Analyse
Erscheinungsdatum: 19. März 2023

Juristischer Donnerschlag aus Den Haag

(Bild: IMAGO / ITAR-TASS)

Der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Putin könnte auf den Vorwurf des Genozids zielen. Die Folgen sind gravierend; die Justiz müsste Russlands Präsidenten bei einem Besuch ausliefern – möglicherweise auch Außenminister Lawrow.

Wenn sich Karim Khan, der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, an diesem Montag in London mit Marco Buschmann (FDP) und vielen anderen Justizministern aus aller Welt trifft, bringt er einiges mit. Khan und sein Haager Tribunal standen zuletzt unter Druck, mehr als ein Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine etwas gegen die Täter vorzuweisen. Forderungen nach einem neu zu schaffenden Sondertribunal wurden immer häufiger. Am Freitagnachmittag hat er mit einem juristischen Donnerschlag reagiert. Auf seinen Antrag hin erließ das Weltstrafgericht Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Der Vorwurf: Kriegsverbrechen in Form von tausendfacher Verschleppung ukrainischer Kinder.

Nie zuvor hat ein internationales Gericht Haftbefehl gegen einen so mächtigen Mann erlassen – gegen den Präsidenten einer Großmacht und das Oberhaupt einer Vetomacht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Das Wort „historisch“, das der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dafür verwendet, wirkt hier angemessen. Westliche Staatsmänner wie US-Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) begrüßen den Haftbefehl gegen Putin. Buschmann hat bejaht, dass Putin bei einem Deutschland-Besuch nach Den Haag ausgeliefert werden müsste. Aus Moskau heißt es dagegen, Russland erkenne das Weltstrafgericht nicht an. Dessen Entscheidungen gegen Russen im Ukraine-Konflikt seien wirkungslos und nichtig. Doch ist das wirklich so?

Der Internationalen Strafgerichtshof wurde 1998 von einer Staatenkonferenz in Rom geschaffen. Ihm gehören 123 Staaten an, nahezu zwei Drittel aller Länder der Welt. Gemäß seinem Statut sind die Mitgliedsländer verpflichtet, Haftbefehle des Tribunals zu vollstrecken und die Gesuchten nach Den Haag zu überstellen. Dass das tatsächlich geschieht, ist nicht garantiert. Doch das Risiko für die Verdächtigen ist hoch.

Für Präsident Putin bedeutet dies: Sein Reiseradius wird stark beschränkt. Gleiches gilt für andere hohe Repräsentanten der russischen Regierung wie Außenminister Sergej Lawrow. Da das Welttribunal seine Haftbefehle aus ermittlungstaktischen Gründen oft geheim hält, haben auch sie damit zu rechnen, auf Auslandsreisen festgesetzt zu werden. Und Staatsbesucher im Kreml, wie in der kommenden Woche der chinesische Präsident Xi Jinping, müssen jetzt mit dem Makel leben, einem weltweit gesuchten Kriegsverbrecher vor laufenden Kameras die Hand zu schütteln.

Das schränkt die Möglichkeiten der russischen Außenpolitik ein und kann die Legitimierung der russischen Regierung weltweit beeinträchtigen. Denn der Haager Strafgerichtshof ist, anders als oft behauptet, kein „Gericht des Westens“. Er wurde gegen den erbitterten Widerstand der westlichen Führungsmacht USA geschaffen und von dieser bis in jüngste Zeit sogar mit Sanktionen bekämpft. Ihm gehören neben europäischen auch viele afrikanische, lateinamerikanische und asiatische Staaten an. Sein Ziel ist es, weltweit ohne Ansehen der Person schlimmste Taten wie Völkermord, Angriffskriege, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Kriegsverbrechen zu ahnden. Er ist damit der vielleicht konkreteste Ausdruck der Hoffnungen auf eine gerechtere Welt, die nach dem Ende des Kalten Krieges aufgekommen waren.

