Table.Media: Aus den Ländern und Kommunen kommt viel Kritik, dass die Hilfen des Bundes auf sich warten lassen. Sind die 3,25 und 2,7 Milliarden Euro, von denen die Innenministerin sagt, sie habe sie den Ländern bereitgestellt, schon bei Ihnen angekommen?
Pit Clausen: Das Land hat zugesagt, alles weiterzuleiten. Ob es tatsächlich schon bei uns angekommen ist, kann ich jetzt noch nicht sagen. Es ist auch immer Frage, ob die Länder es pauschal bereitstellen oder über Projektformate. Immerhin: Die Zusage der Landesregierung steht.
Das heißt, im Moment regeln Sie alles ohne diese finanzielle Unterstützung des Bundes?
Ja, die Planungen für unseren Haushalt sind Wirtschaftspläne über ein Jahr und in der mittelfristigen Planung über vier Jahre. Bei den Einnahmen verlassen wir uns auf Zusagen und dann muss das hinterher ausgesteuert werden. Aber klar ist, es wäre viel besser, wenn wir eine Regelfinanzierung hätten. Die Finanzierung der Integration von Geflüchteten ist nach wie vor nicht auskömmlich strukturiert. Es ist immer noch ein Desaster.
Wie schlägt sich das nieder?
Wir haben jedes Jahr von neuem Streit darüber, woher kommt das Geld für die Sprachkurse, was ist mit den Orientierungskursen, was ist mit der Krankenversicherung? Und jedes Mal fängt man wieder von vorne an. Die ganze Finanzierung müsste grundsätzlich eine neue Basis bekommen. So wie es bei den ukrainischen Geflüchteten mit dem Wechsel aus dem System des Asylbewerberleistungsgesetzes in die Grundsicherung gelungen ist. Sobald sie als Grundsicherungsberechtigte galten, war alles klar. Und für uns alles einfacher. Das ist aber bis heute bei den anderen Asylsuchenden nicht so. Da ist das Recht von Flüchtlingsgruppe zu Flüchtlingsgruppe unterschiedlich geregelt.
Warum ist das so?
Der Hintergrund ist, dass es nach wie vor eine Ausrichtung des Asylrechts gibt, die eher auf – ich muss es so sagen – nicht-willkommen ausgelegt ist. Bei den Ukrainerinnen und Ukrainern war die Haltung: Ihr seid willkommen, wir helfen euch jetzt in dieser furchtbaren Kriegssituation. Darum machen wir diesen Schritt, den Rechtsanspruch zu wechseln. Bei der Grundsicherung sind die Themen wie Integrationshilfen und Krankenversicherung geklärt. Das ist im Asylbewerberleistungsgesetz, das die Ansprüche der Geflüchteten regelt, nach wie vor nicht so. Dort ist Asyl etwas, das man nur ausnahmsweise gewährt, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Und alle anderen, die da nicht reingehören, die wollen wir hier nicht haben. So ungefähr ist die Geisteshaltung. Das schlägt sich in der Ausgestaltung der Sozialrechte und Ansprüche und am Ende auch der Finanzierung nieder.
Was würden Sie sich wünschen?
Ich wünsche mir eine einheitliche Ausgestaltung der Sozialansprüche, unabhängig von Herkunft oder Aufenthaltsstatus. Bei den Sozialansprüchen finanzieren wir ja ohnehin nur das Existenzminimum. Warum muss es denn beim Existenzminimum jetzt noch mal eine Differenzierung geben zwischen geflüchteten Ukrainern und anderen? Wenn es darum geht, dass jemand hier ist und wir ihm helfen, dann gehört eine Grundkrankenversicherung dazu. Dann gehört auch dazu, dass wir uns sofort darum kümmern, Sprachkompetenzen zu vermitteln, und, und, und. Das sind einfach Mindeststandards. Die sollten für alle gelten.
Und bei der Zuwanderung?
Die ist in der Tat viel schwieriger zu regeln. Da steht Deutschland auch nicht allein in der Welt und wir können auch nicht alle Probleme lösen. Da sind wir auch ein bisschen gefangen in Europa. Da maße ich mir jetzt nicht an, sofort das Rezept beschreiben zu können. Aber in der Ausgestaltung des sozialen Rechts, finde ich, sollten wir uns in Deutschland mal darauf festlegen, was der Mindeststandard ist, und der muss dann aber auch für alle gelten.
Sie sind seit 2009 Oberbürgermeister, das heißt, Sie haben schon 2015 und 2016 eine ähnliche Situation bewältigt. Wie hat sich die Zusammenarbeit mit dem Bund verändert – ist es mit dieser SPD-Innenministerin einfacher als mit ihrem Vorgänger?
