Analyse
Erscheinungsdatum: 19. Juli 2023

Kriminologin Thaya Vester: „Alle waren sich einig, dass es so nicht weiter gehen kann"

Vester-Portraet

Seit Jahren untersucht die Tübinger Kriminologin Thaya Vester die Ursache für die zunehmende Gewalt auf deutschen Fußballplätzen. Im Interview spricht sie über Spielabbrüche, die Scheu der Schiedsrichter vor Anzeigen, Versäumnisse der Verbände und vollmundige Ankündigungen von Politikern, denen zu selten Taten folgen.

Frau Vester, was ist los auf unseren Fußballplätzen? Rekordzahlen an Spielabbrüchen, in Frankfurt wird ein 15-Jähriger auf dem Platz erschlagen. Was spielt sich da ab?

Es ist derzeit einiges in Aufruhr. In der Vergangenheit gab es saisonal betrachtet wiederkehrend die meiste Gewalt im Spätherbst, diese Saison war aber zusätzlich auch hinten raus, zum Ende der Saison, die Hölle los. In der Saison 2021/2022 wurden 911 gewaltbedingte Spielabbrüche gemeldet, so viele wie noch nie. Aller Voraussicht nach werden wir uns in der gerade abgelaufenen Saison auf einem ähnlichen Niveau bewegen.

Woher kommt das?

Gewalt im Fußball ist kein gänzlich neues Phänomen, inzwischen wird aber mehr hingeschaut. Zugleich hat sich das Klima auf den Plätzen die letzten Jahre schleichend verschlechtert. Dass wir uns derzeit in sehr unruhigen Zeiten befinden, scheint das Ganze zusätzlich zu befeuern. Parallel wird dieser Entwicklung aber auch zu wenig entgegengesetzt. Man könnte auch sagen: Es ist zugelassen worden.

Reagiert die Politik angemessen?

Es ist schon erstaunlich, wie groß Bestürzung und Beileid unmittelbar nach dem Gewaltakt in Frankfurt waren. Ähnliche Reaktionen gab es auch im Spätherbst 2019, als mehrere brutale Übergriffe gegen Schiedsrichter publik wurden. Die Innenminister sprachen darüber, die Sportministerkonferenz, die Ministerpräsidenten – und was ist daraus geworden? Seitens der Politik kam seitdem kaum Sichtbares, außer dem Vorzeigeprojekt „Verein(t) gegen Rassismus“. Das ist ein gutes Projekt, umfasst aber nur vier Pilotstandorte und Thema ist nur der Rassismus, nicht aber die Gewalt als solche.

Warum werden Spiele typischerweise abgebrochen?

Der Schiedsrichter bricht ab, wenn gar nichts anderes mehr geht. In 40 Prozent der Fälle, weil sich der Schiedsrichter selbst in Gefahr sieht, in 18 Prozent sind es andere Personen, in zwölf Prozent sind der Schiedsrichter und andere bedroht. Erstaunlich hoch ist mit 16 Prozent die Zahl der Fälle, in denen sich eine Mannschaft weigert, weiter zu spielen. Da geht es dann meistens um Diskriminierung. Die Mannschaft solidarisiert sich mit einem ihrer Spieler – und geht vom Feld.

Gibt es Unterschiede zwischen dem Aktiv-, Jugend- und Frauenbereich?

Im Frauenbereich sind Abbrüche extrem selten. Bei der Jugend waren es lange nur vereinzelte Meldungen. Das hat sich aber verändert, inzwischen gibt es auch vermehrt Meldungen aus der C-Jugend oder gar der D-Jugend.

Welche Spielklassen sind besonders betroffen?

Da haben wir keine spezifischen Erkenntnisse, weil die Landesverbände diesbezüglich unterschiedliche Aufteilungen haben und somit keine vergleichbaren Daten liefern. Es gibt aber die klare Tendenz: Je höher die Spielklasse, desto weniger Abbrüche; je professioneller, desto weniger Ärger. Die meisten Vorkommnisse haben wir in den untersten Ligen. Einerseits sind dort die Schiedsrichterleistungen fehleranfälliger, andererseits haben die Mannschaften dort nicht viel zu verlieren.

Eine sonderbare Kausalität….

Aber empirisch ist es so. Auffällig ist auch, dass die Zahl signifikant abnimmt, sobald ein Schiedsrichtergespann im Einsatz ist. Es ist allerdings verständlich: Der Unparteiische weiß, er ist nicht mehr allein, hat automatisch mehr Autorität, weil er flankiert wird, und es gibt weniger Diskussionen.

