Omid Nouripour tritt von dem einen auf den anderen Fuß. Den Blick richtet er starr zum Redner des Protests, seine Finger kneten ein Flugblatt der Organisatoren. Dröhnende Trillerpfeifen, Banner mit „Grenzpolitik tötet“ in scharfkantigen Großbuchstaben umgeben Nouripour. Manche tragen zum Protest Rettungsringe um den Hals, während sie in der Sonne stehen. Der Parteichef und seine Grünen stehen im Sturm an diesem Samstag, kurz vor Beginn des Länderrats.
Kein ruhiger Sommertag im hessischen Bad Vilbel: Die Grünen-Funktionsträger aus dem Bund und aus den Ländern spüren auch hier Wut und Enttäuschung über die Asylreform. Der Redner bittet Nouripour, zu sprechen. „Nein“, brüllt es aus dem Publikum. „Willst du jetzt?“, fragt der Redner. „Ah ne, Omid muss zu einem Interview.“ Der Grünen-Chef wendet sich ab. „Da ham wa doch die Antwort“, schreit eine Teilnehmerin. „Die haben Mitschuld“, eine andere.
Nouripour muss nicht nur zu einem Interview. Er muss auch weiter, um über das zu beraten, was die Grünen derzeit spaltet wie kaum eine andere Diskussion. Sie regieren. In Ländern, im Bund. Mit Partnern, die Kompromisse abverlangen, auch bei Grundüberzeugungen. Regieren schmerzt. Regieren ermächtigt aber auch. Nach knapp zwei Wochen öffentlicher Uneinigkeit über den von Kabinettsmitgliedern mitgetragenen und von anderen hart kritisierten EU-Asylkompromiss muss die Partei sich an diesem Samstag fragen: Haben wir noch genug gemein? Stehen wir noch auf dem gleichen Fundament? Glauben wir weiter daran, dass wir regieren sollten? Und: Vertrauen wir uns noch?
20 Minuten vergehen nach dem offiziellen Start, eine halbe Stunde, 40 Minuten. Die Bühne bleibt verlassen. Dann betritt die weitere Führung um die Parteivorsitzenden, die Minister und die Fraktionsspitze die Bühne. „Bis zur letzten Sekunde haben wir verhandelt“, sagt eine Beteiligte am Rande. 52 Änderungsanträge mussten sie abarbeiten, verkündet ein Präsidiumsmitglied später. Viele forderten schärfere rote Linien gegen Asyl-Vorstellungen der Koalitionspartner.
Die Führungsebene appelliert in ihren Reden, Schmerzen auszuhalten; wirbt für das Regieren. Bindet manche Position in der Klima- wie in der Asylpolitik ein, um kleine Brücken zu bauen zu den Vorstellungen von FDP und SPD. „Am Ende des Tages ist Klimaschutz nichts anderes als ein riesengroßer Job-Motor“, sagt Ricarda Lang. „Wir werden nicht zurückgehen in die Nische. Wir werden in die Breite gehen.“
Lang und auch ihr Nachredner Tarek al-Wazir präsentieren das Narrativ: Wandel durch Regierungsverantwortung, auch wenn damit verbundene Kompromisse schmerzen mögen. „Ich traue mir das zu“, sagt al-Wazir über sein Vorhaben, im Oktober aus der Hessen-Wahl als stärkste Kraft hervorzugehen. Er will, was bisher nur Winfried Kretschmann schaffte: Grüner Ministerpräsident sein.
Robert Habeck straft manche Stimmen der vergangenen Wochen Lügen. Ihm sei die Puste ausgegangen, lauteten Mutmaßungen; verbittert sei er nach der Causa Graichen und dem Streit ums Heizungsgesetz. Habeck zitiert den DDR-Lyriker Wolf Biermann: „Lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit.“ Druck und Konfrontation pralle von allen Seiten auf die Grünen ein, denn: „Jetzt wird allen deutlich, dass wir regieren.“ Aus den Attacken der anderen dürfe nicht folgen, „dass wir konfrontativer werden“.
