Sie hatten sich das so schön vorgestellt in der Grünen-Parteizentrale. Rückkehr nach Karlsruhe. Gründungsmythos vor 43 Jahren. Nach dem Motto: Schaut hin, wo wir herkommen – und schaut her, wo wir heute sind. 1980 ist hier aus vielen Bewegungen eine Partei geworden. Wild. Streitend, mit sich ringend, aber auch erfolgreich. So erfolgreich sogar, dass sie seit zwei Jahren zum zweiten Mal regiert. Kein Wunder, dass diese BDK eine der Superlative werden sollte: 825 Delegierte, 1700 Gäste, Vier-Tage-Marathon mit insgesamt 5000 Leuten.
Und doch ist Ende November 2023 aus dem stolzen Gefühl der Macht die bleischwere Last größter Schwierigkeiten geworden. Haushaltskrise, Ampel-Streit, größte Zukunftsunsicherheiten – wozu soll das Ganze noch gut sein? Mit einem Mal geht es nicht mehr um die Aufzählung von Baustellen und Erfolgen, sondern um die Rechtfertigung, an einer heiklen und sehr mühsamen Koalition festzuhalten. So schnell kann es gehen, zwischen schöner Erinnerung und harter Gegenwart.
Der Erste, der dazu am Donnerstag das Wort ergreift, ist der Parteichef. Und Omid Nouripour zeigt schnell, was er sich für diesen Abend vorgenommen hat: Er möchte seiner verunsicherten Mannschaft, seiner zweifelnden Familie wieder Mut und Zuversicht einhauchen. Wobei: Nicht einhauchen. Nouripour ruft in den Saal, wie schwer es gewesen sei, vor zwei Jahren ein Land zu übernehmen, das massiv unvorbereitet gewesen sei auf alles, was dann kam. „Die Zeiten sind angespannt, die Krisen sind gewaltig“, sagt Nouripour. Und obwohl es jetzt massive Angriffe gegen die Grünen gebe, werde er nicht die Decke über den Kopf ziehen. „Die Angriffe kommen, weil wir wirken“, ruft Nouripour. „Sie kommen, weil sie uns in die Nische schieben wollen. Aber wir werden das nicht zulassen.“
Nouripour spricht viel über die aktuellen Krisen in der Welt, über jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg und die Pflicht, jüdische Menschen heute zu beschützen. Er spricht über den Terror der Hamas, das Leiden der Palästinenser, erzählt von Begegnungen mit Angehörigen der Geiseln – und bittet eindringlich darum, auch die Menschen in der Ukraine nicht zu vergessen. Aber sein eigentlicher Punkt ist das Bemühen, den Delegierten wieder Sicherheit zu geben.
Und damit ihm das gelingt, erinnert er daran, dass die Probleme, mit denen das Land und die Grünen in der Ampel kämpfen, aus seiner Sicht geerbt sind. „Die Probleme schlagen doch nur durch, weil sich die Grokos nicht gekümmert haben.“ Es folgt eine lange Aufzählung: Energiewende, Staatsbürgerschaftsrecht, Chancenaufenthaltsrecht, Abschaffung des Paragrafen 219a – und das neue Fachkräftezuwanderungsrecht. All das zeige, wie viel schon erreicht worden sei – und warum es lohne, weiterzumachen. „Nicht viel Feind, viel Ehr – das reicht nicht“, so Nouripour. „Lasst uns ausstrahlen, dass wir offene Augen, offene Ohren, offene Herzen auch für Argumente andere haben. Wir sind nicht verzagt, sondern zeigen, dass wir Demokraten sind.“
Misst man es am Beifall, dann gelingt Nouripour, was er sich vorgenommen hat. Er erntet viel Applaus und will den nicht für sich alleine haben. Also holt er alle Bundesministerinnen und Minister auf die Bühne, dazu seine Co-Parteichefin, die Fraktionsspitze, auch Winfried Kretschmann. Gruppenbild zur allgemeinen Mutmachung – so könnte man das wohl bezeichnen.
Und so könnte dieses Bild für diesen ganzen ersten Abend stehen, wenn nicht wenig später Robert Habeck aufgetreten wäre. In den vergangenen Tagen wirkte er im Fernsehen und im Hörfunk angeschlagen ob der Nöte, in die das Karlsruher Haushaltsurteil gerade auch ihn zuletzt gestürzt hat. Doch hier, in Karlsruhe, am Ort der Gründung, hat auch er sich etwas vorgenommen. Und das kann man ungefähr so zusammenfassen: Jetzt gilt es. Für die Grünen, für Deutschland – und irgendwie auch für ihn selbst.
In knapp 20 Minuten entwirft er in bislang selten bis nie gezeigter Kämpferrhetorik ein Bild, das für ihn, für die Grünen und fürs ganze Land wegweisend sein soll. Mag sein, dass er zuletzt Luft holen musste. An diesem Abend nimmt er kein Blatt mehr vor den Mund. „Was wir jetzt erleben, ist kein Spiel und es verträgt keine Spielerei“, so der Vizekanzler. „Es ist ernst und es braucht Ernsthaftigkeit aller.“
Für Habeck geht es um die große Frage, ob sich Europa und Deutschland in der Welt behaupten. In scharfer Konkurrenz um wirtschaftlichen Wettbewerb, in heftigem Ringen um die Nutzen der Klimapolitik. Die Haushaltskrise, der Richterspruch aus Karlsruhe – das alles sei eigentlich keine Krise mehr, sondern stelle plötzlich und endlich dem ganzen Land die entscheidende Frage: Ob Deutschland sich selbst behaupten werde, ob es gelinge, den Wohlstand zu sichern und die eigene Souveränität wiederzuerlangen. Genau die nämlich habe die Große Koalition über viele Jahre verspielt: „Realitätsblind gegenüber Putin, realitätsblind gegenüber China, realitätsblind gegenüber der Klimakrise“.
Habeck mag keine freundliche Rücksicht mehr nehmen auf eine eigentlich geschätzte Ex-Kanzlerin. Und erst recht hat er keine Lust mehr, Friedrich Merz mit Worten zu schonen. Dessen Frohlocken, dass Transformation jetzt nur noch durch Technologie stattfinde, sei einfach falsch. „Das ist realitätsuntauglich, gefährdet den Wohlstand, gefährdet die Kampfkraft dieser Republik.“ Andere Länder kümmerten sich. Deutsche Politiker aber fragten sich immer noch, ob sich das vielleicht doch von alleine erledige. „Nein“, ruft Habeck. „Wir sind nicht mehr in der Zeit der Groko. Das tun wir nicht.“ Jetzt stehe endlich die Frage im Raum, ob die Regeln, die aus einer anderen Zeit kommen, heute noch gelten könnten. „Ich sage: Nein.“
Habeck fasst seine Rede am Ende so zusammen: „Wir sind gewählt worden, um im Ring zu kämpfen, nicht um am Rand Papierchen hochzuhalten.“ Es sind knapp 20 Minuten, die zeigen, dass er nicht müde ist, sondern aus seiner Sicht der Kampf erst jetzt richtig losgeht. Wer will, kann das auch als Rede von einem lesen, der bei der nächsten Wahl ganz von vorne kämpfen möchte.