Der Druck war zu groß. Der Druck der Niederlagen, der Druck des miserablen Bundestrends in den Umfragen. Und der Druck von Annalena Baerbock und Robert Habeck. Diese sich selbst verstärkende Mischung hat Ricarda Lang und Omid Nouripour in den letzten 24 Stunden zu der Überzeugung gebracht, dass sie zum Schutze der Partei zurücktreten sollten. Immer lauter war intern die Kritik an der Parteizentrale angeschwollen. Am Montag hatte es in einer großen Realo-Schalte offene Kritik an Nouripour gegeben. Ähnliches widerfuhr Lang bei einem Linken-Treffen. Beginnend mit den Europawahlen und gipfelnd in der Brandenburg-Niederlage zeigten immer mehr Kabinettsmitglieder und Landesverbände auf die Berliner Parteispitze und Bundesgeschäftsführerin Emily Büning. Zu wenig präsent in den Wahlkämpfen, dazu unglückliche öffentliche Auftritte, das zog immer Kritik an. Ausgerechnet die durchaus beliebten Lang und Nouripour haben daraus ihre Konsequenz gezogen.
Dabei wissen alle, dass die Krise der Partei deutlich mehr Eltern hat: Habeck und Baerbock, die jeweils und im Umgang miteinander Fehler machten; die Fraktion, die zwischen Hoffnung und Frust schwer schwankt und den Regierungsmitgliedern oft das Leben schwer macht. Und es gilt in einzelnen Fällen auch für Landesverbände, die wie in Thüringen schon vor der Wahl im Streit auseinanderfielen. Hinzu kommt aber, dass die Grünen an der Spitze in einer zentralen Frage uneins waren: In der Frage, ob man die Koalition verlassen sollte. Ein Teil (eher in der Regierung) plädierte im Hochstreit um den Haushalt im Sommer dafür, während andere das damals noch ablehnten. In den letzten Tagen war es dann andersherum. Der regierungsnahe Teil war gegen ein Ende der Koalition, weil anders als beim Streit um den Haushalt im Sommer jetzt keine plausible Begründung dafür erkennbar war. Auch die zu Beginn der Legislatur stolz gegründete Sechserrunde war nicht mehr in der Lage, in derart wichtigen Fragen strategische Geschlossenheit herzustellen.
Was zum wichtigsten Grund für den Bruch führt: die Aufstellung für den Wahlkampf. Seit bekannt wurde, dass Franziska Brantner, Reala und Staatssekretärin im BMWK, für Habeck den Wahlkampf organisieren soll, brach ein Kampf um Macht und Vorherrschaft aus. Die Parteizentrale fühlte sich übergangen – und begann, um ihre Rolle zu kämpfen. Die Verhältnisse verhärteten sich so, dass auch kluge Kritik an den jüngsten Wahlkämpfen als Frontalangriff gewertet wurde. Hinter den Kulissen begann ein Ringen, mit SMSen und Attacken. Bis Brantner nach Informationen von Table.Briefings intern offenbar klarmachte, dass sie die Rolle als Wahlkampfchefin nur übernehmen werde, wenn sie dafür auch „maximale Autorität“ erhalte. Was im Umfeld der Parteispitze als offener Angriff gewertet wurde. Habeck soll die Forderung gleichwohl unterstützt und dabei auch Baerbock eingebunden haben. Frühzeitig informiert war außerdem die Wirtschaftsministerin in NRW, Mona Neubaur. Sie wird zum engeren Kreis um Habeck gezählt.
Mit dem Bruch soll sich jetzt der große Neustart verbinden. Noch immer verfolgen Habeck und seine Leute den Plan (und die Hoffnung), im September 2025 um Platz eins zu kämpfen. In diesem Herbst will Habeck seine Kanzlerkandidatur verkünden. In seiner Kampagne will er auf Optimismus setzen, der „Harris-Moment“ soll auch für die Grünen kommen. Die öffentliche Aussöhnung mit Baerbock soll dabei Erinnerungen an die Gute-Laune-Partei wecken, die die Grünen in den Jahren 2018 bis 2020 mal waren. Der Rücktritt des Vorstands ist exakt jener scharfe Schnitt, mit dem Habeck die Hoffnung auf einen „kraftvollen Neuanfang“ verbindet, wie er am Mittwoch sagte.
Ein Selbstläufer aber wird das nicht – im Gegenteil. Die Gefahr besteht, dass sich Linke und Realos nun um Kurs und Personal streiten. Einige finden schon jetzt, dass die Falschen Verantwortung übernehmen müssen. Außerdem zeigt das Beispiel SPD, dass es noch lange nicht reicht, einfach mal die Vorsitzenden auszuwechseln. Weitere Baustellen kommen dazu. Habeck muss die Partei hinter sich versammeln und gleichzeitig hinreichend Beinfreiheit bekommen. „Ich möchte auf dem Parteitag eine offene Debatte zu einer möglichen Kandidatur und ein ehrliches Votum in geheimer Wahl“, sagte Habeck. Das Treffen im November werde der Ort, an dem sich „die Grünen neu sortieren und neu aufstellen werden, um mit neuer Kraft die Aufholjagd zur Bundestagswahl zu beginnen“. Auch programmatisch muss die Partei nachjustieren. Habeck will Wähler aus dem bürgerlichen Spektrum für sich gewinnen, denen Friedrich Merz zu konservativ ist. Das würde aber Zugeständnisse in schmerzhaften Fragen bedeuten, etwa in der Migrationspolitik. Immerhin: Vorarbeiten am Wahlprogramm laufen bereits.
Und wer folgt Lang und Nouripour nach? Intern kursieren bereits Namen für den Neuanfang. Neben der wahrscheinlich gesetzten Brantner sind das der Bundestagsabgeordnete aus NRW, Felix Banaszak, und der auch dem linken Flügel angehörende Fraktions-Vizechef Andreas Audretsch, der seinen Wahlkreis in Berlin hat. Als stellvertretender Vorsitzender will angeblich Jan-Denis Wulff, Polizist, Arbeiterkind und Sohn eines türkischen Einwanderers, bei der Bundesdelegiertenkonferenz antreten. Eine Nachzeichnung des Tages und der Stimmung bei den Grünen lesen Sie in der Analyse.
Auch im Podcast analysieren wir die Lage der Grünen nach dem Rückzug der Parteiführung. Den Podcast hören Sie ab 6 Uhr hier.