Analyse
Erscheinungsdatum: 05. März 2023

„In Zeiten des Gewissheitsschwundes gibt es keine Schubladen-Lösungen“

Pressefoto (Bild: Karl-Rudolf Korte)
Der Politologe Karl-Rudolf Korte stellt den Ampel-Koalitionären überraschend gute Noten aus: Das multizentristische Ringen um Lösungen belebe die Demokratie nach den lähmenden GroKo-Zeiten.

Berlin.Table: Herr Korte, das Kabinett trifft sich heute und morgen in Meseberg: Warum brechen gerade an allen Ecken Konflikte auf?

Karl-Rudolf Korte: Es brechen keine neuen Konflikte aktuell auf. Die Dynamik der Vielstimmigkeit gehört zum Startprogramm der Ampel. Sie ist ein Sonderformat des Regierens. Zu Dritt ist man systematisch kontroverser als zu zweit. Die fluiden Fronten, als Dauer-Interessen-Abwägung, sind immerwährend zu moderieren, sodass sich möglichst nie ein „zwei gegen einen“ verfestigt. Die Kanzlerpartei ist dauerhaft in der Minderheit gegenüber den Zitruskoalition-Partnern, zumal Scholz das schwächste Wählermandat hat, was jemals ein deutscher Kanzler einbrachte. Insofern: Die Unterschiede, die bei den zentralen Transformationsthemen wieder sichtbarer werden – jetzt, da die Kriegsdramaturgie zum Alltag geworden ist –, sind gewollt. Sie sind Teil des multi-zentristischen Regierens.

Der Krieg konnte die Koalition nicht spalten. Kann das jetzt aus anderen Gründen passieren?

Der Krieg stabilisiert, wie jede außeralltägliche Krise, die Regierung. Die Dynamik des Miteinanders bedarf einer klugen Moderation, um die Widersprüche zu umarmen, die bei drei Partnern erkennbar sind. Dies sollte nie eine Koalition der Schnittmengen sein, der kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern eher eine Lern-Koalition, die über Ideen Dissensmanagement ausprobiert. Denn in Zeiten des Gewissheitsschwundes gibt es keine Problemlösungen aus Schubladen. Politik ist immer experimentell, unfertig, Probehandeln am Stück. Jede Kontroverse ist Teil des öffentlichen Diskurses, der wichtig ist, um klarzumachen: Die Bundesregierung ringt um Lösungen, stellvertretend für die vielen unterschiedlichen Interessen, die alle Wähler umtreibt. Die vitale Demokratie braucht gerade nach den lähmenden, diskursfernen Groko-Zeiten den öffentlichen Austausch von Argumenten.

Kindergrundsicherung, Heizungsstreit, Verbrenner-Aus – schien alles schon geklärt, jetzt wird über alles gestritten: Kommt die Koalition sehr unterschiedlicher Parteien nach einem Jahr Ausnahmezustand nun in der Realität an?

Die Ampel kann sich in Meseberg auf die Ziele erneut verständigen, die sie erreichen wollen. Dazu sind veränderungspatriotisch große Zumutungen gegenüber den Bürgern erforderlich. Doch Bürger unterstützen durchaus Veränderungen, wenn sie das Gefühl haben, es geht fair, gerecht, sozial zu, und die Zumutungen sind zeitlich begrenzt. Diese Kommunikation der inklusiven Transformation, die große Erzählung, die sinnstiftende Kraft von Zielbeschreibungen, die enkelfähig sind – genau das könnte helfen, die sichtbaren Unterschiede in der Koalition zu moderieren. Die Hauptprotagonisten sind heute gefordert, diesen Modus wieder zu aktivieren, sonst wird der Regierungsalltag sehr mühsam für uns zum Zusehen: kleinteilig, rechthaberisch, auf der Stelle tretend.

Die FDP steht gerade besonders auf der Bremse. Christian Lindners „Wir fangen bei der Heizung ganz von vorne an“ ist dafür deutlichstes Zeichen. Retten sich die Liberalen damit – oder ruinieren sie sich und die Koalition?

Bürger belohnen Pragmatismus. Wähler lieben Flexibilität und Problemlösung, keine Ideologie. Deshalb schneidet die FDP, die extrem orthodox daherkommt, im Moment schlecht ab. Aber auch hier hilft eine Erinnerung an den Beginn: Die junge, neue Bürgerlichkeit wählte grün-gelb. Und diese Zitruspartner suchten sich beim Kanzlercasting die rote Variante mehrheitsbildend aus. Aus dieser Idee können Annäherungen und auch Veränderungen kommen.

Die Grünen haben viel geschluckt im letzten Jahr, aber anders als die FDP in den Umfragen kaum verloren. Gleichzeitig geraten sie unter immer größeren Druck von der Straße, vor allem beim Klima. Wie sollten sie auf die FDP reagieren?

Die Grünen haben als neue Macherpartei enormen Zulauf. Die SPD ist auf den Kanzler fixiert, der hohes Ansehen als Krisenlotse erfährt. Sein aggressives Schweigen ist anstrengend, aber für die meisten Bürger in Kriegszeiten extrem souverän und vertrauenswürdig. Die Erwartungen an die SPD und die Grünen sind klar definiert: Der Vorsorgestaat ist immer ein Sozialstaat. Die FDP setzt hingegen eher auf einen geräuschlosen Staat.

Die Dritte im Bund, die SPD, schaut sich die Konflikte meistens von der Seitenlinie an und tut fast so, als sei sie höchstens die Schiedsrichterin. Kann das gut gehen?

Die SPD führt und diszipliniert den Furor der Unterschiede. Sie macht das über die Vorsitzenden und den Kanzler nicht neodirigistisch, sondern kooperativ. Zielbild bleiben sozialstaatliche Pragmatik und moralischer Ernst. Vor allem die sozialstaatliche Programmatik spricht die sicherheitsdeutschen Wähler sehr an. Wir wollen durchaus Veränderungen, aber achten dabei sehr auf Gerechtigkeit. Hüter dieser Sichtweise bleibt in den Augen der Wähler die SPD.Olaf Scholz musste schon einmal mit einem Richtlinien-Brief ein Machtwort sprechen. Muss er das bald wieder, um die Koalition in ruhiges Wasser zu führen?

Die Spielregeln des Regierens sind in der Ampel anders: Die Kanzlerdemokratie wird von der kooperierenden Lern-Koalition überschrieben. Die Formate liegen dann nebeneinander, das heißt Richtlinienkompetenz, anpassen, tauschen, kuratieren. Das alles sind Instrumente zur Einigung. Auch hier ändert sich unser Maßstab: Früher war Richtlinienkompetenz ein Zeichen von angesagter Schwäche. Die Kanzler wirkten angezählt. Doch heute existieren in der Unterstützer-Allianz heterogene Muster einer Mehrheitsfindung, bei denen auch Richtlinienbriefe offenbar mit dazugehören, ohne dass gleich Abschiedsglocken läuten.

Und was heißt das alles für die Opposition?

Die Union kann 2023 ihre Blockademehrheit im Bundesrat behalten, wenn die CDU den regierenden Bürgermeister in Berlin stellen sollte, egal, wie Hessen ausgeht. Das ist ein Geschenk für weiterhin kooperative Opposition, die Wähler gerne belohnen.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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