Tarek Al-Wazir ist enttäuscht. Und niemand sollte ihm das vorwerfen. Zehn Jahre lang war der hessische Grünen-Chef für die CDU ein verlässlicher Koalitionspartner. Er schluckte Verfassungsschutzskandale und höchst problematische Polizei-Schwachstellen in Hessen. Zum Nutzen des Bündnisses spielte er Fehler und Schwächen des Partners nie aus, sondern versuchte sich stets als Brückenbauer. Zugleich war er – moderat, nicht provokant – ein grüner Modernisierer, der die unter Volker Bouffier alternde CDU schob und drängte, aber nicht dauernd herausforderte oder gar provozierte. Aus Sicht der Grünen und aus der Sicht Bouffiers war er ein fairer Partner.
Umso härter hat ihn die Tatsache getroffen, dass sich Boris Rhein trotzdem für die SPD entschieden hat. Noch dazu eine SPD, die am Wahlabend einen historischen Negativrekord erreicht hat. Verständlich wären deshalb Enttäuschung, Wut und dann eine zornige politische Reaktion. Von ihm und womöglich noch mehr von den Grünen in der Hauptstadt. Doch was wie eine sehr plausible Reaktionskette erscheinen mag, könnte die Grünen schnurstracks in eine Sackgasse führen.
Noch sagen die Pragmatiker in der Parteiführung das nicht laut; noch herrschen Überraschung und Bestürzung. Aber vor allem die Moderaten wissen, dass diese gefühlte und tatsächliche Großniederlage etwas widerspiegelt, was alle in der Partei beschäftigen müsste: dass die Grünen binnen zwei Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung einen großen und für sie gefährlichen Wandel durchgemacht haben. Sie sind von einer Partei, die zunehmendes Interesse anzieht und in größere Wählermilieus ausgreift, zu einer Partei geworden, die Misstrauen auslöst und Menschen abschreckt.
Das gilt nicht für ihre Stammwähler, also jene 12 bis 14 Prozent, die einigermaßen stabil zu ihrem Milieu gezählt werden können. Aber es gilt für all jene, die ihnen seit vier, fünf, sechs Jahren mit immer größerer Neugier mehr Aufmerksamkeit schenkten und sich in immer größerer Zahl vorstellen konnten, den Grünen gleich oder in naher Zukunft ihre Stimme zu geben. Die Rede ist von jenen, die es 2020 und 2021 tatsächlich als realistisch erscheinen ließen, dass die Grünen eine Chance aufs Kanzleramt haben könnten. Das Ergebnis der Grünen aktuell aber sieht anders aus. Sie halten ihre gut 14 Prozent in bundesweiten Umfragen. Aber die Zahl derer, die die Grünen nicht mehr als Option und Chance, sondern als Belastung empfinden, hat stark zugenommen.
Für Al-Wazir und die Pragmatiker macht das die Bewertung der Lage besonders komplex. Nicht auszuschließen ist, dass ihm vor allem die entschlosseneren Vorkämpfer der reinen grünen Lehre in den kommenden Wochen vorwerfen werden, er sei naiv gewesen und hätte eigentlich viel entschiedener Grundüberzeugungen der Partei vertreten müssen. Ja, es kann ihm und den Moderaten in der Berliner Partei- und Koalitionsführung sogar passieren, dass die grünen Hardliner die Niederlage von Al-Wazir zu einer Niederlage aller Pragmatiker machen wollen. Die Botschaft könnte lauten: Seht her, es lohnt sich nicht. Wir müssen noch viel härter für den Klimaschutz und für umfassende Hilfe für Flüchtlinge kämpfen.
