Analyse
Erscheinungsdatum: 16. Juli 2023

Gesine Lötzsch: „Ich bekam schon Morddrohungen, Leute wollen mich verprügeln“

Berlin, Die Linke - Lesen gegen das Vergessen Berlin Germany 10th May 2022. Lessen gegen das Vergessen Bebelplatz. Organised by Die Linke political party a series of readings are recited in order that we should not forget the lessons of the Nazi era. Gesine Lötzsch - Politician Die Linke Berlin Deutschland 10. Mai 2022. Lesen gegen das Vergessen Bebelplatz. Organisiert von der Partei Die Linke wird eine Reihe von Lesungen rezitiert, damit wir die Lehren aus der Nazizeit nicht vergessen.
Gesine Lötzsch erlebt, dass es in der Politik immer gefährlicher wird, sich auf der Straße, nah an den Menschen zu zeigen. Ihrer Partei rät sie trotzdem dringend dazu, um nicht weiter zu schrumpfen. Dass sie sich aus dem Flügelstreit der Linken-Fraktion konsequent heraushält, macht sie eigentlich zur idealen Fraktionsvorsitzenden. Ob sie dazu bereit ist, verrät sie im Berlin.Table-Interview.

Laut einer aktuellen Insa-Umfrage würde eine eigene Partei von Sahra Wagenknecht in Thüringen stärkste Kraft werden. Mit 25 Prozent läge die Partei auf Platz 1. Wie bewerten Sie das?

Meine Erfahrungen mit Umfragen sind nicht die besten. Bei vergangenen Wahlen wurden von Umfrageinstituten Prognosen abgegeben, die sehr weit von den späteren Ergebnissen entfernt waren. Denken wir an die Wahl in Sachsen-Anhalt, als ein Kopf-an-Kopf-Rennen von AfD und CDU prognostiziert wurde. Das wirkte schon sehr manipulativ. Mein Eindruck ist, dass Sahra Wagenknecht gedrängt wird, eine eigene Partei zu gründen. Sie wurde auch bei der Gründung von „Aufstehen“ immer wieder von den Medien ermutigt, diese Bewegung zu starten. Das Ergebnis kennen wir.

Die Linke käme derselben Umfrage zufolge auf 18 Prozent. Können Sie sich vorstellen, dass die Linke mit der Wagenknecht-Partei koaliert?

Das sind Spekulationen. Es ist nicht sinnvoll über mögliche Koalitionen zu sprechen, wenn es die eine Partei gar nicht gibt.

Der Aufstieg der AfD könnte damit gebremst werden. Ist das ein Erfolg, für den Sie als Linke auch die Spaltung in Kauf nehmen würden?

Wir wollen keine Spaltung der Partei. Die deutsche Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass Spaltungen der Linken nur die Rechten stark gemacht haben. Das wollen wir auf jeden Fall verhindern.

Die AfD gewinnt, auch bei Protestwählern; die Linkspartei dagegen schrumpft und schrumpft. Was läuft falsch für die Linken?

Wenn wir das wüssten, wären wir erfolgreicher. Wir fragen uns selbst, warum wir nicht besser durchkommen mit unseren Anliegen. In der ganzen Welt sind die Linken in der Defensive. Es gibt keine einfachen Erklärungen. Darum versuche ich, möglichst viel direkt mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, auf der Straße zu sein. Die Menschen wollen eine erkennbare linke Partei, die sich um ihre Probleme kümmert.

Andre Brie hat vor kurzem beklagt, dass die Linkspartei nicht mehr präsent ist. Was ist mit der ehemaligen Volkspartei im Osten passiert?

In den 90er Jahren hatten wir noch viele Mitglieder, die ihre Arbeit verloren hatten oder mit Mitte 50 in den Vorruhestand gingen. Die haben erfolgreich Mieten- und Rentenberatungen durchgeführt. Sie machten uns zur Kümmerer-Partei. Diese Menschen sind jetzt über 80 Jahre. Die können auch nicht mehr auf eine Leiter steigen und Wahlplakate aufhängen.

Wieder mehr vor Ort für die Menschen da sein. Warum ist das keine Selbstverständlichkeit mehr?

