Analyse
Erscheinungsdatum: 21. Mai 2023

Interview mit Gerhart Baum: „Ich war ein sehr umstrittener Minister“

Talkshow Maischberger : Gerhart BAUM , FDP , 08.02.2023 Gerhart BAUM , FDP , 08.02.2023 *** Talkshow Maischberger Gerhart BAUM , FDP , 08 02 2023 Gerhart BAUM , FDP , 08 02 2023
Gerhart Baum ist einer der großen Republikaner dieses Landes. Er war Abgeordneter, Staatssekretär, Bundesinnenminister; er erlebte den deutschen Herbst, reiste im Namen der Menschenrechte um die Welt und vermittelte die Vereinbarung Deutschlands mit den Hinterbliebenen des Olympia-Attentats 1972. Im Interview erzählt Baum von seinem liberalen Herz, seiner Sehnsucht nach dem anderen Russland und dem Willen, die junge Generation zu mobilisieren.

Herr Baum. 90 Jahre alt; 70 Jahre in der Politik. Und jetzt der Politik-Award-Ehrenpreis fürs Lebenswerk. Wie ist das?

Schön. Dass ich in meinem hohen Alter noch eine solche Aufmerksamkeit finde, die sich nicht nur auf meinen körperlichen Zustand bezieht, sondern auf meine Themen und auf das, was ich noch zu sagen habe – das hätte ich mir nicht träumen lassen.

Wie groß ist der Stolz?

Ich bin schon stolz. Es ist eine gewisse Lebenszufriedenheit, würde ich mal sagen. Es war nicht umsonst, was ich gemacht habe. Mein Leben steckt in der Politik. Und ich bereue das überhaupt nicht. Dass auch Jüngere verstanden haben, was ich politisch wollte und will – das macht Hoffnung.

Sie waren Ratsmitglied in Köln, Sie waren Bundestagsabgeordneter, Staatssekretär und Minister. Welche Rolle war Ihnen im Rückblick die wichtigste?

Das Ministeramt. Keine Frage. Da konnte ich am meisten gestalten. Und das auf vielen Feldern. Damals war das Innenministerium auch Kulturministerium. Und Umweltministerium. Es hat mich unglaublich motiviert. Und ich konnte meinerseits Menschen motivieren, Prozesse anstoßen. Außerdem stand und steht dieses Ministerium in der Spannung zwischen Sicherheit und Freiheit. Das aber nicht nur mit Polizei und Justiz, sondern indem man den Ursachen in der Gesellschaft nachspürt. Das gilt auch heute.

Sie verloren dieses Amt 1982 mit dem Wechsel der FDP zu Helmut Kohl. Was bedeutete das für Sie?

Das Ende kam zu früh. Ich war gut in Fahrt, in enger Zusammenarbeit mit dem Ministerium und seinen zahlreichen Behörden. Der Bruch der Koalition war im Grunde – was ich lange gar nicht begriffen habe – der Abschied meiner Partei von meinen Themen. Umweltschutz hat keine Rolle mehr gespielt. Die Bürgerrechte traten in den Hintergrund. Jedenfalls so, wie ich sie vertreten habe.

War das Absicht oder Kollateralschaden?

Die Union wollte eine andere Innenpolitik. Und sie wollte mich loshaben. Ich war ein sehr umstrittener Minister. Dass meine Partei da nachgegeben hat, habe ich als Demütigung empfunden. Auch wenn sie mir das Justizministerium angeboten hat. Der soziale Liberalismus von Maihofer verlor gegen den Wirtschaftsliberalismus von Otto Graf Lambsdorff, obwohl beides durchaus vereinbar ist.

Auf ewig?

Nein, es gab und gibt Phasen der Erholung, und ich bin gar nicht so pessimistisch, was die liberale Partei angeht. Einmal, weil sie die einzige ist. Sie hat eine Tradition, sie muss das nur noch deutlich machen. Und sie hat junge Leute, die Liberalismus weiterentwickeln. Unser Land braucht eine liberale Partei.

