Analyse
Erscheinungsdatum: 19. Januar 2023

Für die Union gilt: Retten, was zu retten ist

Berlin, Pressestatement nach der CDU CSU Sonderfraktionssitzung im Bundestag Friedrich Merz Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Alexander Dobrindt Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag während der Pressekonferenz zu den Ergebnissen des Vermittlungsausschuss zum Bürgergeld nach der CDU CSU Sonderfraktionssitzung im Deutschen Bundestag am 23.11.2022 in Berlin. Berlin Bundestag Berlin Deutschland (Foto: IMAGO / Christian Spicker)
Rettungsakt in letzter Minute? Am Donnerstag hat die Führung der Unionsfraktion der Ampel im Streit ums Wahlrecht einen Kompromissvorschlag unterbreitet. Ob das viel bringt? Eher unwahrscheinlich. Ob es den Zorn vieler Christdemokraten auf die CSU abmildert? Allenfalls vielleicht möglich. Nur eines ist sicher: Der Ampel-Vorschlag sorgt für Aufregung, vor allem bei den Abgeordneten und Mitarbeitern, die um ihre Jobs fürchten müssen. Eine Sorge allerdings scheint gebannt: Frauen und junge Parlamentarier sind von der Reform laut einer Studie nicht besonders betroffen.

Wer zu spät kommt, den .... Wahrscheinlich mag sich an diesen Satz derzeit in der Union niemand erinnern. Denn wenn er, einst ausgesprochen von Michael Gorbatschow, aktuell irgendwo eine Rolle spielt, dann beim Wahlrecht und den Folgen für das Bündnis von CDU und CSU. Jahrelang hatte der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble die eigenen Leute gemahnt, eine Reform zur Verkleinerung des Bundestags anzugehen, bevor das andere für sie tun. Nun ist der Fall eingetreten, die Ampel hat entschieden. Und alle Möglichkeiten der Union, das Ergebnis noch zu beeinflussen, sind auf ein Minimum gesunken.

Und doch haben Unionsfraktionschef Friedrich Merz und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt am Donnerstag einen Versuch unternommen, mit der Ampel nochmal ins Gespräch zu kommen. Am Vormittag trafen sie sich mit den Spitzen der Ampel-Fraktionen und schlugen eine Lösung vor, die das gleiche Ziel verfolgt, aber zwei wesentliche Unterschiede zum Ampel-Modell vorweist. Die Union schlägt vor, die Zahl der Wahlkreise von heute 299 auf 270 zu reduzieren; gleichzeitig soll es weiterhin Überhangmandate geben, und davon sollen die ersten 15 auch nicht ausgeglichen werden. So hatte es das Bundesverfassungsgericht abgenickt. Erst ab dem 16. Überhangmandat sollen auch Ausgleichsmandate anfallen.

Dahinter steckt das Bemühen, die Bedeutung der Wahlkreissieger zu retten. Nach dem Motto: Wer seinen Wahlkreis gewinnt, hat den Platz im Parlament sicher, egal, wie knapp und mit wie wenigen Stimmen er oder sie das geschafft hat. Der frühere Vorschlag der CSU ging sogar noch weiter. Sie hatte immer auf der Position beharrt, dass man bei 299 Wahlreisen und Wahlkreissiegern bleiben müsse – und die zweite Hälfte der Sitze dann über die Zweitstimme und das Verhältniswahlrecht verteilt werde.

Der Haken am alten CSU-Vorschlag (mit Überhangmandaten und ohne Ausgleichsmandate): Er hätte nach Berechnungen der Grünen dazu geführt, dass die Union 2009, 2013 und 2017 trotz maximal 40 Prozent Stimmenanteil mit einer absoluten Mehrheit nach Hause gegangen wäre. Und der Haken am aktuellen Kompromissvorschlag der Union ist, dass auch er das Mehrheitswahlrecht (Wahlkreissieger) gegenüber dem Verhältniswahlrecht (Zweitstimme) stärken würde. Exakt das wollen die Ampel-Parteien verhindern. Dabei verweisen sie immer wieder auf Großbritannien und die USA, als negative Beispiele.

Manches spricht deshalb dafür, dass die Unionsspitze mit ihrem „Retten, was zu retten ist“ vor allem bemüht ist, irgendwie im Gespräch zu bleiben, um die eigene Schwäche und – noch schlimmer – den inneren Zwist nicht ganz so deutlich zutage treten zu lassen. Tatsächlich herrscht zwischen CDU und CSU seit Sonntag dicke Luft. Das fing mit der Erkenntnis an, dass nun passiert ist, was immer vermieden werden sollte, und zwar, weil die CSU blockierte. Außerdem hatten die Spitzen von CDU und CSU am Montagmorgen vereinbart, dass man die Füße still halten und jede allzu harsche Kritik vermeiden sollte. Doch kaum war das zwischen Friedrich Merz, Markus Söder und Co am Montagmorgen vereinbart, ging CSU-Generalsekretär Martin Huber mit dem Vorwurf an die Öffentlichkeit, die Ampel plane eine „organisierte Wahlfälschung“.