Der Kreml bestreitet die Zuständigkeit des Gerichts. Tatsächlich gehören weder Russland noch die Ukraine zu seinen Mitgliedsstaaten. Allerdings hat die Regierung in Kiew den Gerichtshof ausdrücklich für alle Völkerrechtsverbrechen anerkannt, die seit 2013 auf ihrem Territorium geschehen sind. Das gilt für Verbrechen von Russen wie von Ukrainern. Das Haager Tribunal ist damit auch für Wladimir Putin zuständig, insoweit er Verbrechen in der Ukraine begangen hat oder begeht.

Erstaunt haben viele Beobachter darauf reagiert, dass sich der erste gegen Putin – und seine „Kinderrechtskommissarin“ Maria Lwowa-Belowa – veröffentlichte Haftbefehl nicht auf Völkermord oder die Ermordung von Zivilisten und die Zerstörung ziviler Infrastruktur bezieht, sondern auf die Verschleppung von Kindern. Das dürfte damit zusammenhängen, dass hier die Beweislage besonders eindeutig ist. Putin und Lwowa-Belowa haben sich öffentlich dazu bekannt, ukrainische Kinder nach Russland zu deportieren und dort zu identitären Russen umzuerziehen – auch wenn sie das in andere Worte kleiden. Bei Kriegsverbrechen ist es oft schwierig, den Befehlshabern die Verantwortung für konkrete Taten nachzuweisen. Hier erscheint sie eindeutig.

Hinzu kommt: Das Kernverbrechen des Völkerstrafrechts ist der Völkermord. Nach Nazi-Regime und Holocaust ist das „Nie wieder!“ ein Grundanliegen der internationalen Gemeinschaft und des Völkerrechts. Falls es dennoch erneut zu einem Genozid kommt, sollen die Täter von der ganzen Weltgemeinschaft zur Verantwortung gezogen werden.

Der Völkermörder will eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe ausrotten. Die massenhafte – die ukrainische Regierung spricht von dokumentiert mehr als 16 000 Fällen – Verschleppung und Umerziehung ukrainischer Kinder sowie zahlloser erwachsener Ukrainer durch die russische Regierung könnte in Den Haag als Teil eines Völkermord-Planes gewertet werden. Das jetzt veröffentlichte Strafverfahren gegen Putin wäre dann nur ein Anfang.

Der internationalen Strafgerichtsbarkeit wird vorgeworfen, gegen die wirklich Mächtigen machtlos zu sein. Historisch lässt sich das so nicht belegen. Hermann Göring, einer der mächtigsten Männer des Dritten Reiches, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg vor ein internationales Tribunal gestellt und 1946 verurteilt. Im Mai 1999 wurde der damals in Belgrad scheinbar allmächtige Präsident Jugoslawiens, Slobodan Milošević, vom Internationalen Jugoslawien Tribunal in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Sehr viele Kommentatoren (der Autor eingeschlossen) hielten das damals für weltfremd. Zwei Jahre später ließ die serbische Regierung Milošević festnehmen und nach Den Haag überstellen.

Derzeit erscheint es wenig wahrscheinlich, dass Wladimir Putin in einem Haager Gerichtssaal auftreten wird. „Dennoch halte ich den Vergleich mit Milošević für realistisch“, sagt einer der erfahrensten deutschen Völkerstrafrechtler. Wolfgang Schomburg war Justizstaatssekretär in Berlin, Richter am BGH und erster deutscher Richter am Haager Jugoslawien-Tribunal. Als Rechtsanwalt hat er unzählige Fälle internationaler Strafjustiz begleitet. Heute sagt er: „ Der Freitag war ein guter Tag für das Völkerstrafrecht. Das Haager Gericht hat klargestellt, dass Wladimir Putin keine Immunität genießt.“

„Viele Leute in der russischen Führungsschicht, Wirtschaftsführer zum Beispiel, werden sich nun Gedanken machen, ob sie sich noch von einem Mann repräsentieren lassen wollen, der weltweit als mutmaßlicher Verbrecher gesucht wird“, sagt Schomburg im Gespräch mit Berlin Table. Wenn die Weltjustiz den Präsidenten einer UN-Vetomacht zur Fahndung ausschreibe, sei das ein starkes Symbol dafür, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sein sollten. Anderen Machthabern werde das zu denken geben.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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