Wir müssen es tun, auch wenn es nicht einfacher geworden ist. Es kann nämlich heute gefährlich werden. Selbst in meinem Wahlkreis in Berlin habe ich manchmal Auseinandersetzungen auf der Straße. Ich bekam schon Morddrohungen, Leute wollen mich verprügeln. Allerdings sind die meisten Reaktionen auf der Straße positiv. Da ist es einfacher, irgendwo gesichert Reden zu halten und sich in Hinterzimmer über Dinge aufzuregen, die schieflaufen.

Ist die Lösung mehr Straßenwahlkampf?

Ja. Wir müssen auf die Straße, in Vereine, auf Feste gehen und uns zeigen. Wir haben zum Beispiel in der letzten Sitzungswoche auf der Straße unsere Lichtenberger Parteizeitung „info links“ verteilt. Danach sagen mir Genossen, sie hätten es auf Instagram geliked. Das ist schön, reicht aber nicht. Die sozialen Medien sind kein Ersatz für das direkte Gespräch auf der Straße.

Viele Menschen sagen, sie wissen nicht mehr, wofür die Linke steht – was ist Ihr Markenkern?

Unser zentrales Thema ist selbstverständlich die soziale Gerechtigkeit. Und wir haben ja die Situation, dass die soziale Schere, die Einkommen immer weiter auseinandergehen. Und wir setzen uns für eben die Menschen ein, die ein schlechtes Einkommen haben, die es sehr schwer haben, ihr Leben zu finanzieren. Das betrifft viele Menschen, die jeden Tag mindestens acht, wenn nicht noch mehr Stunden arbeiten und von ihrem Lohn nicht leben können. Und das ist eine große Ungerechtigkeit.

Die soziale Frage ist das eine. Was noch?

Es gibt zurzeit mindestens 20 Kriege auf unserer Welt, und wir setzen uns dafür ein, dass sie alle beendet werden. Wir müssen erreichen, dass mit Kriegen kein Geld mehr verdient werden kann. Doch die Bundesregierung tut genau das Gegenteil. Die Aktienkurse der Rüstungskonzerne gehen durch die Decke. Und die dritte Frage, die man überhaupt nicht unterschätzen darf, ist die der Demokratie. Die Demokratie ist im Augenblick sehr gefährdet. Wenn wir uns umschauen, wie in Europa immer mehr rechte und rechtsextreme Parteien an Zulauf gewinnen, dann müssen wir uns fragen, was in Europa falsch läuft.

Warum ist das so?

Die Parteien werden sich immer ähnlicher. Ein Beispiel: Im Haushaltsausschuss werden am laufenden Band große Rüstungsprojekte beschlossen. Alle Parteien – einschließlich der AfD – stimmen für die Aufrüstung der Bundeswehr. Wir sind die einzige Partei, die gegen die Aufrüstung stimmt. Das Gleiche trifft auf die Haushaltspolitik zu. Alle anderen Parteien übertreffen sich, wie man noch mehr Geld im Haushalt kürzen kann. Die Schuldenbremse ist für alle anderen Parteien ein Heiligtum. Wir sind die einzige Partei, die im Bundestag die Schuldenbremse ablehnt. Wir wollen eine stärkere Besteuerung der Vermögenden und wir sind auch bereit, mehr Kredite aufzunehmen, um in die Zukunft zu investieren.

Was ist falsch am Angebot der Linken?

Ich glaube nicht, dass unser Angebot falsch ist, sondern es gelingt uns eben nicht genügend, damit durchzudringen. Wir stecken ja als Oppositionspartei in der Situation, dass wir nur die Möglichkeit haben, unsere Forderungen zu erheben und so lange Druck zu machen, bis sie übernommen werden von den anderen Parteien.

Zum Beispiel?

Wir waren die erste Partei, die sich für den Mindestlohn eingesetzt hat, als alle anderen das noch für eine absurde Idee hielten, einschließlich vieler Gewerkschaften. Jetzt fordern wir die Erhöhung des Mindestlohnes und sind mit der Entscheidung der Mindestlohnkommission überhaupt nicht einverstanden.

Sie unterscheiden sich mit Ihrer Kritik am Mindestlohn aber nicht von großen Teilen der SPD. Warum sollte ich dann die Linke wählen?

