Analyse
Erscheinungsdatum: 30. August 2024

Görlitz: Ganz Sachsen spiegelt sich in dieser Stadt

Görlitz ist seit Jahren die Kulisse von Auseinandersetzungen, die weit über die Region hinaus strahlen. Trotz seiner peripheren Lage steht die östlichste Stadt Deutschlands beispielhaft für grundsätzliche Konflikte Sachsens. Ein Besuch im Wahlkampf-Endspurt.

„Ich bin kein Freund der Sonne“, sagt Michael Kretschmer. Wasser haben seine Wahlkampfhelfer. Tüten und Autos mit seinem Gesicht. Nur Schatten liefern sie nicht. Eine Litfaßsäule hilft aus. Entlang ihres diagonalen Schattens reihen sich Menschen vor dem Ministerpräsidenten auf. Mittwochmittag, noch vier Tage, bis Sachsen wählt. „Ich möchte Ihnen viel Kraft wünschen, auch gegen die Anfeindungen“, sagt eine Wählerin. Die nächste will ein Selfie für die Nichte.

Görlitz ist für Michael Kretschmer ähnlich wie Magdeburg für Tokio Hotel, nur ohne Glamour: Alle kennen ihn. Viel Jubel. Viel Wut. Kretschmer kommt aus Görlitz. 1994 Stadtratssitz, 1999 Kreisverbands-Vorsitz. 2002 per Direktmandat in den Bundestag, vier Legislaturen lang. Es ist die Zeit, in denen Sachsens CDU jubelt, sie könne selbst einen Besenstiel aufstellen und werde doch gewählt. Ihr Kreuz ist so breit wie das der CSU – Wählerstimmen muss sie nicht gewinnen, sie sind einfach da. Sachsen lässt sich durchregieren. Eine Attitüde, aus der Ignoranz blüht.

Am 24. September 2017 die Zäsur. Kretschmers Karriere fällt kurz komplett in sich zusammen. Er verliert sein Mandat. An einen Malermeister, den er aus der Jungen Union kennt. Der Wahlkreis wählt Tino Chrupalla zu seinem Vertreter im Bundestag – und Kretschmer ab. Der Erfolg ebnet Chrupalla den Weg an die Bundesspitze der AfD; Kretschmer in die Krise. Vorerst.

Unter den vielen Phänomenen von Görlitz mag seine Erzählgewalt vielleicht das Bemerkenswerteste sein: Als abgelegene Region am äußersten Ost-Rand der Republik bietet es Superlativen und Personen eine Kulisse, deren Bedeutung ins ganze Land ausstrahlt. Nicht nur Hollywoodproduktionen von „Grand Budapest Hotel“ bis „Inglourious Basterds“ drehen in Görlitz, hier finden auch reale Polit-Dramen statt: Braunkohleausstieg und Strukturwandel, Überalterung, Abwanderung und Leerstand – von den politischen Entscheidern in den Hauptstädten nur am Rande wahrgenommen.

Immerhin, so desaströs wie früher sieht es auf den Konten der Menschen nicht mehr aus: Mit zuletzt 8,3 Prozent der Beschäftigten sind aber weiter mehr arbeitslos als im Bundesschnitt. Der Bruttolohn liegt mit 3.039 Euro 767 Euro unter dem mittleren Lohn Deutschlands. Görlitz gehört zu den Kreisen mit der niedrigsten Kaufkraft im Land, wenn auch nicht mehr zu den allerniedrigsten. An verschnörkelte Prachtfassaden aus vergangenen Jahrhunderten lehnen sich bröckelnde Ruinen, deren Löcher wie offene Wunden klaffen.Viele Häuser gehören Eigentümern aus Baden-Württemberg oder Bayern, die auf Wertsteigerungen warten, einen guten Schnitt machen wollen.

