Kriegsaubsruch in der Ukraine blieb sie konstruktiv – und fiel in den Umfragen. Im zweiten Jahr der Ampel wollte sie die Rolle der Korrektorin einnehmen, wirkte dabei oft wie eine Blockiererin – und gewann nichts zurück in den Umfragen. Dazu kommt, dass sie mit der Union einen direkten politischen Konkurrenten hat, der fast in allen Fragen exakt die gleichen oder noch prononciertere Positionen vertritt.

Damit bleibt nicht viel außer einem sehr offensiven Versuch, für Deutschland zum Beispiel so etwas wie den Inflation Reduction Act in den USA vorzuschlagen, mit einem radikalen Verzicht auf Bürokratie und radikalen Steuervergünstigungen statt milliardenschwerer Subventionen. Als Idee ist das in einigen Köpfen, beschlossen ist nichts – und niemand kann sagen, ob das in der Ampel gut ankäme oder nur als finale Provokation verstanden würde.

Was muss bei einem Bruch abgewogen werden?

Für die FDP geht es bei Überlegungen über ein „Exit-Szenario“ um die Frage, ob man im Streit geht oder einen Konflikt sucht, der einen Rauswurf provoziert. Beides hat Vor- und Nachteile. Geht man selbst, ist man selbstbestimmt Herr der Lage, läuft aber Gefahr, als derjenige zu gelten, der aufgegeben hat („Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren. Auf Wiedersehen“). Provoziert man dagegen einen Rauswurf, ist man nicht derjenige, der kündigt – gibt aber dem Kanzler und den anderen die Möglichkeit, selbstbewusst So-Nicht-Mehr! zu rufen.

Die Grünen sind einerseits diejenigen, die mit ihren Veränderungswünschen die Koalition immer wieder besonders gefordert, auch herausgefordert hat. Das heißt, sie haben mit besonders viel Leidenschaft eigene Ziele formuliert. Zugleich sind die Grünen diejenigen, die seit dem Haushaltsurteil des Verfassungsgerichts noch schärfer definieren müssen, wie lange sich ein Mitmachen noch lohnt, wenn die Milliarden für die Transformation zu einer CO2-neutralen Wirtschaft dauerhaft ausbleiben.

Für sie ist diese Abwägung nicht zuende, sie steht im Zentrum aller Überlegungen. Außerdem haben sie einen Vorteil: Ihre Wählerschaft ist am stabilsten; von den drei Ampelparteien müssten sie aktuell Neuwahlen am wenigsten fürchten. Bislang freilich spricht wenig dafür, dass die Grünen einen Bruch selbst initiieren. Bei allem Verwänderungswunsch haben sie viele Kompromisse ertragen, weil sie bislang der Überzeugung folgen, dass Nichtregieren noch viel weniger bringt.

Und der Kanzler? Er hat das Heft in der Hand. Derzeit zeichnet sich nirgendwo ab, dass er mittels eines konstruktiven Misstrauensvotums nach Art. 67 GG gestürzt werden könnte. Und weil das so ist, könnte er auch als Kanzler einer Minderheitsregierung weitermachen. Exakt so, wie es Helmut Schmidt 1982 zunächst auch machte. Treu dem Motto: Ich werde meiner Verantwortung auch in der größten Krise gerecht. Allerdings gilt eine Minderheitsregierung in derart schwierigen Zeiten auf Dauer als sehr merkwürdig-instabiles Konstrukt.

Gegen Neuwahlen spricht aber auch, dass eine Wiederholung des Wolfgang Schmidt 'schen Olaf-Wunders – „am Ende, ihr werdet schon sehen, liegt er vorne“ – nur dann gelingen kann, wenn die Regierung bessere Zeiten erreicht, ökonomisch, außenpolitisch (und der Gegenkandidat Friedrich Merz heißt). Und wenn sie Zeit gewinnt. In dieser Phase einen schnellen Weg zu Neuwahlen zu suchen, beispielsweise über eine verlorene Vertrauenfrage, entspricht deshalb eigentlich nicht dem Naturell des Olaf Scholz.

Und doch steht da bewusst ein Eigentlich. Denn die SPD und ihr Kanzler überlegen natürlich, was kommt, wenn die Haushaltsverhandlungen wieder zum Streit werden und von Blockaden beherrscht würden. Längst hat mindestens die SPD erkannt, dass Scholz in dieser Situation nicht mehr als cooler Manager der Krise wahrgenommen wird, sondern als schwächelnder Regierungschef, der nichts auf die Reihe kriegt. Das will die SPD-Fraktion und alle Sozialdmeokraten um sie herum nicht noch einmal erleben.

Genau deshalb war der Beifall auf dem SPD-Parteitag groß, als Scholz im heikelsten Moment deutlich machte, auf was er keinesfalls verzichten will: die Sozialpolitik nach SPD-Vorstellungen und eine Unterstützung für die Ukraine, die dort ihre Grenzen hat, wo sie einen Krieg mit Putin heraufbeschwören könnte. Das ist bei anderen Parteien und in vielen Medien hochumstritten. Aber in der SPD ist das innerste Identität. Außerdem wird sie nicht müde zu erklären, dass zwar nicht die Hauptstadtblase, wohl aber die Bevölkerung das in weiten Teilen genauso sehe. Hört man hinein in die SPD, kann man schon das Gefühl bekommen: Sie wissen, was sie wollen, sollte es doch frühere Wahlen geben.