Nein, es ist nicht einfach. Wir haben ja nach wie vor Zuwanderung aus Nordafrika und dem Nahen Osten. Da erlebe ich nicht, dass es einfacher geworden ist. Es ist einfacher, bezogen auf die Gruppe der aus der Ukraine Geflüchteten. Da ist die Situation und auch die Haltung der Gesellschaft, des gesamten politischen Establishments, wie ich es wahrnehme, sehr viel offener, sehr viel wertschätzender und sehr auf Solidarität ausgerichtet. Aber das hat eben mit der Besonderheit dieser Gruppe zu tun. Alles andere ist nicht einfacher geworden.
Wie schauen Sie dann darauf, dass Nancy Faeser mit ihrer Kandidatur in Hessen jetzt zwei Jobs macht?
Ach, das mag ich nicht so richtig kommentieren. Bei der Migration kann ich sagen, sie arbeitet dran. Also wir haben das Thema Fachkräftezuwanderung, wir haben das Thema Einbürgerungsmöglichkeiten. Einige Dinge sind im Koalitionsvertrag festgeschrieben, die jetzt in die Pipeline kommen. Aber wir haben noch nicht alle Gesetzentwürfe gesehen, vieles ist noch im Referentenstadium. Ich glaube, das Thema ist auf der Agenda. Das ist gut. Nancy Faeser steht für eine neue Ausrichtung der Migrationspolitik, diese Koalition steht für eine andere Ausrichtung als die Große Koalition, das nehme ich schon deutlich wahr. Aber die Ergebnisse, die spüren wir tatsächlich vor Ort noch nicht.
Was ist für Sie wichtig?
Mir ist wichtig ist, dass wir nicht nur auf die Gesetze gucken. Wir haben nicht nur die die Gesetze mit ein paar 1000 Paragrafen, sondern wir haben da drunter noch die Rechtsverordnungen, die Erlasse, die Allgemeinverfügungen mit gefühlt ein paar Millionen Paragrafen. Und das gesamte Ausländerrecht in Deutschland ist inzwischen vor Ort kaum noch administrierbar.
Was bedeutet das?
Sie haben es nicht mit einem Aufenthaltsrecht für Zugewanderte zu tun, sondern sie haben es mit einem Aufenthaltsrecht für Zugewanderte aus rund 200 Nationen zu tun und für jede Nation gibt es Spezialitäten. Da muss man sich erst mal durchwühlen. Und das ist eine Aufgabe, die in den Behörden, in den Ministerien, auf Bundes- und auf Landesebene zwingend nach oben auf die Agenda gehört. Neben den schönen Überschriften wie „Wir machen das Staatsbürgerschaftsrecht neu“ brauchen wir insbesondere auch eine Entschlackung der Verfahrensvorschriften darunter. Das muss einfacher werden. Es muss standardisiert werden, damit wir das perspektivisch auch digital und online bearbeiten können.
Die Ministerin hat einen zweiten Flüchtlingsgipfel im BMI angekündigt. Wie heikel ist die Situation gerade in NRW und bei Ihnen in Bielefeld?
In Bielefeld sind zurzeit etwa 4000 Ukrainerinnen und Ukrainer. Davon sind mehr als 50 Prozent privat bei Bekannten oder Verwandten untergekommen. Und die anderen gut 40 Prozent haben wir in städtischen Unterkünften untergebracht. Wir müssen aktuell keine Sporthallen oder Ähnliches akquirieren. Die Unterbringungssituation ist verhältnismäßig gut und die Zahl der Menschen aus der Ukraine ist seit Monaten konstant. Auch der Zugriff auf Kindergarten oder Schule, all das funktioniert langsam. Das hat ein bisschen geruckelt, weil es einfach so viele auf einmal waren. Aber jetzt kann man für Bielefeld nach ein paar Monaten sagen, es funktioniert ganz ordentlich.
Daneben steigen auch die Zahlen von Geflüchteten aus anderen Ländern – vor allem Nordafrika und dem Nahen Osten. Wie sieht es da aus?
Auch da ist die Situation bei uns in der Stadt stabil. Das liegt daran, dass wir mehrere Hundert Plätze von Landeseinrichtungen zur Verfügung stellen, die uns auf unsere kommunale Aufnahmepflicht angerechnet werden. Das ist in anderen Städten in Nordrhein-Westfalen schon schwieriger. Je nach Finanzstruktur, also den finanziellen Möglichkeiten, ist die Lage sehr unterschiedlich. Aber auch die Haltung in den Behördenleitungen spielt eine Rolle, also: Wie groß ist die Bereitschaft, Menschen aufzunehmen? Ich nenne das Willkommensstruktur. Ich höre insbesondere aus kleineren Städten, wo größere Unterbringungseinrichtungen geplant sind, von erheblichen Diskussionsprozessen in der Bürgerschaft.