Würden Sie auch im Rückblick sagen: Dieser Wechsel war falsch?

Es gab Gründe der Entfremdung, aber der Bruch hätte so nie passieren dürfen. So war es ein Vertrauensbruch gegenüber dem Wähler. Wir als die Sozialliberalen in der FDP waren überhaupt nicht mit einbezogen. Man stellte uns vor vollendete Tatsachen. Die Folge war, dass die Partei auseinanderbrach und ihren Kompass verlor.

Als Staatssekretär und Minister erlebten Sie den Deutschen Herbst. Welche Herausforderung war für Sie größer: den Terror abzuwehren oder die Werte des Grundgesetzes zu schützen?

Beides. Das war das entscheidende Spannungsverhältnis. Sich trotz der Bedrohung immer hinterfragen, ob man die Bürgerrechte nicht einschränkt, sondern stärkt. Ich habe mich da sehr weit vorgewagt. Wäre etwas Spektakuläres passiert, wäre die Union über mich hergefallen. Ich war für sie der „Unsicherheitsminister“. Meine Botschaft galt der jungen Generation: Der Staat muss reformiert werden, immer wieder. Und er kann und muss mit demokratischen Instrumenten reformiert werden, wie wir es in der sozialliberalen Regierungszeit getan haben.

Sie haben damals auch mit Horst Mahler gesprochen, in dieser Zeit Chefideologe der RAF und Täter – und heute bekennender Rechtsextremist. Wollten Sie zeigen, dass es eine Brücke geben kann?

Genau das versuchte ich. Und ich glaube, es war auch erfolgreich. Mein Ziel war nicht, die Mörder zu erreichen. Das war unmöglich. Aber die Vielzahl der Sympathisanten. Ihnen wollte ich klarmachen, dass die Demokratie reformfähig ist. Ein Beispiel war die Abschaffung des Radikalenerlasses durch mich. Dieses Generalmisstrauen des Staates gegenüber der jüngeren Generation hatte das politische Klima in Deutschland vergiftet. Auch heute gibt es Tendenzen, unbescholtenen Bürgern Demokratiebekenntnisse abzuverlangen.

Heute gibt es so etwas Ähnliches beim Blick auf den Rechtsextremismus. Ist das richtig oder falsch?

Wir erleben eine Radikalisierung von rechts – die größte Herausforderung für die innere Sicherheit – in Gestalt der stetig wachsenden AfD mit ihren Netzwerken und in Teilen des politisch ungebundenen Bürgertums. Systemverächter sind da am Werke. Da steckt auch Protest drin, aber es ist mehr. Es ist Überzeugung – unfassbar im Land des Holocaust. Völkische Arroganz. Dem ist schwierig zu begegnen. Demokratie muss überzeugend vorgelebt, Vertrauen aufgebaut werden, aber auch klare Abgrenzung ist notwendig.

Hat sich durch den islamistischen oder den rechtsextremen Terror für Sie etwas verändert?

Die Gefahr des Rechtsextremismus wurde hierzulande oft unterschätzt. Ich habe auch als Minister immer gewarnt. Das Oktoberfestattentat kam von rechts. Der Feind stand aber im allgemeinen Bewusstsein links. Islamisten und Rechtsextremisten greifen Minderheiten an oder die Gesellschaft insgesamt. Die RAF zielte auf die Repräsentanten des Staates und der Wirtschaft. Wir kannten die meisten Täter und haben sie erfolgreich verfolgt.

Hat das auch Folgen für die Frage, welche Mittel Sie heute der Polizei im Kampf gegen islamistischen oder rechtsextremen Terror in die Hände geben würden?

