Der gesetzliche Auftrag ist eigentlich klar: Seit Deutschland 2009 der UN-Konvention zu den Rechten von Menschen mit Behinderung beigetreten ist, müssten die politischen Akteure alles tun, um Inklusion in Schulen und im Arbeitsleben voranzutreiben. Doch wer 15 Jahre später Bilanz zieht, stellt fest: Es ist nicht besser, sondern schlechter geworden. Zum Teil aus finanziellen Gründen, etwa, weil Leiter von Werkstätten für Behinderte ein Interesse am Bestand ihrer Einrichtung haben, da sie selbst damit gut verdienen.
Zum Teil aber auch, weil der Staat Anreize setzt, die dem Ziel entgegenwirken. So sind Beschäftigte in diesen Werkstatten bessergestellt als Arbeitnehmer mit Mindestlohn (siehe Grafik). Sie erhalten außerdem eine um 60 Prozent höhere Altersversorgung als Arbeitnehmer mit Mindestlohn. Hinzu kommt, dass Eltern den lebenslangen Anspruch auf Kindergeld verlieren, sobald ihr „Kind” die Werkstatt verlässt.
„Wir erleben ein Rollback bei der Inklusion“, sagt Hubert Hüppe. Der CDU-Bundestagsabgeordnete und frühere Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, sagte Table.Briefings: „Es arbeiten heute mehr Menschen in Sonderwerkstätten als vor der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009.“
Die Vergleichszahlen für Beschäftigte in und außerhalb von Sonderwerkstätten hat die Bundesarbeitsgemeinschaft für Werkstätten (BAG WfbM) veröffentlicht. Der gesetzliche Auftrag der Werkstätten lautet, Menschen in den Arbeitsmarkt zu bringen, so Hüppe. Dass nur 0,3 Prozent den Sprung schaffen, liege neben den fehlenden finanziellen Anreizen daran, dass die Werkstätten gute Leute nicht ziehen lassen, sondern halten wollten: „Sie bringen für die Einrichtung den größten Gewinn.“ Es gehe um viel Geld. „Werkstatt-Leiter dürfen mit sechsstelligen Jahresgehältern rechnen.“
Die Aussonderung beginnt laut Hüppe vor der Schule und hört dann nicht mehr auf. Als Vater eines schwerbehinderten Sohns weiß der Politiker, wovon er spricht. Überall würden neue Förderschulen gebaut. „Der inklusive Unterricht wird ausgehungert.“ In Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz besuchten heute mehr gehandicapte Kinder Spezialschulen als vor 2009.
Auch der Bund bremse bei der Inklusion. So muss der Ausbilder eines Betriebs, der einen lernbehinderten Jugendlichen ausbilden möchte, sich zuvor 320 Stunden in Didaktik, Recht und Medizin fortbilden – auf eigene Kosten. „Gerade hat die Ampel-Regierung auf Anfrage ausdrücklich bestätigt, dass sie daran nichts ändern will.“
Als Beispiel dafür, wie Integration gelingen kann, führt Hüppe Südtirol an. Dort wurden Ende der siebziger Jahre quasi über Nacht alle Sonderklassen abgeschafft, seitdem lernen alle Kinder gemeinsam. Das Ergebnis, laut Hüppe: Es funktioniert. Warum das so ist, lesen Sie im Interview.