Analyse
Erscheinungsdatum: 11. Juli 2024

Kanzlerkandidatur der Grünen: Baerbocks ferner Auftritt und Habecks schwere Aufgabe

Mit ihrem CNN-Interview zeigte die Außenministerin vor allem eines: Ich entscheide selbst über meine Zukunft. Der Partei hilft das. Trotzdem könnte der Alleingang noch lange nachwirken.

Die Lage war unangenehm geworden. Jedenfalls für Annalena Baerbock. In den letzten Wochen war fast kein Tag mehr vergangen, an dem sie nicht mit dieser Frage konfrontiert wurde. Mal waren es Journalisten, die in Kommentaren eine Entscheidung pro Robert Habeck einforderten; mal waren es „Parteifreunde“ wie Rezzo Schlauch und Winfried Kretschmann, die von den Grünen (und damit zuallererst auch von Baerbock) einen Beschluss zugunsten des Vizekanzlers anmahnten. Eine Weile lang hält jemand wie Baerbock das aus. Aber es spricht viel dafür, dass der stete Tropfen wirkte – und dass die Grünen-Politikerin zuletzt zu dem Schluss kam, sie wolle und dürfe diese mindestens gefühlte Schwächung ihrer Rolle nicht mehr länger über sich ergehen lassen. Glaubt man jenen, die Baerbock schon sehr lange kennen, dann hat sie betont selbstbestimmt die Entscheidung für das CNN-Interview getroffen. Sie wollte sich nicht länger von anderen sagen lassen, was jetzt zu tun sei.

Dahinter steht freilich etwas, das viele im Trubel vergessen haben. Vor zwei Jahren hatte der Bundesvorstand der Grünen beschlossen, bis zum 31. Juli 2024 eine Urwahl einzuleiten, sollte es bis dahin mehr als nur einen Kandidaten geben. Für Baerbock war das ein Datum, andere hatten aus strategischen Erwägungen inzwischen eine spätere Entscheidung – nach den Landtagswahlen im Osten – angesteuert. Baerbock also hatte im Kopf, dass etwas noch vor August anstand. Andere offenbar nicht mehr ganz so.

Für Robert Habeck und für die Grünen hat der Auftritt der Außenministerin im US-Fernsehen Vor- und Nachteile, die weit über die persönliche Entscheidung von Baerbock hinaus gehen. Sind sie ein Team? Handeln sie gemeinsam? Haben sie wirklich ein Machtzentrum? Oder bleibt Politik eben auch in ihren Reihen ein ziemlich einsames Geschäft, in dem am Ende jeder zuallererst an sich selbst denkt?

Eines ist seit Mittwochabend klar: Habeck muss nicht länger darüber nachdenken, wie es gelingen kann, Baerbock zum Verzicht zu bewegen. Er kann die Frage abhaken – und sich von jetzt an auf das große Rennen namens Wahlkampf im kommenden Jahr vorbereiten. Außerdem ist im Umgang mit den Koalitionspartnern endgültig geklärt, wer bei aller Teamarbeit bei den Grünen der Chef ist. Lange Zeit in dieser Legislaturperiode stand immer wieder die Frage im Raum, ob Baerbock seine Kompromisse überhaupt mitträgt. Insbesondere beim Streit um die Kindergrundsicherung schwangen Zweifel mit – was nachhaltig an Habecks Autorität nagte.

Zugleich liegt ab jetzt die ganze Verantwortung bei ihm. Besonders dann, wenn es bei den anstehenden Wahlen schlecht laufen sollte. Aus diesem Grund galt in der Führung eigentlich als gesetzt, dass die Frage der Kandidatur erst im Herbst offiziell geklärt würde. Wenn man von einem Team sprechen kann, dann hatte das Team an der Grünen-Spitze eigentlich vor, den Kanzlerkandidaten später und vermutlich auch mit einem gemeinsamen Auftritt zu nominieren. Dabei hatten sie nur vergessen, verdrängt oder ignoriert, dass der 31. Juli eine Verschiebung nach hinten ohne Verbiegung eines eigenen Beschlusses nicht wirklich nicht zuließ.