Wir haben reagiert und unsere Sicherheitsarchitektur der Bedrohung angepasst. Aber immer noch gibt es Überreaktionen, zum Beispiel der Fehlschluss, immer höhere Strafandrohungen würden abschrecken. Die Frage bleibt aber: Tun wir alles, um vor allem jungen Menschen, die sich verirrt haben, Brücken zu bauen?

Was verändert das für unsere Demokratie?

Es ist eine Klimaveränderung, allein dadurch, dass rechtsextremistische Parteien in nahezu allen Parlamenten sitzen. Aber es ist mehr. Es gibt Strömungen in unserer Gesellschaft, die ich sehr ernst nehme. Die auch die Sicherheitsbehörden und der Generalbundesanwalt sehr ernst nehmen. Es wächst eine gewisse Verachtung für unsere Demokratie, bis in eine bürgerliche Schicht hinein. Ich sage immer: ein Hauch von Weimar, obwohl wir nicht in Weimar sind. Es ist ein Phänomen, das sich nicht nur bei den Rechtsextremisten festmacht. Teile unserer Gesellschaft entfernen sich von der Demokratie und ihren Spielregeln. Die Demokratie ist Gefährdungen ausgesetzt.

Spielen da auch andere Faktoren eine Rolle?

Die Entwicklungen auf der Welt sind atemberaubend und verstörend. Alle Krisen dieser Welt sind bei uns ankommen und haben uns aus einer wohligen Normalität herausgerissen. Wir müssen mehr Verantwortung übernehmen, Europa stärken und uns in einer aus den Fugen geratenen Weltordnung mit der verheerenden Wirkung des Angriffskrieges auf die Ukraine als Verteidiger der Freiheit bewähren. Da finden sich viele Menschen nicht mehr zurecht und sind Verführungen ausgesetzt. Deshalb müsste die Politik die Kraft haben, mehr zu erklären. Ich plädiere dafür, dass unsere Politik ihr Handeln mehr begründet, erläutert, auch die Menschen zugeht. Und sie nicht den Verführern überlässt.

Heißt das vor allem: Mehr reden? Oder auch: Offen legen, dass nicht alles leicht zu lösen ist?

Wenn ein Politiker sagt, dass er auch nicht gleich die Lösung hat, sondern sucht und sich um den besten Weg bemüht, dann erhöht das seine Glaubwürdigkeit. Davon bin ich überzeugt. Selbst wenn er sagt: Ich habe mich geirrt oder einen Fehler gemacht. Oder ich habe das nicht richtig eingeschätzt – das wirkt vertrauensbildend. Hören wir auf, die Wähler mit immer neuen Wahlversprechen zu täuschen. Sie wissen es ohnehin besser. Warum haben wir uns so lange über die tiefgreifenden Folgen der demografischen Entwicklung hinweg getäuscht – das ist nur ein Beispiel.

Nach dem Bruch der FDP mit der SPD 1982 wechselten Sie in die Rolle des Verteidigers des Grundgesetzes. Welcher Erfolg vor dem Bundesverfassungsgericht ist Ihnen der wichtigste?

Das Urteil, mit dem 2008 ein neues Computergrundrecht geschaffen wurde. Es gibt dem Staat auf, uns gegen Verletzungen der Menschenwürde durch die elektronische Datenverarbeitung zu schützen. Diese sind zahlreich. Die neueste Entwicklung der Künstlichen Intelligenz ist erschreckend. Aber auch die elektronische Ausstattung des Autos greift in unsere Privatheit ein. Im Grunde ist es unsere ganze elektronische Umwelt. Die informationelle Selbstbestimmung ist in Gefahr, die „Magna Charta des Datenschutzes“. Der staatliche Schutz hinkt der technischen Entwicklung hinterher. Natürlich ist Digitalisierung ein Fortschrittsmotor, aber sie hat eine Schattenseite.

Wenn Sie sehen, wie rasant sich die digitale Welt verändert – bräuchte es eine neue Magna Charta?

