Die Außenministerin wartet schon, als der SPD-Parteivorsitzende eintrifft. Was insofern ungewöhnlich ist, als afrikanische Politiker ihrerseits gerne warten lassen. Es ist nicht nur dort ein Zeichen subtiler Dominanz. Aber Naledi Pandor hat das offensichtlich nicht nötig. Sie nimmt sich zwei Stunden Zeit, obwohl Ende Mai gewählt wird in Südafrika, in dieser Woche die Frist für die Listenaufstellung abläuft, die Nervosität beim regierenden ANC steigt und sie auch sonst einen gut gefüllten Terminkalender hat.
Aber die Begegnung mit dem deutschen Parteivorsitzenden ist ihr wichtig. Sie hat ihn kurzfristig in ihr Programm geschoben; ihr Stellvertreter ist auch dabei, dazu weitere ANC-Größen, es gibt eine Menge zu besprechen – den Ukraine-Krieg, den Krieg in Gaza und überhaupt, die neue, veränderte Weltordnung. Dass einer aus Pandors Delegation ein Palästinensertuch umgelegt hat, ist ein demonstrativer Hinweis, wie der ANC seine Sympathien verteilt. Aber weil Pandor auch die deutschen Befindlichkeiten kennt, eröffnet sie das Treffen mit einer scharfen Kritik am Hamas-Massaker vom 7. Oktober vergangenen Jahres.
Umgekehrt hat SPD-Chef Lars Klingbeil gute Gründe, in Südafrika vorbeizuschauen. Keiner hat traditionell so gute Kontakte zum ANC wie die schwedischen und deutschen Sozialdemokraten. Es gibt zum ANC – ebenso wie zur Swapo in Namibia – lang gewachsene und belastbare Beziehungen, die auch eine Meinungsverschiedenheit aushalten. Olof Palme und Willy Brandt sind am Kap immer noch klingende Namen. Überhaupt sind die Deutschen gefragt. Sie gelten als verlässlich, gesprächsoffen, auch wenn die Perspektiven nicht immer die gleichen sind. Auch Ex-Präsident Thabo Mbeki will den SPD-Chef sehen; will 30 Jahre Demokratie am Kap reflektieren und verschweigt dabei die Enttäuschung über seine Nachfolger nicht.
Doch das Verhältnis ist angespannt, seitdem die Regierung Pretoria Position gegen Israel und dessen Einmarsch in Gaza bezogen und dann auch noch offensiv den Internationalen Strafgerichtshof bemüht hat. Auch im Ukraine-Krieg hätte sich die Bundesregierung einen entschiedeneren Auftritt Südafrikas gewünscht. Da wird schon fast zur Nebensache, dass 600 deutsche Unternehmen in Südafrika Niederlassungen haben, und das Land auch deshalb bedeutsam ist.
Es ist vor Ort ein offenes Geheimnis, dass die deutsche Botschaft in Pretoria eine Menge kritischer Anfragen aus der Heimat erhalten hat, wie es denn sein könne, dass sich Südafrika so weit entfernt habe vom westlichen Diskurs. Und ob man die Regierung in Pretoria nicht von einer anderen Sichtweise überzeugen könne.
Das und die öffentlich Resonanz in Deutschland auf Südafrikas Agieren wiederum kamen am Kap gar nicht gut an. Es wird zwischen Rhein und Spree gerne unterschätzt, aber in vielen Ländern – auch in Südafrika – werden politische Debatten und die Stimmungslage in Deutschland sehr genau verfolgt. Deshalb ist es sicher kein Fehler, wenn der deutsche SPD-Chef versucht, einerseits Irritationen auszuräumen, andererseits „die Partnerschaften mit dem globalen Süden zu stärken“, wie er es nennt.
Die Ausgangslage ist also nicht unkompliziert: Hier eine europäische Macht, mit einer besonderen, Verpflichtung für Israel, erstmals seit 1945 wieder mit einem Krieg vor der Haustür, mit einer klaren, solidarischen Positionierung für die Ukraine. Dort ein Schwellenland, BRICS-Gründungsmitglied, mit wachsendem Selbstbewusstsein, mit guten Kontakten nach Moskau und Kiew und auch nach Peking. Und nicht bereit, sich von den Regierungen des Nordens und Westens in irgendeiner Weise vereinnahmen zu lassen. Obendrein ist Südafrika im nächsten Jahr Ausrichter des G20-Gipfels. Auch das stärkt das Selbstvertrauen.
Es ist nicht so, dass die Südafrikaner unbedarft auf den Konflikt in Europa schauen: Nicht wenige haben in Moskau studiert, kennen russischen Nationalismus und und auch den Rassismus aus eigener Anschauung. Staatspräsident Cyril Ramaphosa war im vergangenen Sommer mit mehreren afrikanischen Staats- und Regierungschefs im ukrainischen Butcha, hat sich das Morden der russischen Soldaten und die ukrainischen Massengräber zeigen und beschreiben lassen. Er hat eine dezidierte Meinung vom russischen Überfall. Und auch von willkürlichen Grenzverschiebungen hält man auf dem afrikanischen Kontinent nicht viel.
Sympathien für den russischen Angriff kann man Ramaphosa jedenfalls nicht nachsagen. Aber er will nach allen Seiten gesprächsoffen bleiben. Denn dass die Europäer den Konflikt unter sich lösen, erscheint eher unwahrscheinlich. Es wird wohl Mediatoren brauchen, und Ramaphosa ist einer, der nicht nur regelmäßig mit Selenskyj und Putin telefoniert, sondern sich auch bemüht, Selenskyj nach Südafrika zu holen.