Alle Überlegungen, vielleicht etwas später offiziell zu werden, hat Baerbock denen aus der Hand geschlagen, die darauf gehofft und gesetzt haben. Die Art ihres Auftritts hat unzweideutig die Botschaft transportiert, dass sie sich Zeitpunkt und Form niemals von anderen aufzwingen lassen würde, sondern selbst festlegen wollte. Sie erklärte, dass ihre Aufgabe als Außenministerin in dieser krisenhaften Welt eine Kanzlerkandidatur nicht zulasse; sie erklärte nicht, dass Robert Habeck aus ihrer Sicht jetzt der richtige Kandidat sei. Sie erklärte es in einem US-Fernsehsender; sie erklärte es nicht in einem gemeinsamen Interview oder öffentlichen Auftritt mit Habeck.

Das kann man so machen, und Verbündete von ihr in Fraktion und Partei fordern jetzt auch, dass man das akzeptieren solle. Menschen, die sie gut kennen, sagen: So sei sie eben, selbstbestimmt und die Dinge mit sich alleine ausmachend.

Alle anderen in der Führung der Grünen wurden zwar vorab informiert, aber letztlich doch überrascht. Und sie müssen die einsame Entscheidung jetzt in eine neue Strategie und Erzählung hinüberretten. Vorneweg Habeck konnte und wollte das Ganze am Mittwochabend nicht als Erfolg feiern. Im Gegenteil war er vor allem bestrebt, es noch nicht wie eine endgültige Entscheidung erscheinen zu lassen. „Die Gremien“ seien jetzt gefragt – was so viel heißen sollte wie: Wir müssen genau überlegen, wie wir die letzten Schritte bis zur offiziellen Nominierung jetzt einplanen. Verglichen mit Baerbocks rauschender Präsentation im Frühjahr 2021 fühlt sich das schon jetzt mühsam an. Wahrscheinlich hätten das viele gerne ganz anders gemacht.

Zumal Baerbocks Fans ihren Verzicht nicht uneingeschränkt als Aufruf zur vollsten Unterstützung des Vizekanzlers lesen müssen. Auch ihr Brief, den sie nach Ausstrahlung des Interviews an die Fraktion schickte, hat das nicht komplett aufgehoben. Baerbock hat Wahlkampf und Hilfe versprochen. Und doch kann man ihre Art des Auftritts auch als ein Jetzt-zeig-mal, ob-Du-das-kannst interpretieren. Sie verzichtet. Mehr aber auch nicht.

Für Habeck ist das erst einmal eine Genugtuung. Zumal er 2021 kein Hehl daraus machte, wie sehr ihn der Verzicht schmerzte. Ein Verzicht, den Baerbock mit ihrer Entschlossenheit, selbst anzutreten, erzwungen hatte. Habeck wusste damals, dass es gegen Baerbock in der Partei schwer geworden wäre, zumal alle anderen Parteien mit Männern antraten. Und jetzt? Jetzt weiß er, dass ab sofort sprichwörtlich alles an ihm hängt, die absehbar schweren Wahlen im Osten eingeschlossen. Sein politischer Kalender läuft ab jetzt nur noch bis September 2025. Liefert er am Wahltag nicht, wird er mit den Grünen also nicht mindestens stärkste Kraft im linksliberalen Lager, dann dürfte es schwer werden, noch einmal in die Regierung zu kommen. Und ob er in der Opposition einfach weitermachen könnte, ist mehr als ungewiss. Vieles spricht sogar dafür, dass er dann aufhören würde.

Für Baerbock ist es genau umgekehrt. Sie wird – gemäß ihrer Botschaft von Washington – bis zum Wahltag die Welt retten. Und danach wird sie entweder noch einmal um das Auswärtige Amt kämpfen, was Habeck nahezu zwangsläufig unterstützen müsste. Oder sie schaut sich an, wie die Würfel in einer neuen Zeit als Opposition fallen. Sollte Habeck dann aussteigen, hätte sie vermutlich alle Möglichkeiten. Es ist alles andere als ausgeschlossen, dass sie vor und nach ihrem CNN-Interview ganz leise auch daran gedacht hat.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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