Werden also manche Vorfälle gar nicht erfasst?

Schwer zu sagen. Natürlich gibt es ein Dunkelfeld. Hinzu kommt, dass die Daten den Landesverbänden gehören. Verbände mit einer sauberen Dokumentation machen sich angreifbarer. Das erklärt eine gewisse Zurückhaltung – und eine Datenbasis, die Schwächen hat.

Gibt es regionale Auffälligkeiten?

Höchstens Parallelen zur sonstigen Kriminalität. Es gibt in der Stadt mehr Vorkommnisse als auf dem Land. Das lässt sich teilweise darauf zurückführen, dass mit zunehmender Anonymität die soziale Kontrolle schwindet. Man geht anders miteinander um, wenn man sich kennt. Sie haben auf dem Land andere soziale Strukturen. Zugleich lebt in den Städten aber auch ein anderes Klientel.

Was ist ein ‚anderes Klientel ?

In Großstädten ist die Bevölkerung jünger, teilweise männlicher, migrantischer. Ein Migrationsbezug ist bei gewaltbedingten Abbrüchen überdurchschnittlich häufig zu beobachten – sowohl auf Täter- als auch auf Opferseite.

Was erwarten Sie von der Politik?

Es ist schwierig, keine Frage. Zunächst mal erwarte ich ein Bekenntnis, dass es eine gemeinsame Verantwortung von Gesellschaft, Verbänden und Vereinen gibt. Ich erhoffe mir, dass man sich dem Thema ernsthaft widmet – und nicht immer nur darüber spricht. Und dann vollmundige Ankündigungen gemacht werden, denen keine Taten folgen. Es bräuchte ein Bekenntnis, dass wir diese Herausforderung, wenn der Fußball nicht allein damit klarkommt, als Gemeinschaftsaufgabe annehmen. Um das Problem an der Wurzel zu packen, muss die öffentliche Hand intensiver mit dem Fußball zusammenarbeiten – und dann auch eingreifen, wenn es aus dem Ruder läuft.

Wäre es nicht auch Sache der Sportgerichte?

Einerseits ja. Aber man darf nicht vergessen, dass die Sportgerichte von Ehrenamtlichen getragen werden. Wenn die Schiedsrichter wirklich jede Beleidigung melden würden, wäre das durch die derzeitigen Strukturen nicht zu bewältigen. Daher wären da auch ergänzend die staatlichen Instanzen gefragt. Es bräuchte eine bessere finanzielle Unterstützung, die Anlaufstellen, die es ja gibt, müssten besser ausgestattet werden. Die „Verein(t)-gegen-Rassismus“-Förderung des BMI ist ein Anfang, das hilft momentan aber nur den Pilotstandorten weiter. Es gab 2019 viele Ankündigungen, aber seither ist so gut wie nichts sichtbar, dass in diese Richtung maßgeblich etwas passiert wäre.

Was haben die Politiker versprochen?

Eine ganze Menge. Bundesinnenminister Horst Seehofer erklärte, man dulde ‚keine Gewalt bei Fußballspielen, weder unter den Fans noch gegenüber den Unparteiischen’. Boris Pistorius, damals Innenminister von Niedersachsen, kündigte ein bundesweites Lagebild an. Die Landes-Sportminister wollten härtere Strafen für Täter – und alle waren sich einig, dass es so nicht weiter gehen kann.

Und was wurde daraus?

Dann kam Corona, der Spielbetrieb wurde eingestellt – und die Gewaltprävention ist damit vollkommen in den Hintergrund gerückt.

Sollte sich der Bundesjustizminister einschalten?

Vor Corona haben sich mehrere Generalstaatsanwaltschaften schon mit dem Thema Gewalt im Fußball beschäftigt. Ja, der Justizminister sollte das auch tun. Wenn es Prügeleien gibt oder Schiedsrichter attackiert werden, berufen sich Angeklagte ja inzwischen darauf, wie in Lemgo geschehen, das sei normal auf den Sportplätzen.

Wie bitte?

Ja, umso wichtiger wäre es, dass sowohl Sport- als auch Strafgerichte solche Vorkommnisse spürbar sanktionieren, um den Fehlentwicklungen der letzten Jahre etwas entgegenzusetzen. In Lemgo gab es auch entsprechende Urteile.

Würden härtere Strafen helfen?

Aus der Kriminologie wissen wir, dass härtere Strafen selten etwas bringen. Entscheidend sind immer die Schnelligkeit der Reaktion und das Entdeckungsrisiko.