Was gegen und was für ein neues 2005 spricht

Scholz ist nicht Gerhard Schröder. Er hat nicht den Mut, nicht die Lust aufs Risiko, nicht die Chuzpe. Außerdem ist er traumatisiert von der Entscheidung, die Schröder damals traf, weil die SPD die Macht am Ende verlor. Allerdings hat er auch gesehen, wie knapp es am Ende wurde, weil der amtierende Kanzler die Herausforderin fast komplett entzaubert hatte. Und der Wahlkampf, der normalerweise neun Monate dauert, war in vieren erledigt.

SPD 2005 ist nicht SPD 2024. Schröder hatte seine Partei maximal gespalten, nicht nur über die Agenda 2010, und zwar so, dass eine eigene Konkurrenz längst im Rennen war und die Hälfte der Partei ihm nicht mehr folgen wollte. Das ist, bei allen großen Zweifeln an Scholz aktuell anders. Ihm ist es gelungen, die Partei wieder näher an sich zu holen. Zum einen mit seinem klaren Bekenntnis, das der Sozialstaat mit ihm auf keinen Fall beschnitten werde; zum anderen mit seiner Ukraine-Politik, die auch von großer Vorsicht geleitet ist. Sehr wahrscheinlich wäre die Geschlossenheit und die Mobilisierungsfähigkeit von Scholz und seiner SPD so schlecht nicht.

Wie genau sehen die juristischen Möglichkeiten aus?

Wenn die Koalition sich zerlegt – beispielsweise über die Haushaltsfragen – gibt es keinen Automatismus, der nach dem Verlust der Regierungsmehrheit zu Neuwahlen führt. Olaf Scholz könnte mit einer rot-grünen Minderheitskoalition weiterregieren.

Die FDP wäre Opposition, die vier FDP-Ressorts würden zwischen SPD und den Grünen aufgeteilt. Anton Hofreiter könnte – wenn er es sich nicht mit allen verdorben hätte – doch noch Verkehrsminister werden. Gesetze könnten zwar nur mit Stimmen der Opposition beschlossen werden. Dafür würde es bei Rot-Grün mutmaßlich harmonischer zugehen als in der Ampel.

Das Bundesverfassungsgericht hat 2005 in seiner Entscheidung zur Vertrauensfrage von Gerhard Schröder geurteilt, „von Verfassungs wegen ist der Bundeskanzler in einer Situation der zweifelhaften Mehrheit im Bundestag weder zum Rücktritt verpflichtet noch zu Maßnahmen, mit denen der politische Dissens in der die Regierung tragenden Mehrheit im Parlament offenbar würde.“

Allerdings stünde eine rot-grüne Minderheitsregierung immer noch ohne Bundeshaushalt für 2025 da. Ein ganzes Jahr mit vorläufiger Haushaltsführung weiterzuregieren (wie in den vergangenen Wochen) ist theoretisch möglich, praktisch unwahrscheinlich. Es käme zwar zu keinen Shutdown, aber sämtliche Zuwendungs- und Subventionsempänger würden zunehmend nervös. Die Stimmung verschlechtert sich weiter. Scholz müsste auf Merz zugehen, und Deals schließen. Das liefe faktisch auf eine informelle Große Koalition hinaus, die wiederum den Grünen nicht schmecken würde.

Um eine solche Hängepartie zu beenden, kann der Bundeskanzler nach Art. 68 GG die Vertrauensfrage stellen. Wenn das Vertrauen nicht ausgesprochen wird, kann er den Bundespräsidenten um Auflösung des Bundestages bitten. Anders als Helmut Kohl 1982 und Gerhard Schröder 2005 müsste Scholz keine „unechte Vertrauensfrage“ stellen – das heißt: Er müsste nicht die eigenen Leute zur Enthaltung auffordern, um die Mehrheit zu verfehlen. Auch wenn ihm alle roten und grünen Abgeordneten das Vertrauen aussprächen, hätte er keine Mehrheit mehr.

Frank-Walter Steinmeier kann dann „binnen einundzwanzig Tagen“ den Bundestag auflösen. Dann fände „die Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen statt.“ (Art. 39 GG). Er dürfte aber vor seiner Entscheidung und vermutlich schon vor einer sich abzeichnenden Vertrauensfrage mit Kanzler, Partei- und Fraktionsvorsitzenden erörtert haben, ob ohne Neuwahlen tatsächlich keine Mehrheit mehr gebildet werden kann. Ob im dritten Jahr des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und vor der Wahl des US-Präsidenten mit all den damit verbundenen Herausforderungen das größte Land der EU für Monate vor allem mit sich selbst beschäftigt sein sollte.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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