Auch die AfD feiert ihren sächsischen Wahlkampfabschluss am Freitagabend in Görlitz. Zwischen einem alten Wehrturm und dem historischen Kaufhaus hüpft eine Frau in Sommerkleid zu ihren Begleitern zurück und kreischt, dass sie Autogramme bekommen habe, wedelt sich vor Aufregung damit Luft ins Gesicht. Alice Weidel ist neben Chrupalla der Star des Abends, steht ausgewählten Fans für Selfies und Autogramme bereit. Ihren Ton hat die Bundeschefin, die am anderen Ende der Republik wohnt, weiter verschärft. Kriminelle Geflüchtete bezeichnete sie als „Bestien“. In Deutschland würde „der Asylant“ sein Geschlecht im Personalausweis zur Frau umtragen lassen und dann nicht mehr abgeschoben. „Karl Kautabak“ könne sich morgens vor dem Spiegel einfallen lassen, künftig eine Frau zu sein, um Schwangerschaftstests von der Krankenkasse bezahlt zu bekommen. Von Görlitz und Sachsen gehe eine blaue Welle aus, beschwört die Partei immer wieder an diesem Abend, die sich bald auch in den Westen ziehen würde. Für die Bundestagswahl formuliert Chrupalla das Ziel, stärkste Kraft zu werden.

Am Wahlkampfstand von Michael Kretschmer rattert eine Straßenbahn vorbei. Linie 2, in Richtung Wiesengrund. Dass eine 57.000-Einwohner-Stadt darüber verfügt, mag verwundern; eine ICE-Anbindung gibt es bis heute nicht. Die Schienen ließ Görlitz in aussichtsreichen Zeiten legen. 1949 überschritt es die 100.000-Einwohner-Marke. „Ohne unsere polnischen Mitarbeiter wäre Görlitz tot, ich kriege für meinen Betrieb keine Auszubildenden mehr“, klagt am Wahlstand ein Kleinunternehmer gegenüber Kretschmer. Der Mangel an Jobs, gerade den besser bezahlten, hat viele aus der Lausitz fortgetrieben. Nach Dresden oder Leipzig, oft weiter gen Westen. Geblieben sind die Älteren. „Ich bin gestern Großvater geworden“, sagt der Azubi-lose Lehrmeister. „Es brennt mir auf dem Herzen: Ich habe zwar eine Krebsdiagnose, aber ich will noch 25, 30 Jahre durchziehen für meine Kinder und Enkel. Ich gehe Sonntag zur Wahl.“

Das nächste Paar aus der Schlange kommt aus „dem Ländle“. Vor sieben Jahren zogen die beiden nach Görlitz. Wenn die Stadt Einwohner gewinnt, sind es meist Studierende oder Rentner. Kultur, Architektur und Natur bietet es ebenso wie andere Städte, Wohnen kostet viel weniger. „Wir sind riesige Kretschmer-Fans“, bekennen die Zugezogenen. „Toi toi toi.“

Die Menschen am Wahlstand blättern vor Kretschmer mal durch CDU-Material und mal durch ihre Lebensgeschichten. Es geht um geringe Renten, den unterbezahlten Pflegejob, um die Nichte. Kretschmer lauscht und nickt und fragt. Eine Strategie, die ihm einst aus der Krise half.

Nachdem die AfD in Sachen 2017 bei der Bundestagswahl vor der CDU gelandet ist, tritt Kretschmers Vorgänger Stanislaw Tillich zurück. Thomas de Maizière will nicht übernehmen, bald fragt man Kretschmer. Der hat nicht mal die Zustimmung seines Heimatkreises und führt jetzt ganz Sachsen an, höhnen viele. Kretschmer muss beweisen, dass er verstanden hat: Keine Politik mehr über Köpfe hinweg, die Verletzung ist groß, der Frust braucht Raum. Von Pirna bis Zwickau hört er den Menschen in schier jedem Dorf zu. Stunden über Stunden. Mit Effekt. Bei der Landtagswahl 2019 verteidigt Kretschmer sein Amt. Die CDU liegt wieder vor der AfD.