Alles fokussiere sich auf die Grünen. „Wir wissen, dass, wenn man regiert, der Wind immer von vorne kommt. Der wird auch nicht weggehen.“ Habeck stimmt in eine Erfolgs-Erzählung ein, die Katharina Dröge zuvor beschworen hat. Nie zuvor sei so viel für Klimaschutz geschehen wie in den 15 Monaten seit Ampel-Start. Nie so schnell, so konsequent. „Habt keine Sehnsucht nach einer Minderheiten-Position. Habt keine Sehnsucht nach Opposition.“
Omid Nouripour erzählt, dass ihn die Frage eines Passanten einst in die Politik gebracht habe. „Kann ich hier gegen Ausländer unterschreiben?“, habe der wissen wollen. Genau das habe dazu geführt, dass einer wie er in die Politik gegangen sei. Um das zu ändern. Viele Grüne mit Vorgeschichten oder Vorfahren aus arabischen und afrikanischen Ländern sprechen in Bad Vilbel. Erzählen von Verwandten aus Syrien, denen keine realistische Alternative bleibt, als sich illegal übers Mittelmeer zu retten. Von Cousins, die Kopfschüsse knapp überlebten.
„Auch mich hat es zerrissen. Natürlich“, sagt Annalena Baerbock, Hauptadressatin der parteiinternen Kritik. „Alles super“ – so habe sie den Kompromiss niemals verkauft, und doch sei er „eine kleine Verbesserung“.
Wie Habeck, wie die anderen Führungsleute, appelliert Baerbock an die Delegierten, die Schmerzen des Regierens zu ertragen. „Ich möchte dafür werben, dass wir eine Partei der Zumutung bleiben, egal wie sehr sie schreiben: Wir sind zerrissen.“ Würden die Grünen sich der Zumutung entledigen, in die Opposition verschwinden, könnten sich „Feinde der Menschenrechte“ ausbreiten, hätten gewonnen.
Der kollektive Spagat der Grünen-Führung scheint zu gelingen; die Spitze schafft es mit ihren Reden, Wut und Enttäuschung abzumildern. Verstehen, was den Unmut treibt; zugleich ans Pflichtbewusstsein appellieren: Opfert die Chance, im Kleinen was zu verbessern, nicht gegen die reine Lehre, die in der Opposition schön klingen mag, doch theoretisch bleibt.
Was alles passiert ist in den Vortagen, es fließt in viele Reden ein. „Wir vertrauen in unser Führungspersonal“, versichern am Ende selbst jene, die in der Sache öffentlich am lautesten protestiert haben.
Auch Aminata Touré äußert Verständnis. Zustimmung kann sie sich für den Kompromiss nicht abringen, in dessen Folge mehr Herkunftsstaaten als sicher gelten sollen, Asylsuchende an Außengrenzen stecken bleiben, vorerst in haftähnlichen Lagern landen. „Es sind Menschen wie meine Familie vor 30 Jahren“, sagt Schleswig-Holsteins Integrationsministerin und kämpft um Fassung. Keiner Rede folgt so viel Applaus wie ihrer. Die allermeisten im Saal stehen, klatschen, jubeln. Während Habeck, Baerbock und andere sitzen bleiben, sind Ricarda Lang und Omid Nouripour aufgestanden.
Am Ende bleiben Zahlen: Von den 52 Änderungsanträgen ist einer übernommen und 20 sind modifiziert worden. So verkündet es das Präsidium. Ein Antrag der Grünen Jugend, die viel schärfere rote Linien ziehen wollte, unterliegt dem Kompromiss.Erik Marquardt hat für ihn geworben, der Europaabgeordnete, der zu den präsentesten Kritikern der Reform gehörte. Der Kompromiss, er setzt sich durch. Auch innerhalb der Grünen.
„Ich weiß, dass Annalena kämpfen kann. Und das erwarte ich von ihr: dass sie kämpft“, sagt eine Abgeordnete. Dafür seien Freiräume nötig.
Erleichterung mischt sich mit Erschöpfung, als der kleine Parteitag endet. Überglücklich ist niemand. Die Realität erschwert Zufriedenheit. Aber sich selbst vergewissern – das ist der Partei gelungen. Aufatmen, ausatmen. Das ist mehr, als die Parteiführung vorher hoffen konnten. Das Gros schwärmt Richtung S-Bahn, viele zurück nach Berlin. Die erweiterte Führung hat sich im Gebäude zurückgezogen. Nur einer taumelt über grau-grüne Gänge. Omid Nouripour lässt die Schultern hängen, sein Kopf wirkt schwer. Als er bemerkt, dass er gesehen wird, schmunzelt er müde. „Oh, Entschuldigung.“ Eindrucksvoller lässt sich nicht beschreiben, wie erschöpft er in diesem Moment ist.