Etwas anders verhält sich die Sache mit Gaza und Palästina. Die deutsche Kritik verkennt häufig die engen Bande, die Südafrika, insbesondere der ANC, seit vielen Jahren zu Palästina unterhält. Der ANC und die Fatah – das sind zwei Freiheitsbewegungen, die immer im Austausch standen, auch nachdem die Apartheid in Südafrika beendet war. Nelson Mandela hatte 1997 den denkwürdigen Satz formuliert: „Unsere Freiheit ist unvollständig ohne die Freiheit der Palästinenser.“
Die deutsche Kritik verkennt auch, dass Israel dem weißen Apartheidsregime zur Seite stand, mit Waffen, mit Polizeitechnik, mit Knowhow. Es war der Staat Israel, der Südafrika in den 1980er Jahren zur Atombombe verholfen hat. Und es war der Staat Israel, der auf dem ganzen Kontinent autoritäre Regierungen gegen aufstrebende Freiheitsbewegungen unterstützt hat. All das haben die führenden ANC-Leute am Kap nicht vergessen. Im Übrigen auch nicht, dass Deutschland lange auf Seiten der Apartheidregierungen stand.
An anderer Stelle, in einer Runde mit Wissenschaftlern und Think-Tank-Experten bekommt der deutsche Gast die südafrikanische Sicht ungefiltert zu hören. Es ist manchmal polemisch, aber auch analytisch, differenziert und präzise, was da vorgetragen wird. Ob die militärische Option wirklich die beste sei, fragt Philani Mthembu. Der Krieg sei ein über Jahre andauerndes Versagen der Diplomatie. Und ob Deutschland die bekanntermaßen guten Kontakte zu Russland nicht reaktivieren könne.
Aus afrikanischer Perspektive sei der Konflikt jedenfalls unglaublich überflüssig. Klar sei zudem: Ohne Russland werde es in Europa nicht gehen. Wer Frieden wolle, müsse auch mit Moskau reden. Ja, man verstehe, wenn Deutschland Waffen an die Ukraine liefert – „aber die Lieferungen verlängern den Krieg und erschweren den Dialog“. Deutschland falle wegen seiner eindeutigen Haltung als Vermittler wohl aus, durchlaufe zudem, etwa im Bereich der Sicherheitspolitik, gerade Häutungen. „Wir registrieren das – umso mehr müssen jetzt Länder außerhalb Europas Verantwortung übernehmen.“
Und natürlich der immer wiederkehrende Vorwurf: Fünf Millionen Tote im Kongo, Hunderttausende im Sudan oder vor kurzem auch in Äthiopien kümmerten den Westen nicht. Aber kaum habe er einen blutigen Konflikt vor der eigenen Haustür, versuche er die Weltgemeinschaft zu instrumentalisieren. Deutschland habe wegen seiner Parteinahme für die Ukraine trotz traditionell guter Kontakte zu Moskau keine Chance mehr, eine Vermittlerrolle einzunehmen.
Klingbeil fühlt sich wiederholt herausgefordert. Ja, Deutschland sei ein Freund Israels, „aber das heißt nicht, dass wir schweigen“. Der 7. Oktober sei kein Widerstand gewesen, „das war blanker Terrorismus“. Deutschland sei kritisch gegenüber Israel, „insbesondere gegenüber den Siedlern“. Er räumt allerdings auch ein, „dass wir deutlicher sein können“.
Klar wird bei alledem: Exklusive und selbstverständliche Kooperationen gibt es mit dem Globalen Süden für Deutschland nicht mehr. China und Russland sowieso, aber auch die Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate und andere wollen mit den Südländern ins Gespräch kommen. Die sind ihrerseits nicht nur selbstbewusst geworden, sondern haben auch die Wahl. Nicht, dass ihnen Gesellschaftssysteme wie in China oder Russland irgendwie attraktiv erschienen. „Aber die suchen sich einfach andere Partner, wenn es mit Deutschland und dem Westen nicht klappt“, bilanziert Klingbeil sehr nüchtern.
Immerhin, der SPD-Parteichef und die Außenministerin finden doch noch zusammen. Erstens eint sie, dass militärisch verschobene Grenzen keine Lösung sind. Zweitens plädieren beide, wenn erst mal Frieden herrscht, in Palästina für eine Zwei-Staaten-Lösung. Und drittens wird nun mit Verve und Tempo an einem Memorandum of Understanding gearbeitet, das Themen wie eine neue multilaterale Ordnung, darunter auch ein neues UN-Regelwerk, eine neue internationale Finanzarchitektur mit gerechteren Zinsen für die ärmeren Staaten und eine gemeinsame sozialverträgliche Klimapolitik umfassen soll. Ein ähnliches Abkommen mit der Schwesterpartei PT in Brasilien gibt es schon.
Es ist unverkennbar: Die SPD versucht auf die Verschiebung der Machtverhältnisse in der Welt zu reagieren. „ Wir müssen aufhören zu glauben, alle müssen so sein wie wir“, sagt Klingbeil hinterher. Und was Deutschlands Position in der Welt angeht, die ja immer noch eine vergleichsweise sehr anerkannte ist: „Wir müssen uns anstrengen, damit Länder wie Südafrika bei uns bleiben und wir nicht isoliert werden.“