Die SPD kritisiert zwar die Mindestlohn-Entscheidung, aber sie ist in der Regierung. Sie könnte sofort einen Beschluss erwirken – dass der Mindestlohn erhöht wird auf 14 Euro. Aber die SPD spielt wie andere Koalitionsparteien auch ein geschicktes Spiel. Die sagen: Wir würden ja gerne, aber wir können nicht wegen der bösen FDP. Und früher konnten sie nicht wegen der bösen CDU. Das zeigt: Sie sprechen zwar gerne darüber, aber setzen es nicht um. Als SPD und Grüne allein regierten, hätten Sie zum Beispiel die Bürgerversicherung umsetzen können oder eine gerechte Steuerreform. Was haben sie gemacht? Sie haben den größten Niedriglohnsektor Europas geschaffen.

Würde es mit der Linken im Kampf gegen den Klimawandel schneller gehen?

Ob es schneller gehen würde, weiß ich nicht. Wir können ja alle nicht wirklich einschätzen, wie schnell welche Maßnahme wirkt. Auf alle Fälle würde es sozial gerechter. Denn was jetzt mit dem höchst umstrittenen GEG angedacht ist, wird viele Menschen finanziell stark belasten. Die reichsten 10 Prozent in unserem Land verbrauchen 26 Prozent der Energie. Reichtum muss endlich gerecht besteuert werden. Damit könnten wir die Energiewende sozialer gestalten.

Im Grundsatz unterstützen Sie das Heizungsgesetz?

Die Bundesregierung zäumt das Pferd von hinten auf. Es geht ja nicht nur ums Heizen. Die Bundesregierung sagt selbst, dass ihr Gesetz gerade einmal 1,4 Prozent des CO₂-Ausstoßes einsparen würde. Das ist natürlich eine lächerlich geringe Summe. Wir müssen uns größere Fragen stellen: Wie wird produziert? Was produzieren wir? Warum? Welche Schäden entstehen durch welche Produktion? Allein mit der Heizung ist es nicht getan. Die Rüstungsindustrie ist klimaschädlich und Kriege sind noch klimaschädlicher.

Sie sagten, dass die Linke nicht durchdringt mit ihren Themen – ist es ein Problem, dass die Fraktion im Bundestag nicht mit geeinten Positionen auftritt?

Wir einigen uns doch auf konkrete Punkte. Wir stellen in jeder Sitzungswoche im Bundestag Anträge. Zum GEG haben wir die Abschaffung der Modernisierungsumlage vorgeschlagen, weil das vor allem die Mieterinnen und Mieter belastet. Oder zur Förderung von Dämmungen, denn die fehlt im Gesetz. Aber für Menschen, die auf dem Land leben und typischerweise ein Eigenheim haben, ist es mit dem Heizungsumbau nicht getan. Da haben wir uns auf ganz konkrete Forderungen geeinigt.

Aber es gab ja einige Bundestagsreden, die andere Signale gesendet haben.

Also es gibt keine Bundestagsreden, wo ich sagen würde, da gab es unüberbrückbare Widersprüche. Mal gab es Aufreger, weil ein bisschen schärfer formuliert wurde. Wir brauchen eine lebhafte Debatte. Aber was die Arbeit im Bundestag betrifft, gibt es Einigkeit. Was die Wahrnehmung und die Diskussion innerhalb der Partei betrifft, gibt es nicht immer Einigkeit. Das ist kein Geheimnis. Sonst würde es ja keine Diskussion über eine eventuelle Neugründung geben.

Was hat der Beschluss vom Vorstand, sich von Sahra Wagenknecht zu verabschieden, konkret in der Fraktion verändert?

Also konkret hat sich nichts verändert, denn die Fraktion besteht ja weiterhin aus 39 Abgeordneten. Ich sehe diesen Beschluss kritisch. Wir haben den Wählerauftrag, die Regierung zu kontrollieren. Wir haben den Auftrag, die Politik sozialer und friedlicher zu gestalten. Das könnten wir als Einzelabgeordnete nicht leisten. Den Fraktionsstatus haben wir nur gerade so erreicht und wir müssen alles tun, damit die Fraktion überhaupt zusammenbleibt. Wer die Fraktion aufgibt, gibt letztendlich die Partei auf.

Warum ist das so wichtig?

