Berlin.Table: Herr Giegold, Sie sind jetzt seit gut einem Jahr beamteter Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. Vermissen Sie dort die Freiheit, die sie zuvor im EU-Parlament oder bei Attac hatten?
Sven Giegold: Die Vorstellung, dass man im Ministerium eingebunden ist und in Brüssel frei, ist lustig. Denn wer nur die eigene Meinung vertritt, bleibt wirkungslos. Sobald man nach politischer Macht strebt, um ökologische und soziale Veränderungen zu erreichen, muss man immer in Organisationen gemeinsam handeln und damit auch Kompromisse vertreten. Bei Attac galt das noch stärker, weil das Bündnis dort früher besonders breit war. Insofern war die Arbeit in den NGOs für mich eine wunderbare Vorbereitung für Parlament und Regierung.
Trotzdem dürfte es doch deutliche Unterschiede geben.
Natürlich. Wenn man sich als Staatssekretär äußert, steht die Bundesregierung hinter den Worten. Das habe ich gleich zu Beginn auf die harte Weise gelernt, als ich mit einem Satz über Windräder und Rotmilane einen Shitstorm ausgelöst habe.
Wie gehen Sie damit um?
Von mir gibt es fast keine persönlichen Meinungsäußerungen mehr. Auch mit Forderungen halte ich mich zurück. Stattdessen kommuniziere ich heute fast ausschließlich, was wir erreicht haben, und erläutere die Hintergründe dazu. Ich will zeigen, dass Menschen, die mit Überzeugung Politik machen, innerhalb der Institutionen tatsächlich Dinge verändern können. Und ich glaube, das ist es auch, was Menschen von der Regierung erwarten: Dass sie Dinge verändert und voranbringt, nicht dass sie Meinungen kundtut.
Das sehen nicht alle in der Koalition so. Fällt es Ihnen nicht schwer, sich zurückzuhalten, wenn andere wieder mit unabgesprochenen Forderungen vorpreschen?
Nein. Für einen Politiker mag das überraschend sein, aber ich streite mich nicht gerne, sondern suche eigentlich immer nach dem Gemeinsamen. Zudem halte ich es für schädlich, öffentlich immer wieder die Koalitionspartner zu kritisieren.
Sie sitzen auf dem Posten, den unter Ludwig Erhard einst der konservative Ökonom Alfred Müller-Armack innehatte. Auch insgesamt gilt das Wirtschaftsministerium eher als konservativ. Wie sind Sie als Vertreter vom linken Flügel der Grünen hier aufgenommen worden, wie erleben Sie das Haus?
Offen, freundlich. Ich habe erlebt, dass sich hier im Haus – ebenso wie in der Gesellschaft insgesamt – viele gewünscht haben, dass es mit dem Klimaschutz endlich vorangeht. Das ist die politische Linie, die wir mitbringen und an der Umsetzung arbeitet das Haus mit all seiner Expertise.
Klimaschützer haben das Ministerium bisher eher als Zentrum der Energiewende-Blockade beschrieben.
Natürlich ist da gebremst worden, das will ich nicht in Abrede stellen. Aber es ist immer die politische Leitung eines Hauses, die Linie und die Agenda vorgibt. Und es war auch nicht so, dass Peter Altmaier ein persönlicher Hemmschuh für die Energiewende war. Er hat, wie ich inzwischen gelernt habe, viele Leute, die die Energiewende gefördert haben, auf ihren Posten gelassen. Und es war auch kein Zufall, dass der Erneuerbaren-Ausbau auch unter der Großen Koalition weiter gegangen ist, aber leider eben mit zu wenig Tempo und letztlich nicht mit der notwendigen Konsequenz. Der Widerstand gegen die Erneuerbaren war in der CDU/CSU-Fraktion härter als hier im Ministerium.
Wie hat sich die Energiekrise, die kurz nach Ihrem Amtsantritt so richtig ausbrach, auf das Haus ausgewirkt?
Das hat natürlich einen unglaublichen Stress erzeugt. Wir haben hier eine große Verantwortung. Ich habe einen riesigen Respekt vor den Beamtinnen und Beamten hier. Das wird eigentlich nie berichtet, mit welchem persönlichen Einsatz sie hier arbeiten. Die arbeiten Tag und Nacht, an Wochenenden, in etlichen Referaten schon über Monate.
Und in der Wirtschaftspolitik?
Da hatte das Ministerium lange den Ruf, dass teilweise die Interessen einzelner Wirtschaftsakteure mit Wirtschaftspolitik verwechselt wurden. Auch das wieder eine Frage der Leitung. Die Ordnungspolitik – da sind wir wieder bei Müller-Armack – hat einen ganz anderen Anspruch. Sie stärkt nicht den einzelnen Anbieter, sondern den fairen Wettbewerb. Der verschiebt sich jetzt, denn von der ökologisch-sozialen Wirtschaftspolitik profitieren manche Anbieter, andere müssen dagegen ihre Geschäftsmodelle verändern. Wir hören weiter auf die Anbieter-Interessen, hinterfragen sie aber vielleicht mehr.
Ihre wichtigste Personalentscheidung war die Neubesetzung der Leitung der Grundsatzabteilung mit Elga Bartsch. Was findet ein linker Grüner, der früher bei Attac war, an einer Frau, die von Blackrock kommt – einem jener Finanzinvestoren, die Franz Müntefering einst als „Heuschrecken“ betitelt hat?
Elga Bartsch ist eine anerkannte und renommierte Ökonomin, die in den zentralen Fragen makroökonomischer Politik die Prinzipien dieses Hauses mit moderner internationaler VWL verbindet. Deshalb habe ich sie selbst vorgeschlagen. Und bei Blackrock war sie ja nicht im Management, sondern in der Forschungsabteilung. Von dort bringt sie eine internationale Sicht auf die VWL mit, die für die deutsche volkswirtschaftliche Debatte eine Bereicherung ist.