Ob ihm das am Sonntag erneut gelingt, vermag niemand zu sagen, in Umfragen liegen sie eng beieinander. Zwar stellte Kretschmer sich bei den großen Aufregern Corona und Russland immer wieder gegen die Linie im Bund; ungeachtet empfinden viele die Positionen seiner CDU als verzweifelte Kopien des AfD-Programms.

Kretschmer federt sich mit dem Fuß von der Litfaß-Säule ab, wiegt seinen Körper vor und zurück. Eine typische Bewegung, Ruhe findet der 49-Jährige kaum. Seit Wochen gehen seine Arbeitstage von 7 bis 23 Uhr. Wahlkampf eben, mag man meinen. „Aber wir sind seit sieben Jahren im Wahlkampf“, sagt ein Vertrauter. Der Dauer-AfD im Nacken begegnet Kretschmer mit Dauer-Feuer. Er will in der Öffentlichkeit vorkommen, um jeden Preis – auch wenn er übers Ziel hinausschießt.

„Ich bin ein Fan von Ihnen, aber der Friedrich Merz ist ein schlechter Mitarbeiter!“, verkündet eine Besucherin am Wahlstand. „Der tut der Partei nicht gut. Was hat sein Stil mit christlich zu tun?“ Kretschmer nickt, „ist Ihnen zu aggressiv, hmm.“

Der Auszubildende einer Tankstelle fragt Kretschmer nach seinen Koalitionswünschen. „Mit der AfD auf keinen Fall, das ist eine aggressive Partei“, sagt er. Mit den Grünen wolle er auch nicht mehr. „Ich glaube auch nicht, dass sie reinkommen.“ Dass Kretschmer mit den Grünen nicht mehr will, so hört man es aus CDU-Spitzenkreisen, liegt nicht an der Koalition in Sachsen. Kretschmer habe schlicht den Hass vieler Sachsen auf die Ampel als wunden Punkt identifiziert, dessen Wucht er nicht gegen, sondern hinter sich wissen will – und ihn bewusst nutzt. „Seit die Grünen in der Ampel sind, hat er uns für vogelfrei erklärt“, sagt die grüne Fraktionsvorsitzende Franziska Schubert zu Table.Briefings. „Das ist nicht immer fair.“

Auch sie stammt aus Görlitz. 2019 ging sie aus der ersten Wahlrunde ums Oberbürgermeisteramt mit überraschend guten 27,9 Prozent hervor. Progressives Potenzial birgt Görlitz durchaus. Auch durch die Hochschule, die unter anderem soziale Arbeit als Studiengang bietet. Viele bleiben, gründen Geflüchteten-Projekte oder soziokulturelle Zentren, sanieren ruinöse Altbauten und bekommen Kinder.

Für die Stichwahl zog Schubert damals zurück, rief zur Wahl des CDU-Bewerbers auf – gegen die AfD, die zunächst vorne lag. Selbst Görlitzerinnen am linksäußeren Rand rangen sich zum CDU-Kreuz durch, „Antifa sein heißt jetzt CDU wählen“, prangte auf Stickern in der ganzen Stadt. Der CDU-Kandidat siegte mit 55 Prozent.

Der unterlegene Sebastian Wippel (AfD) versuchte es 2022 erneut, trat als Görlitzer Landrat an. Sein CDU-Gegner warf die Aussichten auf eine steile Karriere im Landtag hin, um seinen Kreis zu verteidigen. Er siegte. Wippel, einst Polizeikommissar, vertritt die AfD seit 2014 im Landtag. Keine zwei Minuten von Kretschmer hat er sich vorm AfD-Stand aufgebaut. Wenn Sachsens AfD sich ihre Alleinregierung ausmalt, stellt sie sich Wippel als Innenminister vor. Im Kreis Görlitz holte sie bei der Europawahl 40,4 Prozent und verkündete mit einigem Selbstbewusstsein, dass sie im neuen Landtag auf die CDU möglicherweise gar nicht angewiesen sei.