Hört man in die Bundestagsfraktion hinein, gibt es diese Gefühle. Nicht wenige Seelen sind längst aufgerauht von den vergangenen Monaten, fühlen sich kaum noch zuhause in der Ampel; sind genervt von einer FDP, die selbst kaum eigene Ideen hat, aber alle grünen Vorschläge blockiert. Und sind enttäuscht von einem Kanzler, der sich in keinem Fall entschlossen hinter die Grünen gestellt hat. Nicht beim Heizungsgesetz, nicht beim Industriestrompreis, nicht in der Landwirtschaft, und seit kurzem erst recht nicht in der Flüchtlingspolitik. Das alles hat in immer mehr Köpfen zu der zentralen Frage geführt: Lohnt sich das alles noch? Hat es überhaupt einen Sinn, so viele Kompromisse mitzutragen und auszuhalten? Sind die womöglich sogar schuld an der schwindenden Zustimmung?
Doch so verständlich, ja sogar logisch diese Zweifel im ersten Moment vielen erscheinen – liest man das Eckpunktepapier, das nun zur Grundlage für die schwarz-roten Verhandlungen in Hessen geworden ist, kann man auch zu einem ganz anderen Schluss kommen. Dieses Papier definiert vor allem aus dem Blick der CDU, was die beiden künftigen Partner in Hessen anstreben. Und damit zeigt es nicht nur zwischen den Zeilen sehr präzise, warum Rhein sich für eine hochflexible SPD und gegen eine selbstbewusste grüne Partei entschieden hat. Wirtschaftsstandort, Landwirtschaft und Flüchtlingspolitik sind Hauptbegründungen. Und das legt offen, dass Boris Rhein zwar von hessischen Perspektiven spricht, aber in Wahrheit genau jene Bruchstellen definiert, die in der öffentlichen Wahrnehmung überall gegen die Grünen ins Feld geführt werden.
Je nach Lesart heißt das für die Grünen, dass sie entweder nicht durchdringen mit ihren guten Ideen und sich also lautstärker und härter einbringen müssten. Oder dass sie in der Wahrnehmung eines wachsenden Teils der Bevölkerung wieder als nervende Besserwisser und Überforderer erscheinen. Anhänger der ersten Variante werden in den kommenden Wochen bis zum Bundesparteitag darauf drängen, wieder entschlossener eigene Positionen zu vertreten und im Zweifel die Gräben in der Ampel kenntlicher zu machen. Zweifler, die eher der zweiten Analyse zuneigen, werden dagegen offen darüber nachdenken, wie die Grünen es trotz der aktuell negativen Grundstimmung schaffen können, für einen wieder größeren Teil der Gesellschaft als unverzichtbarer Part in der Regierung zu erscheinen.
Letzteres ist deshalb für viele zentral, weil es in den letzten Jahren eigentlich außer Frage stand, dass die Grünen auch einer nächsten Regierung angehören würden. Angesichts von Klimaschutz und Umweltrettung schien das gesetzt zu sein. Doch wer sich genau ansieht, was die Wahlen in Berlin Anfang des Jahres und nun in Hessen gebracht haben, muss die Botschaft von Schwarzen und Roten so interpretieren: Es geht auch ohne euch.
Das lenkt den Blick auf Baden-Württemberg, wo zwar erst in zweieinhalb Jahren ein neuer Landtag gewählt wird. Aber Manuel Hagel, 35, der neue starke Mann der CDU im Land, hat schon zu erkennen gegeben, dass für ihn 2026 eine Fortsetzung von Grün-Schwarz oder auch Schwarz-Grün kein Naturgesetz ist. Sondern dass er sich auch andere Optionen offen halten will.
In Berlin schlummert dahinter eine zusätzliche Variante, über die kaum jemand offen, aber viele leise sprechen: ein sogenanntes Deutschland-Bündnis aus Union, SPD und FDP. Schwarz-Rot-Gold. Bisher gibt es ein solches Bündnis nur in Sachsen-Anhalt, und noch kann auch niemand sagen, ob die FDP dem nächsten Bundestag überhaupt angehören wird. Sicher ist nur, dass diese Variante in allen drei Parteien mehr und mehr auch als Chance betrachtet wird. Entschieden ist deshalb nichts. Und doch sind die Kontakte von Olaf Scholz und Friedrich Merz, so zäh sie in Anbahnung und Umsetzung wirken, aber auch die Gespräche zwischen Kanzler und den Ministerpräsidenten ein deutlicher Hinweis an beide Ampel-Partner, also auch an die Grünen: Ich schaffe es auch anders.
