Berlin.Table: Herr Trittin, die Türkei hat gewählt. Ihre erste Reaktion?
Jürgen Trittin: Das Ergebnis zeichnete sich leider ab. Aber es war knapper als gedacht und ist umso erstaunlicher, wenn man sieht, dass diese Wahlen nicht fair waren. Der Zugang zu Medien war für den Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu massiv eingeschränkt, die Wahlbehörde ist nicht wirklich unabhängig. Aber auch wenn Erdoğan gewonnen hat, hat er gerade in seinen Hochburgen doch an Stimmen verloren.
Was bedeutet das für die Demokratie in der Türkei?
Das Land ist gespalten, die Forderungen nach wieder mehr Demokratie werden weiter stark bleiben. Aber ob das Erdoğan beeindruckt, das muss man stark bezweifeln. Erdoğan hat eine nie dagewesene Machtfülle auf sich konzentriert und regiert als Autokrat. Demokratisierung war nicht zuletzt das Programm seines Herausforderers und er hat ihn bis in die Stichwahl gezwungen.
Was heißt es für politische Flüchtlinge wie Can Dündar?
Viele, die seit der Niederschlagung der Gezi-Protesten 2013 das Land verlassen mussten, weil sie Repressionen und Bedrohungen ausgesetzt waren, hatten natürlich gehofft und sind bitter enttäuscht worden. Sie werden wohl weiter im Exil verbringen müssen und auf die nächsten Wahlen schauen müssen.
Welche Konsequenzen erwarten Sie für das Machtgefüge in der Region?
Erdogan spielt ja immer offen mit Reminiszenzen an das Osmanische Reich, den Vorläufer der türkischen Republik, das aber eine deutlich größere Ausdehnung hatte. Dieser osmanische Traum erinnert an Putins Trauma der untergegangenen Sowjetunion. Erdogans Traum ist mindestens eine Führungsrolle der Türkei in der Region und ihn treibt eine panislamische Idee. Daran wird er festhalten und weiter darauf hinarbeiten. Aber die Dynamiken in der Region haben sich in den letzten Monaten geändert. Assad ist in den Kreis der Arabischen Liga zurückgekehrt, und das zwingt auch Erdogan wieder zu einer Annäherung, die er seit 2011 vermeiden wollte.
Wie sollte die Bundesregierung ihre Türkei-Politik jetzt ausrichten?
Die Hoffnung auf einen Politikwechsel hat sich zerschlagen. Die Zurückhaltung war nicht erfolgreich. Wir brauchen eine klarere Haltung nicht nur in Deutschland, sondern in der EU. Erdoğan wird versuchen, mit der großen Zahl syrischer Flüchtlinge in seinem Land Europa zu erpressen. Da muss sich Europa sehr gut überlegen, ob es Erdoğan weiter als Türsteher in Flüchtlingsfragen finanzieren will.
Im Finale des Wahlkampfs rückten die Flüchtlinge ins Zentrum der Debatte. Welche Konsequenzen muss man jetzt befürchten?
Beide Kandidaten haben im Wahlkampf angekündigt, die über 4 Millionen syrischen Flüchtlinge nach Syrien zurückzuschicken. Das wird Erdoğan auch vorantreiben – und zwar Richtung Europa. Damit wird sich auch Europa auseinandersetzen müssen.
Soll die EU einen neuen Türkei-Anlauf starten? Eine ganz neue Brücke entwerfen?
Wer glaubt, Erdoğans Türkei wäre ein Brückenkopf der Nato in Richtung des Mittleren Osten täuscht sich. Erdogan ist keine Brücke, sondern ein Spoiler. Er glaubt, dass sein Eskalationskurs gegenüber der EU, Griechenland im Speziellen, seine Nähe zu Putin und seine Verweigerungshaltung in der Nato ihm den Wahlsieg gebracht haben. Aber das ernsthafte Interesse an einer Annäherung dürfte beim türkischen Präsidenten nicht ausgeprägt sein. Die Differenzen mit der EU sind immer größer geworden, er verletzt EU-Gewässer, durchbricht UN-Embargos und bedroht selbst Nato-Partner militärisch. Man muss die Nato nicht für eine Wertegemeinschaft halten, aber diese Politik ist nicht akzeptabel.
Welchen Rat würden Sie der Nato jetzt geben?
Man darf sich von Erdoğan nicht mehr auf der Nase herumtanzen lassen. Das aktive Behindern des Waffenembargos gegen Libyen, das Unterlaufen der Sanktionen gegen Russland im großen Stil und die Verweigerung der Nato-Aufnahme von Schweden – das alles muss Konsequenzen haben. Und da das Nato-Statut keine Ausschlussmöglichkeit vorsieht, muss ihm ernsthaft klargemacht werden, dass es dann auch wirtschaftlich kein business as usual mehr gibt.
Und was bedeutet das alles für Wladimir Putin?
Für den Mann im Kreml ist die Wiederwahl Erdogans eine gute Nachricht. Er hat in Ankara weiter einen Bruder im Geiste, mit dem ihn die Ablehnung Europas eint, auch wenn sie sich an anderer Stelle gegenüberstehen. Erdoğan ist für ihn eine Kraft, die die Einigkeit der Nato weiter schwächt und ihm im Zweifel auch noch von ihm Waffen abkauft.