Untergangserzählungen begleiten die Grünen gerade häufig. Was halten Sie davon?
Ich finde die Frage, ob die Grünen jetzt am Boden sind, überzogen. Sehen Sie sich die Landtagswahlen seit 2021 an: Die Grünen haben bei den meisten Wahlen zugelegt. Wir müssen lernen, dies alles mit etwas mehr Gelassenheit zu betrachten.
Aber die Hoffnung, zur Volkspartei emporzusteigen, ist gerade eher getrübt.
Die Chance, Volkspartei zu werden, ist nicht vergangen. Volksparteien definieren sich in der Politikwissenschaft dadurch, dass zwei dieser drei Kriterien zutreffen: Sie gewinnen mehr als 30 Prozent der Stimmen – das trifft gerade nur auf die Union zu –, sie sind für alle Wählerschichten potenziell wählbar und werden dann auch tatsächlich aus allen Schichten gewählt. Das unterscheidet Volksparteien von Klientel- beziehungsweise Interessenparteien.
Gerade ist nicht zu erkennen, dass die Grünen auch nur eins dieser Kriterien erfüllen.
Die Grünen können das noch werden. Ein oder zwei Monate Krise rechtfertigen nicht, sie herunterzuschreiben. Das trifft übrigens auf alle Parteien zu.
Obwohl Robert Habeck in der Gunst der Menschen durch die Causa Graichen und das Gebäudenergiegesetz derartig abgestürzt ist?
Man hat sich auf Robert Habeck eingeschossen, auch die Medien. Viele der jetzt besprochenen Themen fallen auch in die Ressorts von Clara Geywitz oder Steffi Lemke. Aber man spricht über Habeck.
Was würden Sie ihm raten?
Er braucht jetzt einen langen Atem. Man merkt ihm generell an, dass er nicht mehr so frei in seiner Kommunikationsart ist, sondern dünnhäutiger, gereizter. Die Bild-Zeitung hat damit ihre Mission erfüllt. Leider haben manch andere das Narrativ dieser Kampagne übernommen. Allerdings zeigen seine jüngeren Posts in den sozialen Medien auch wieder Zeichen des „alten“ Habecks, mit Erklärvideos et cetera.
Sie würden die Berichterstattung der Bild-Zeitung also als Kampagne definieren?
Natürlich.
Auch in der Berichterstattung über seinen Nicht-Mehr-Staatssekretär Patrick Graichen?
Habeck hatte weder mit den Jobinterviews noch mit den Einstellungen von Personal zu tun. Angesichts dessen war die Art der Berichterstattung häufig überzogen. In der doch recht kleinen Klima- und Energiebranche von Leuten, die tendenziell aus Überzeugung und Leidenschaft ihren Beruf ergriffen haben, kommt es durchaus vor, dass Freundschaften oder Beziehungen entstehen.
Hat der Wirtschaftsminister in der Sache richtig reagiert?
Habeck hat die Reißleine gezogen, wenn auch vielleicht etwas spät.
Das eine ist der Fall Graichen, das andere das GEG. Sehen Sie an der Stelle Verfehlungen?
Habeck und Graichen haben ihr Vorhaben zu wenig erklärt. Alle stimmen zu, dass sie mehr Klimaschutz wollen, aber jetzt geht es zum ersten Mal an die eigene, individuelle Realität. Ins eigene Wohnzimmer beziehungsweise in den Keller, in dem der Öl- oder Gastank steht. Das haben Habeck und Graichen unterschätzt.
Ist die Chance für Verständnis aus der Bevölkerung damit vergangen?
Sie hätten sich mehr Zeit lassen müssen. Jetzt ein bisschen Ruhe reinzubringen, wäre gut. Und die Umfragedaten zeigen ja, dass die Bevölkerung durchaus Verständnis hat.
Die Grünen stehen einige Zeit vor Wahlen in Umfragen immer wieder vielversprechend da; das Ergebnis am Wahltag sieht dann oft ganz anders aus. Woran liegt das?
Campaigns do matter – Kampagnen zählen. 2021 etwa haben die Grünen keinen guten Wahlkampf gemacht – ebenso wenig die Union. Noch dazu ist Klimaschutz kein Alleinstellungsmerkmal mehr für die Grünen. Die SPD hatte genau den richtigen Wahlkampf und deswegen auch die Nase im September 2021 vorne.
Wenn es um faktische Politik geht, würden die Grünen widersprechen.
Wenn es um Wahlentscheidungen geht, sieht das anders aus. Wenn ich für's Klima wählen möchte, brauche ich nicht die Grünen. Wenn ich SPD wähle, wähle ich keine Partei gegen Klimaschutz. Außerdem geht es bei Wahlentscheidungen sehr oft um die wahrgenommene Problemlösungskompetenz und um das Vertrauen, das man in einen Kandidaten oder eine Kandidatin hat.
Bald ist Legislatur-Halbzeit. Was können die Grünen aus der letzten für die nächste Bundestagswahl lernen?
Die letzte Kampagne ist mit Annalenas Baerbocks lückenhaftem Lebenslauf maximal schlecht gestartet, von so etwas erholt sich eine Kampagne kaum mehr. Eine große Rolle spielt die wahrgenommene Problemlösungskompetenz. Baerbock hatte wenig Erfahrung vorzuweisen im Vergleich zu den zwei Schwergewichten, gegen die sie kandidiert hat.
Lässt sich jetzt schon ein Tipp abgeben, mit wem die Grünen nächstes Mal ins Rennen gehen sollten?
Zuerst einmal müssen die Grünen klären, ob sie überhaupt einen Spitzenkandidaten aufstellen. Das macht nur Sinn, wenn man eine Chance hat, um Platz eins zu spielen.