So stehen die Grünen vor einer schwierigen Abwägung. Stützen sie sich noch mehr auf den wieder zunehmend beliebten Robert Habeck, der wie kein anderer in ihren Reihen für Kompromisse und Pragmatismus, aber auch für Wähler-attraktive Fähigkeiten steht? In der Hoffnung, dass das bei der nächsten Bundestagswahl die Chance bietet, so stark zu werden, dass man an den Grünen eben doch nicht vorbeikommt. Oder ist die Mehrheit der Grünen so enttäuscht, verwundet und zornig, dass sie lieber wieder für eine klarere Linie kämpft, in der Hoffnung, dass ihre Kernklientel und die weiteren Entwicklungen beim Klimawandel ihnen ganz automatisch zusätzliche Stimmen bringen?
Im grünen Teil des Kabinetts könnten Umweltministerin Steffi Lemke und Lisa Paus eher zur zweiten Analyse tendieren, Robert Habeck und Cem Özdemir gelten noch immer als Verfechter des ersten Wegs. Offen ist, wofür sich Annalena Baerbock entscheidet. Und das öffnet den Blick auf die letzte und vielleicht sogar gefährlichste Baustelle: die ungeklärte Führungsfrage. Noch immer weiß man nicht, wie sehr das Duell zwischen Baerbock und Habeck in den kommenden Monaten wieder aufbricht. Dass es eine stabile Gruppe prominenter Frauen gibt, die Baerbock am liebsten eine zweite große Chance geben würden, steht außer Zweifel. Zugleich gibt es eine auch nicht unerhebliche Gruppe, die dafür eintritt, beim nächsten Mal Habeck ganz nach vorne zu stellen.
Für den früheren Parteichef wäre es der erste und vermutlich letzte Anlauf, um tatsächlich von der Spitze aus in den Wahlkampf zu ziehen und das Duell mit Scholz, Merz und Sahra Wagenknecht mit seiner Art des Auftritts zu suchen. Dabei könnte ausgerechnet Wagenknecht ihm eine klitzekleine Hilfe sein: Durch sie ist schon jetzt sichergestellt, dass nicht nur Männer als Spitzen- oder Kanzlerkandidaten antreten werden.
Mit klareren Positionen in den Kampf ziehen? Oder mit demonstrativem Pragmatismus noch mal um mehr Stimmen kämpfen? Vor dieser Entscheidung stehen die Grünen. Das eine hieße, sich wieder wohler zu fühlen mit den ganz eigenen klaren Positionen; das andere hieße, in den extrem sauer gewordenen Apfel zu beißen und sich mit betont moderater Politik der aktuellen Stimmungslage im Land anzupassen. Letzteres wäre für viele Grüne viel mühsamer, wäre kurz gesagt extrem schwer angesichts der anstrengenden vergangenen zwei Jahre, die aus Sicht vieler Grüner zu wenig inhaltlichen Lohn gebracht haben. Aber es hieße auch, unverdrossen für größere politische Mehrheiten zu kämpfen, auch bei denen, die nicht automatisch, aber eben bei entsprechender Attraktion Grüne wählen würden.
Dass das schiefgehen kann, haben sie gerade in Hessen erlebt, allerdings in einer Situation, in der viele nicht gegen Tarek Al-Wazir votierten, sondern den Grünen wegen der bundesweiten Grundstimmung ihre Stimme nicht gegeben haben. Dass es gelingen kann, hat die Partei zwischen 2017 und 2021 erlebt, als die sie mit offenem Blick für immer mehr Menschen attraktiv wurde.