Härtere Strafen bringen gar nichts?

Vielleicht muss man anfangs ein Exempel statuieren. So dass allen klar wird, es werden keine Vorkommnisse mehr geduldet. Vor allem aber braucht es insgesamt eine klare, konsequente Linie.

Ist der Fußballplatz ein Spiegel der Gesellschaft?

Man kann den Fußball nie losgelöst sehen. Die Spieler und Zuschauer kommen ja aus der Gesellschaft. Ich würde es eher als ein Kondensat als einen Spiegel der Gesellschaft sehen. Auf dem Fußballplatz kommen Menschen verschiedenster Herkünfte zusammen. Da geht es anders zu als in homogenen Gemeinschaften. Darum haben wir hier auch andere Phänomene als etwa beim Handball oder Volleyball.

Wer müsste eingreifen?

Wir müssen das insgesamt aufbrechen, das ist nicht die Aufgabe Einzelner. Die schlechte Stimmung, die auf den Plätzen teils herrscht, kommt durch einen schleichenden Prozess zustande: Schiedsrichter ignorieren oder schlucken Beleidigungen der Zuschauer, in der Folge gibt es darauf logischerweise auch keine sportrechtliche Reaktion. Jetzt kann man es sich leicht machen und die Verantwortung auf die Unparteiischen abwälzen. Aber die Frage ist doch: Warum melden die Schiedsrichter nicht mehr dieser Vorfälle? Weil es aus ihrer Sicht keine Folgen hat. Wir haben hier eindeutig eine Fehlentwicklung. Deshalb bräuchte es einen klaren Cut.

Warum nehmen Sie den DFB nicht in die Pflicht?

Der DFB hatte im Januar 2020 die unmissverständliche Direktive ausgegeben: Wir wollen Dinge wie Rudelbildung oder unbeherrschte Trainer nicht mehr hinnehmen. Das wurde dann durch Corona durchkreuzt – es gab die Geisterspiele ohne Zuschauer, bei denen man jedes Wort der Trainer und Spieler verstanden hat.

Und nach Corona?

War alles wieder wie vorher. Es wurde schon versucht, das Ganze wieder aufzugreifen....

Aber?

Es hat sich nicht wirklich etwas geändert. Auch im Profibereich waren in dieser Rückrunde eine Vielzahl von Unsportlichkeiten zu beobachten. Aber dann gibt es dafür allenfalls gelbe Karten, für die Spieler hat das keine wirklichen Folgen. Hier müsste viel konsequenter durchgegriffen werden. Aber das ist ein hoher Aufwand, auch die Sportgerichte müssten am selben Strang ziehen. Aber das passiert zu wenig, und so kommen wir nicht an die Wurzeln.

Ist das ein Appell in Richtung DFB?

Wenn Sie so wollen, schon. Ich erwarte vom DFB, dass er das vorgibt. Die Umsetzung bleibt aber schwierig, weil die Landesverbände autonom sind. Aber zumindest Empfehlungen könnte der DFB aussprechen.

Untersuchen Sie auch den Einsatz von Pyrotechnik?

Nicht unmittelbar, der Fokus meiner Untersuchungen liegt im Amateurbereich. Dort spielte Pyrotechnik bislang eine untergeordnete Rolle, aber inzwischen beschäftigt das Thema auch zunehmend die unteren Ligen. Egal in welcher Liga, das ist eine unglaublich gefährliche Angelegenheit. Es gibt genügend Leute, die sich dabei schon Verletzungen zugezogen haben. Auch hier müssten die Regeln konsequenter durchgesetzt werden.

Und wie?

Im Profibereich wird ja jede Fackel gezählt. Dieses Vorgehen diente hauptsächlich dazu, transparenter zu machen, wie Strafhöhen zustande kommen. Gleichzeitig heißt das aber auch, ich kann als Fan ziemlich präzise berechnen, was meine Feuershow kosten wird. Im Wiederholungsfall müsste dann zu anderen Maßnahmen gegriffen werden, wenn die Geldstrafen keinen Effekt erzielen. Es gäbe noch weitere Instrumente, aber die Möglichkeiten werden nicht ausgeschöpft. Das ist doch ein Irgendwie-Agreement zwischen Vereinen und Fans.

Briefings wie Berlin.Table per E-Mail erhalten

Keine Bankdaten. Keine automatische Verlängerung.

Sie haben bereits das Table.Briefing Abonnement?

Anmelden

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

Teilen
Kopiert!