Bei aller Schläue und Intelligenz, aller Cleverness und allem Gespür für den richtigen Augenblick (Merkel widmet dem viele Zeilen) hat Angela Merkel auch riesiges Glück gehabt. Und das vor allem an dem für sie womöglich wichtigsten Abend: der Wahlnacht 2005. Merkel schildert, wie sie mit Gerhard Schröder im Fernsehstudio sitzt und der Noch-Kanzler sie anblaffe, seine SPD werde niemals mit ihr zusammengehen. Merkel erzählt, wie sie sich dabei fühlt. Aber sie lässt weg, dass ihr ausgerechnet dieser Auftritt politisch das Überleben sichert. Denn erst danach begreifen alle Christdemokraten, die nach dem Fast-Absturz bei der Wahl über einen Sturz von Merkel nachdenken, dass sich eine CDU so etwas niemals gefallen lassen dürfe. Roland Koch ist der erste, die anderen folgen schnell – und am Ende der Nacht sind alle Gedanken, Merkel abzulösen, Geschichte. Merkels Beschreibung unmittelbar nach der Begegnung, als sie auf ihre engsten Mitstreiterinnen Eva Christiansen und Beate Baumann trifft: „Wir schauten uns in die Augen, sagten nichts, sondern versuchten so schnell wie möglich zum Auto zu kommen und einzusteigen. Dort platzt es aus uns heraus: Unfassbar! Einfach unfassbar!“ In der Tat: Ausgerechnet Schröder hat ihre Kanzlerschaft erst möglich gemacht. Hätte er an diesem Abend erklärt, dass sie beide die Wahl verloren hätten und deshalb den Weg freimachen müssten, wäre es für Merkel ungleich schwerer geworden, auch nur diese erste Nacht politisch zu überleben.
Schaut man ins Namensregister, dann taucht der Name Wladimir Putin gleich zwanzigmal auf. Er schlägt damit jemanden wie Friedrich Merz um Längen. Und das hat womöglich noch am wenigsten damit zu tun, dass Putin Merkel bei ihrem Besuch in Sotschi 2007 quälte, indem er seinen Labrador vor sie setzte. Merkel erzählt, wie sie sich selbst disziplinierte: „Bleib ruhig, konzentrier' dich auf die Fotografen, es wird vorübergehen.“ Nicht vorüber ging aber der immer heiklere Umgang mit dem russischen Präsidenten. Merkel erzählt, wie sie ihn auf der Münchner Sicherheitskonferenz im selben Jahr erlebt: „Als jemanden, der immer auf der Hut war, bloß nicht schlecht behandelt zu werden, und jederzeit bereit, auszuteilen, Machtspiele mit Hund und Andere-auf-sich-warten-lassen inklusive. Das alles konnte man kindisch, verwerflich finden, man konnte den Kopf darüber schütteln. Aber damit verschwand Russland nicht von der Landkarte.“
Für sie war das sehr früh in ihrer Amtszeit wahrscheinlich die Begründung dafür, trotz aller Aggressionen Verständigungen mit Putin zu suchen. Dazu gehört auch, wie sie ihre Ablehnung begründet, der Ukraine und Georgien auf dem Nato-Gipfel in Bukarest den Status fester Beitrittskandidaten zu geben. „Ich hielt es für eine Illusion anzunehmen, dass der MAP-Status der Ukraine und Georgien Schutz vor Putins Aggression gegeben hätte, dass also dieser Status so abschreckend gewirkt hätte, dass Putin die Entwicklungen tatenlos hingenommen hätte.“ Ihr Resümee: Putin hätte die Lage genutzt, um vor dem Beitritt anzugreifen – und die Nato, auch Deutschland, wären nicht zu einer Antwort in der Lage gewesen.