Wippel konkurriert mit Kretschmer um das Direktmandat im Wahlkreis 58 – Görlitz II. Intern heißt es: Sollte Kretschmer sein Direktmandat verlieren, könnte er sich kaum als Ministerpräsident halten. Wahlkreisprognosen sehen Kretschmer mit 45 Prozent allerdings klar vor Wippel, der demnach bei 36 liegt.

Mit der linken Hand verteilt Wippel Strohhalme in Schwarz-Rot-Gold an AfD-Anhänger. Den rechten Arm hat er sich bei einer Fahrrad-Wahlkampftour gebrochen. 15 oder 20 Stände habe er besucht, weit mehr als 100 Leute gesprochen.„99 Prozent wollen über Ausländer und Integration sprechen.“ Einem sei es um Frieden gegangen, zweien um Bildung. „Aber die kamen nicht von hier.“ Die Frage, ob Landespolitik Asylfragen überhaupt beeinflussen kann, stellten die wenigsten. Das hinterfrage auch er nicht, sagt Wippel. Es gehe um die Themen an sich.

Früher trieb viele im Kreis Görlitz die Kriminalität entlang der Grenze um, inzwischen habe sich die Lage erheblich verbessert, sagt auch Wippel. Die Gehälter allerdings trieben die Leute weiterhin um; der Verkauf des Waggon-Werks Alstom, mit dem 700 relativ gut bezahlte Arbeitsplätze in Gefahr sind. Ein Traditionsbetrieb, der im Sommer 175. Jubiläum feierte. Parallel kursiert das Gerücht, ein Rheinmetall-Lieferant könnte es übernehmen. In einer Gegend, die besonders rigoros gegen „Kriegstreiberei“ aufbegehrt, missfällt der Waffenkonzern vielen. Auch gegen die Nato-Übungen auf dem Truppenübungsplatz Weißkeißel regt sich regelmäßig Widerstand.

Wippel sagt, mit Kretschmer habe er nichts zu tun. „Der redet ja nicht mit uns.“ Dabei sehe er die CDU als favorisierten Koalitionspartner. „Die Leute wollen keine Nazi-Regierung, sie wollen eine Mitte-Rechts-Regierung.“ Mit Kretschmer würden sie Mitte-Links bekommen. Ob er das BSW als Links einordnen würde? Das lasse sich nicht klar einordnen, sagt Wippel. Und fügt an: „Wenn wir stärkste Kraft werden, haben wir einen Regierungsanspruch. Auch eine Minderheitsregierung ist dann nicht ausgeschlossen.“

Ein Stammwähler der CDU hat einen Ordner mit folierten Artikeln von Kretschmer mitgebracht. „Ich bin in großer Sorge, ob Sie Ministerpräsident bleiben können“, sagt er zu Kretschmer. Ein Störer poltert über den Platz und ruft Kretschmer zu, dass die Demokratie verloren sei. „Da haben die letzten Jahre was anderes gezeigt“, entgegnet der. Bei allem Lauschen und Nicken will Kretschmer doch auch dem Narrativ des dauer-gebeutelten Görlitz widersprechen, das angeschlagene Image um Gegenwart und Zukunft ergänzen. Strukturwandel-Gelder machen sich in Görlitz längst bemerkbar, demnächst zieht auch noch das deutsche Zentrum für Astrophysik in die Stadt. Auch ein ICE-Anschluss soll kommen. Hoffnung mischt sich in den Frust.

Görlitz bleibt die Stadt des Ringens, bis zuletzt. Am Freitagabend ist der AfD-Wahlkampfabschluss das weitaus größte Event der Stadt. Aber nicht das einzige. In den Sprechpausen Weidels schneiden Pfeifen und Rufe durch die Ruhe. Eine Gegendemonstration protestiert hinter den Reihen der Polizei gegen die AfD. Sie wollen nicht, dass die blaue Welle Görlitz überschwemmt.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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