Als im Sommer die Benzinpreise sehr viel stärker gestiegen sind als die Rohölpreise, haben sie eine Verschärfung des Kartellrechts angekündigt, um leichter gegen Missbrauch vorgehen und Konzerne entflechten zu können. Seitdem hat man davon wenig gehört. Hat die Industrie sie ausgebremst?
Entflechtung stand dabei nie im Mittelpunkt, sondern war nur als Ultima Ratio vorgesehen. Viel wichtiger sind neue Eingriffsmöglichkeiten des Kartellamts, das künftig schon tätig werden kann, wenn ein Missbrauch noch nicht kartellrechtlich nachgewiesen ist. Einzelnen Akteuren gefällt das zwar nicht, aber ich rechne damit, dass die Vorschläge sehr bald im Kabinett sein werden. Schließlich ist eine konsequente Wettbewerbspolitik eine gemeinsame Schnittmenge aller Koalitionsparteien.
Verantwortlich sind Sie auch für die Rüstungsexporte. Wie ist das, wenn man als ehemaliger Friedensbewegter plötzlich Waffenexporte in Länder wie Saudi-Arabien genehmigen muss?
Diese Entscheidung war die bisher schwierigste, an der ich beteiligt war. Denn ich bin zutiefst überzeugt, dass es nicht sinnvoll ist, Rüstungsgüter in Länder zu exportieren, mit denen wir bei Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten Grundsatzkonflikte haben. Aber es war im Kern eine Abwägung zwischen den Grundprinzipien grüner Rüstungsexportkontrollpolitik und der zukünftigen Zusammenarbeit in Europa mit unseren engsten Partnern.
Und warum ist die Abwägung gegen die Grundsätze ausgefallen?
Es ging um gemeinsame europäische Programme. Die gründen auf Verträgen, und wer sich an Verträge nach einem Regierungswechsel nicht mehr hält, hat Schwierigkeiten, in Zukunft neue Verträge zu schließen. Die brauchen wir aber, weil es in Europa keine Zukunft hat, dass jedes Land seine eigene Rüstungspolitik macht – sonst würden wir alle mit teuren und veralteten Waffen dastehen. Um diese Zusammenarbeit nicht zu gefährden, hat der Bundessicherheitsrat zugestimmt. Der bilaterale Lieferstopp für deutsche Rüstungsgüter nach Saudi-Arabien gilt weiter. Um für die Zukunft aus diesem Dilemma herauszukommen, wollen wir die Rüstungsexportkontrollpolitik europäisieren.
Zuständig sind Sie auch für die Verhandlungen auf EU-Ebene, etwa zum Klimaschutz. Da haben Sie mit verschiedenen Äußerungen den Eindruck erweckt, dass Sie mit der Berichterstattung in den Medien nicht wirklich zufrieden sind.
Ich habe zumindest den Eindruck, dass das, was den größten Nachrichtenwert hat, oft nicht das ist, was die größte Relevanz für Wirtschaft und Gesellschaft hat.
Zum Beispiel?
Am absurdesten fand ich es, als im Juni in einer ewigen Nachtsitzung riesige Fortschritte im europäischen Klimaschutz beschlossen wurden – faktisch eine Verdopplung der Klimaambitionen der EU. Aber nach meinem Eindruck waren das nicht die Hauptschlagzeilen, sondern die galten einem Erwägungsgrund, in dem es um eine mögliche Abweichung vom Aus für den Verbrennungsmotor ging.
Aber das war doch auch eine spannende Frage.
Für das Gesamtpaket war es nebensächlich. Aber offensichtlich hat eine komplexe, wichtige Einigung zur Überlebensfrage des Klimaschutzes einen geringeren Nachrichtenwert als ein faktisch unwichtiger Streit. Und mein Eindruck ist, dass sich das durch den Newsroom-Journalismus noch verstärkt. Denn dort wird mehr darauf geachtet, was sich gut klickt – und weniger darauf, was kompetente Journalistinnen und Journalisten für relevant halten.
Liegt das wirklich nur am Journalismus?
Nein, das stimmt schon: Auch die Politik bedient sich oft symbolischer Schlagwörter und leicht verständlicher Zuspitzungen. Und auch NGOs, Verbände und Interessenvertreter müssen ihre Interessen vertreten, und zwar so, dass es wahrgenommen und geklickt wird. Das birgt eine besondere Gefahr: Bei allen Themen, ohne großes Potenzial der Skandalisierung und Zuspitzung entscheiden wir dann in den Institutionen ohne starke demokratische Kontrolle. Genau deshalb ist es mir wichtig, die Zusammenhänge von Entscheidungen gerade in der Europapolitik darzustellen und dafür zu werben.
Um nochmal auf den Anfang zurückzukommen: Haben Sie Ihren Wechsel von Brüssel als Beamter nach Berlin jemals bereut?
Nein, überhaupt nicht. Das Europaparlament ist ja, anders als der Bundestag, ein Parlament, in dem es nur wenige lang dienende Abgeordnete gibt. Nach zwölf Jahren dort war auch für mich persönlich der Punkt gekommen, etwas Neues zu machen. Und auch wenn ich mit staatlichen Autoritäten früher so meine Probleme hatte, fühle ich mich in meiner neuen Rolle sehr wohl. Aber eins ist von der libertären Skepsis meiner Jugend geblieben: Ich habe eine tief sitzende Abneigung gegen Bürokratie – und bin darum wirklich froh, dass ich jetzt mit einigem Erfolg auch für Bürokratieabbau zuständig bin.