In Berlin und bei der CDU kam das gar nicht gut an. Und das könnte auch erklären, was danach sehr schnell klar wurde: dass in der CDU viele sauer sind auf die Schwester, und mehrere Landesgruppen früh klar gemacht haben, dass sie auch eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht nicht mittragen werden. Besonders bemerkenswert ist, dass auch die Christdemokraten aus Baden-Württemberg hoch verärgert sind über ihre Kollegen aus Bayern. Denn neben der CSU sind es vor allem CDUler aus dem Südwesten, die vom Ampelgesetz nun hart getroffen würden.

Angesichts dessen ist es schon ein kleiner Erfolg für die Unionsfraktionsführung, dass nun die Berichterstatter der Fraktionen aus Ampel und Union noch einmal über die Reform sprechen sollen. Große Hoffnungen aber kann sich die Union kaum machen. Ihre fast schon einzige Chance besteht darin, dass entweder Betroffene in der SPD aufbegehren – oder die FDP zum Schutze künftiger Kooperationen mit der Union doch noch ihre Zustimmung verweigert. Ursprünglich waren die Liberalen sehr für den Ampel-Vorschlag, hatten vor Weihnachten dann kurz gezögert, um nun doch wieder mitzumachen.

Gemessen am Zwist in der Union geht es bei den anderen Fraktionen einigermaßen ruhig zu. Und das hat vermutlich damit zu tun, dass der Vorschlag erstens in der Öffentlichkeit bislang gut ankommt – und dass die Folgen der Reform nach Detailberechnungen alle Fraktionen einigermaßen gleich trifft. Nach einer bemerkenswerten Aufstellung von ZEIT-Online, die sich auf die Wahl im September 2021 bezieht, wäre Prominenz aus allen Fraktionen betroffen, darunter SPD-Staatssekretär Niels Annen aus Hamburg und Staatsministerin Sarah Ryglewski aus Bremen. Ebenfalls in Gefahr wären Ex-Minister Andreas Scheuer (CSU) und die ehemalige Staatsministerin Annette Widmann-Mauz (CDU). Eine interne Aufstellung der SPD listet elf direkt gewählte MdBs auf, die nicht mehr dabei wären; zusätzlich würde es 27 über die Liste gewählte Abgeordnete treffen.

Protest kommt – naheliegenderweise – insbesondere von jenen amtierenden MdBs, deren Platz gefährdet wäre. „Es gibt mit der Reform keine Garantie mehr, dass jeder Wahlkreis vertreten ist im Bundestag“, sagte der SPD-Abgeordnete Erik von Malottki (Wahlkreis Vorpommern-Greifswald II) ZEIT-Online. Vor allem in Ostdeutschland würde die Reform SPD-Mandate kosten. Aber auch in der FDP-Bundestagsfraktion meldeten sich mögliche Betroffene zu Wort.

Schaut man aufs Parlament, bringt das geplante neue Wahlrecht durchaus erhebliche Veränderungen. Demnach wären 35 der 299 Wahlkreise nicht mehr durch einen Direktkandidaten vertreten, drei bis fünf Wahlkreise (je nach Rechnung) hätten gar keinen Abgeordneten mehr in Berlin. Die Nebeneffekte: 138 Mandate weniger würde nicht nur Platz im Reichstag schaffen, sondern auch in den Bundestagsbüros. Die Abgeordneten könnten ihre Arbeitsfläche von im Regelfall drei wieder auf vier Räume ausweiten. Eine weitere Schattenseite, über die noch überhaupt nicht gesprochen wurde, betrifft gar nicht die Abgeordneten: Bleibt das Wahlrecht wie von der Ampel beschlossen, müssen sich Hunderte von MdB-Mitarbeitern spätestens 2025 neue Jobs suchen.

Eines allerdings geschieht offenbar nicht, obwohl das mancher vor allem in der SPD befürchtet hatte: Dass das neue Wahlrecht zulasten der Frauen und der jüngeren Abgeordneten ausfallen würde. In einer Studie hat election.de genau das im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung untersucht. Derzeit sind von den 736 Abgeordneten 256 Frauen, das entspricht einem Anteil von 34,8 Prozent. Nach neuem Wahlrecht wären von den 598 Abgeordneten 203 Frauen; ihr Anteil läge dann bei 33,9 Prozent. Der Anteil wäre geringfügig geringer; aber es wäre keine dramatische Verschlechterung.

Ganz ähnlich sieht es beim Blick auf das Verhältnis zwischen älteren und jüngeren Abgeordnete aus. Hier kommt die Untersuchung zu dem Ergebnis, dass das Durchschnittsalter und damit die Relation zwischen jung und alt exakt gleich bliebe. Es liegt heute bei 48 Jahren – und das würde sich nicht ändern.

Nun machen die Ampel-Reformer Tempo. Bereits am Freitag kommender Woche wollen sie das Gesetz im Bundestag einbringen. Danach soll es eine Anhörung geben, vor der Sommerpause soll das Gesetz verabschiedet sein. Ist es bis Jahresende nicht unter Dach und Fach, tritt automatisch ein anderes Gesetz in Kraft: Dann gilt das 2020 verabschiedete Paragraphenwerk, wonach die Zahl der Wahlkreise auf 280 reduziert wird, dann aber wieder mit Überhangs- und Ausgleichsmandaten. Das, so heißt es, wäre nur ein Mini-Reförmchen. Diese Variante wollen die allermeisten dann doch vermeiden.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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