Benjamin Netanjahu und sein Verteidigungsminister Yoav Gallant müssen eventuell mit Haftbefehlen rechnen und Deutschlands Ampel-Regierung schon jetzt mit einer heiklen Situation: Einerseits ist die Unabhängigkeit der internationalen Strafjustiz einer der Kernpfeiler deutscher Außenpolitik. Das macht Kritik an IStGH-Entscheidungen schwierig. Andererseits ist Israels Sicherheit deutsche Staatsräson, was Berlin wiederum ein besonderes Eintreten für die Belange des jüdischen Staates abverlangt.
Das Auswärtige Amt ging vorsichtig auf Distanz zum IStGH-Antrag: „ Durch die gleichzeitige Beantragung der Haftbefehle gegen die Hamas-Führer auf der einen und die beiden israelischen Amtsträger auf der anderen Seite ist der unzutreffende Eindruck einer Gleichsetzung entstanden“, sagte ein AA-Sprecher. Doch werde das Gericht „sehr unterschiedliche Sachverhalte zu bewerten haben“. Eine klare Zurückweisung des Antrags auf Haftbefehl gegen Netanjahu war das nicht.
Mit dem Antrag des Chefanklägers Karim Khan muss sich zunächst die Vorverfahrenskammer des Gerichtshofs befassen. Eine Entscheidung, ob die Haftbefehle erlassen werden, fällt nach Einschätzung von Beobachtern in vier bis sechs Wochen. Doch das Zeug zu einem neuen Berliner Krach hat das Thema schon jetzt. Die außenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Deborah Düring, sagte Table.Briefings: „Deutschland ist ein entschiedener Unterstützer des Internationalen Strafgerichtshofs und respektiert seine Unabhängigkeit und Verfahrensabläufe. Der Gerichtshof wird nun über die beantragten Haftbefehle beraten und entscheiden.“ Dagegen sprach der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth (SPD) auf der Onlineplattform X von einem „schwarzen Tag für das Völkerrecht!“ Der Chefankläger des IStGH „mache sich zum Büttel derjenigen, die skrupellos eine Gleichsetzung des Hamas-Terrors mit dem Verteidigungsrecht des attackierten Staates vornehmen“.
Eine Sorge, die der Völkerrechtler Kai Ambos nicht teilt. Auch die vom AA geäußerte Kritik, dass durch das gemeinsame Vorgehen gegen Netanjahu und Gallant sowie die Hamas-Anführer der „unzutreffende Eindruck einer Gleichsetzung“ entstanden sei, hält er für falsch. „Wenn ein Staatsanwalt genug Beweise beisammen hat, muss er sich überlegen, ob er die entsprechenden Anträge stellt“, sagte er Table.Briefings. Aus Ambos‘ Sicht hätte es keinen Unterschied gemacht, hätte Khan noch zwei Wochen gewartet.
Israels Regierungschef Netanjahu bezeichnete Khan als einen „der großen Antisemiten der Moderne“. Khan gieße „hartherzig Öl in die Feuer des Antisemitismus, die auf der ganzen Welt wüten“ und stehe „nun Seite an Seite mit jenen berüchtigten deutschen Richtern, die ihre Roben anzogen und für Gesetze eintraten, die dem jüdischen Volk die elementarsten Rechte verweigerten und es den Nazis ermöglichten, das schlimmste Verbrechen der Geschichte zu begehen“.
Auch die US-Regierung kritisierte Khan in scharfem Ton. US-Präsident Joe Biden nannte das Vorgehen des IStGH-Chefanklägers gegen Israel „empörend“ : Israel und die militant-islamistische Hamas dürften nicht gleichgestellt werden.
Zum ersten Mal seit dem Terrorüberfall der Hamas auf Israel geht die Bundesregierung damit auf leichte Distanz zum Israel-Kurs der USA. Diese haben das Römische Statut, das die Rechtsgrundlage für den IStGH bildet, ebenso wie Israel nicht unterzeichnet. Die Zuständigkeit des Gerichts ergibt sich jedoch daraus, dass der Ort der angeklagten Taten innerhalb eines Vertragsstaates liegt. Obwohl die palästinensischen Gebiete nicht allgemein als Staat anerkannt sind, hat der Strafgerichtshof „für die Zwecke des IStGH-Statuts den staatlichen Charakter Palästinas anerkannt“, so der Völkerrechtler Ambos. Palästina ist dem Römischen Statut 2015 beigetreten, ohne dass es aus der Versammlung der 124 Vertragsstaaten Protest gegeben hätte. Damit ist das Gericht auch für mutmaßliche Verbrechen zuständig, die dort begangen wurden.