Viele Maßnahmen sind in Gang gesetzt worden. Aber es ist schwierig, gegen die auf Gewinnerzielung ausgerichteten großen Plattformen wie Google anzukommen. Noch nie hatten einige wenige Firmen weltweit eine so starke ökonomische und auch politische Macht. Wir sind einem „Überwachungskapitalismus“ ausgesetzt. Gesellschaften können manipuliert werden, das gilt auch für Wahlen.

Sie haben die Demokratie in den 50er-Jahren erlebt, Sie haben die Demokratie in den 80er-Jahren erlebt, Sie erleben Sie heute. Wo machen Sie sich Sorgen?

Ich finde, wir müssen den jungen Leuten sagen: Ihr müsst Euch stärker für das Gemeinwohl engagieren, wo auch immer und wie auch immer. In Parteien und Organisationen, für Obdachlose, für einzelne Menschen, für Schwache, Hilflose. Ihr müsst zeigen, dass ihr euch nicht in eine wohlige Normalität hineinprivatisiert. Wir leben in einem Epochenbruch. Die Gefahren sind weltweit. Wir sind Teil der großen Krisen geworden. Wir können uns nicht mehr wegducken.

Sind die Klima-Kleber auf dem richtigen Weg?

Nein. Zu uns gehört nun mal, dass wir in Kompromissen denken und Entscheidungen treffen; es sind frei gewählte Parlamente und Regierungen, die die Entscheidungen treffen. Diese Aktivisten werfen uns vor, gegen die Verfassung zu verstoßen, aber sie tun es selbst. Wir haben innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung für Veränderung gekämpft. Das geht!

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine berührt auch Ihr eigenes Leben. Ihre Mutter stammt aus Russland. Wie sehr kehrt das jetzt gerade alles zurück?

Sehr stark. Einmal die Kriegserlebnisse. Ich sehe mich wieder unter Bomben, in den Luftschutzkellern. Ich war in Dresden, Berlin, München, wo ich das alles erlebt habe. Ich sehe die zerstörten Städte, und ich werde mir immer stärker bewusst, dass ich eine große Sympathie für das Russische, für die Russen habe. Meine Mutter war Russin, durch und durch. Bis zu ihrem Lebensende war sie von der „russischen Seele“ durchdrungen.

Welche Verbindungen haben Sie noch?

Ich war 1966 mit einer Delegation zum ersten Mal dort. Ich wollte wissen, was da passiert. Und ich war sehr, sehr oft und immer wieder in Russland. Zuletzt habe ich Lesereisen gemacht, mit einem ins Russische übersetzten Buch über die Bürgerrechte. Deshalb schmerzt es mich so, dass im Moment nur dieses Putin-Russland gesehen wird. Nicht das andere Russland. Wir kennen die wunderbaren Schriftsteller, Schriftstellerinnen, die ihr Land kennen und verstehen und uns zeigen, dass es ein anderes Russland gibt.

Sie warnen davor, immer nur das Putin-Russland zu sehen?

Absolut. Was hätten wir denn gemacht, wenn alle um uns herum nur dieses eine Deutschland, das Nazideutschland wahrgenommen hätten. Es gab ein anderes Deutschland.

Haben Sie noch eine Botschaft an Ihre FDP?

Die FDP muss viel deutlicher machen, dass sie auf einer großen Tradition beruht. Einer Freiheitstradition in der deutschen Geschichte. Was sind die Perspektiven des Liberalismus? Was hält ihn zusammen? Warum gibt es überhaupt eine liberale Partei. Ich habe dazu gerade Fritz Stern gelesen und Timothy Garton Ash. Wunderbar. Liberalismus heißt „Fortschritt durch Vernunft“ und „Freiheit verbunden mit Verantwortung“. Und die FDP ist gut beraten, Freiheit mit Verantwortung zu verbinden. Oft geht es nicht ohne Regeln für unser Zusammenleben. Da wollen die Grünen zu viel, die Liberalen manchmal zu wenig.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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