Ich selber war eine Legislaturperiode lang nur mit Petra Pau zusammen im Bundestag. Wir hatten unsere Bundestagsmandate direkt gewonnen. Wir wurden nicht als Gruppe anerkannt. Unsere parlamentarischen Möglichkeiten waren extrem begrenzt. In dieser Zeit wurden zum Beispiel Hartz IV und die Praxisgebühr beschlossen. Das wäre schwieriger gewesen, wenn es damals eine starke Linke im Bundestag gegeben hätte. Darum sage ich aus meiner Erfahrung immer, wir müssen daran denken, wie viel weniger wir noch erreichen könnten, wenn wir keine Fraktion mehr wären.

Jetzt sagt die Parteiführung, sie habe Sahra Wagenknecht Gesprächsangebote gemacht und außerdem gibt es Hinweise, dass sie dabei ist, eine neue Partei zu organisieren. Glauben Sie wirklich, dass eine Zusammenarbeit mit ihr noch möglich ist?

Wir sind zur Zusammenarbeit sogar verpflichtet. Denn wenn wir innerhalb unserer kleinen Partei dazu nicht in der Lage sind, wie sollen wir dann die Mehrheit der Menschen davon überzeugen, dass wir zusammen eine Verbesserung der Gesellschaft erreichen können? Ob das letztendlich gelingt, ist eine andere Frage. Aber wir müssen jede Bemühung unternehmen, um zusammenzubleiben, zusammenzuarbeiten und einzutreten für unser Programm.

Sind Sie derzeit mit ihr im Austausch?

Ich bin mit allen Abgeordneten in meiner Fraktion im Austausch.

Kurz nach der Sommerpause wird der Fraktionsvorstand neu gewählt. Wird er danach noch der gleiche sein?

Also in einer Position auf keinen Fall, denn unser Parlamentarischer Geschäftsführer, Jan Korte, will nicht wieder kandidieren. Ansonsten haben wir jetzt zwei lange Monate vor uns, in denen man ganz viel diskutieren kann. Und die Frage ist ja nicht nur: Wer wird gewählt? Sondern die Frage ist natürlich immer: Wer ist bereit zu kandidieren? Und das kann man heute noch gar nicht entscheiden.

Sie haben also auch noch nicht entschieden, ob Sie kandidieren werden?

Ich bin immer im Vorstand gewesen, seit ich im Bundestag bin und wir Fraktionsstärke haben – bis auf die Zeit als ich Vorsitzende des Haushaltsausschusses war. Aber das werden wir natürlich gemeinsam bereden, das ist doch klar. Das hängt ja auch noch mit anderen Dingen zusammen.

Womit?

Also erst mal, wie sich die Situation bis dahin in der Partei und Fraktion entwickelt. Und zum anderen, wer diejenigen sind, die sich auch weiter nach vorne stellen wollen.

Mit wem würden Sie es denn gemeinsam machen?

Ich arbeite mit allen in der Fraktion zusammen. Ich gehöre keinem Flügel und keiner Gruppierung an. Und das hat sich, wenn ich zurückblicke, über die vielen Jahre hinweg immer als richtig erwiesen.

Und das macht Sie jetzt zur idealen Kandidatin?

(lacht) Schöner Versuch, und guter Vorschlag von Ihnen, den ich jetzt aber leider nicht so voll unterstützen kann.

Wird Amira Mohamed Ali wieder kandidieren?

Das müssen Sie sie fragen. Sie hat bisher weder gesagt, dass sie es macht, noch, dass sie es nicht macht. Ich glaube, für sie gilt, wie für alle: Es ist noch eine Weile hin. Manchmal gibt es Überraschungen und manchmal, wenn man eine Überraschung erwartet, gibt es keine.

Bräuchte es für die Fraktion eine Überraschung?

Eine Überraschung ist immer die Frage, für wen und aus welcher Perspektive. Die entscheidende Frage ist, dass wir inhaltlich deutlicher machen können, wofür wir stehen. Dass es uns gelingt, unsere Positionen mehr nach vorne zu bringen. Dass wir eine Zwischenbilanz machen: Was haben wir erreicht? Wo konnten wir unsere Positionen nicht stärken? Das ist alles Aufgabe der Fraktionsklausur im September. Und auch daraus wird sich natürlich dann ableiten, wer sagt: Hey, ich mache das jetzt oder ich mache es weiter.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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