Auf die Flüchtlingskrise geht die Altkanzlerin ausführlich ein. Nicht selbstkritisch, eher sich verteidigend. Dabei räumt sie ein, dass sie in jenem Sommer 2015 - die Schuldenkrise um Griechenland – ist gerade einigermaßen überwunden – eigentlich keine Lust hat auf schon wieder eine Großbaustelle. Besonders erstaunt und entsetzt ist sie dann über die Wahrnehmung und Interpretation ihres Satzes: Wir schaffen das. Sie schildert, wie Beate Baumann ihr genau dafür den Tipp gegeben hatte. Und wie sie ihn am 31. August 2015 gemeint hat: „Wenn ich diese Botschaft rüberbringe, kann ich Mut machen und zugleich zeigen, dass ich mir der Größe der Aufgabe bewusst bin.“ So war ihre Hoffnung, ihre Motivation. Und was passierte? Ihre Gegner nicht nur bei der plötzlich wieder erstarkenden AfD machten daraus ein: „Stellt Euch nicht so an.“ Was Merkel als absichtliches Missverstehen interpretierte – was sich nur wenige Tage später nochmal wiederholte. Gefragt, ob sie durch freundliche Selfies mit Flüchtlingen nicht selber weitere Flüchtlinge anlocken könnte, sagte sie auf einer Pressekonferenz: „Wenn wir jetzt noch anfangen müssen, uns dafür zu entschuldigen, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht machen, dann ist das nicht mein Land.“ Es dauerte nicht lange und die Welt schrieb, Merkel habe sich für einen Moment von jener Republik distanziert, der sie eigentlich doch dienen solle. Das hat Merkel verletzt, auch wenn sie es in ihrer Autobiografie nicht zugibt.
Es gibt nicht viele Stellen in der Biografie, an denen Merkel wirklich persönlich wird. Beim Blick auf ihre Herkunft und ihre Lebensjahrzehnte in der DDR aber ist das so. Spürbar ärgert sie, wie verschlossen und vielleicht auch selbstbesoffen der Westen mit seinem Blick auf die DDR war. Merkel drückt das höflich aus. Zwischen den Zeilen aber wird sehr deutlich, was sie meint. „Ich machte die Erfahrung, dass es schwieriger war, als ich es 1990 erwartet hätte, gegenüber der westdeutschen Öffentlichkeit freimütig über das eigene Leben in der DDR zu sprechen.“ Sie spricht sogar von „einer Schere im Kopf“, die sie viele Jahre gebremst habe, offen darüber zu sprechen. Ihre Sorge: dass manches zu irgendwelchen Verdächtigungen hätte führen können. Ihre Erfahrung: „dass meine DDR-Biografie gegen mich in Stellung gebracht wurde“. Für Merkel'sche Verhältnisse ist das alles ein Beleg dafür, wie sehr sie das insgeheim geschmerzt haben dürfte.
Stuttgart, Parteitag, im Jahr 2008, mittendrin in der Weltfinanzkrise. Und Angela Merkel steht nach drei Jahren großer Koalition ganz erheblich unter Druck, ihre Politik gut zu begründen. Und was tut sie: Sie leiht sich in ihrer Rede das Bild von der schwäbischen Hausfrau, verbunden mit dem Attribut: sparsam und redlich. Als Gegenstück zu: verschwenderisch und auf Kosten anderer. Es ist ihr, so würde sie das heute wahrscheinlich sagen, in einer eher spontanen Eingebung rausgerutscht. In der Biografie schreibt sie, dass sie es heute, im Rückblick, „ebenso provinziell wie wohlfeil“ empfinde. Damals wollte sie eine solide, sparsame Haushaltspolitik begründen; heute weiß sie, dass man ein Land vielleicht doch ein bisschen anders organisieren muss als einen schwäbischen Haushalt.
Eher amüsant und politisch nicht von großer Bedeutung war der Moment, den Fotografen von ihr und George W. Bush 2006 beim G 8-Gipfel in St. Petersburg festhielten: die Schulterattackenmassage des damaligen US-Präsidenten. „Mit allem habe ich in der Sekunde gerechnet, nur nicht damit.“ Erschrocken habe sie ihre Arme hochgerissen. Erst als sie gemerkt hatte, dass es der Amerikaner gewesen sei, habe sie lachen müssen. Der Gedanke, dass das ein sexueller Übergriff gewesen sein könnte, sei ihr nie gekommen. Mit Bush sei sie schlicht befreundet gewesen. Ärgerlicher sei da im Vergleich etwas anderes gewesen: Dass Wladimir Putin ein Jahr später in Heiligendamm alle habe warten lassen. Und zwar 45 Minuten lang! Sie als Gastgeberin fand das unerträglich. Und dann kam auch noch seine Begründung. Russlands Präsident erklärte ihr lächelnd, er sei quasi an dem Kasten Bier auf seinem Zimmer hängen geblieben. Merkel hatte ihm eine Kiste Radeberger zur Begrüßung ins Zimmer stellen lassen; eine Sorte, die er aus seiner KGB-Zeit in Dresden kannte. „Das hatte ich nun von meiner Freundlichkeit.“