Analyse
Erscheinungsdatum: 14. März 2023

Ersatzfreiheitsstrafe: Reform, aber kein Kurswechsel

Wer in Deutschland eine Geldstrafe nicht bezahlen kann, kommt in vielen Fällen ins Gefängnis. Das System soll reformiert, im Grundsatz aber erhalten werden. Dagegen regt sich Protest.

Der Paragraf stammt noch aus der Zeit des Nationalsozialismus und betrifft jedes Jahr Tausende Menschen in Deutschland: Wer sich die Beförderung durch ein Verkehrsmittel „erschleicht“, wird gemäß § 265a Strafgesetzbuch mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft oder mit einer Geldstrafe. Wer sich diese nicht leisten kann, dem droht als sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe: Haft. Das gilt nicht nur beim Schwarzfahren, sondern etwa auch bei kleineren Diebstählen. Bisher ist der Umrechnungsmaßstab eins zu eins: Wer zu 15 Tagessätzen verurteilt wird und nicht zahlt, kommt 15 Tage ins Gefängnis. In vielen Fällen trifft das Arme. In Berlin zum Beispiel soll die Staatsanwaltschaft deshalb laut einer neuen Verfügung bei Einkommen am Existenzminimum in der Regel nur noch Sätze von 5 statt 15 Euro beantragen. Das Ziel: Betroffenen erleichtern, die Strafe zu begleichen.

Auch die Bundesregierung plant Veränderungen. Am Mittwoch bringt sie in erster Lesung ihre geplante Reform des Sanktionenrechts in den Bundestag ein, das unter anderem die Ersatzfreiheitsstrafe umfasst. Diese stellt hierzulande die häufigste Form der Freiheitsstrafe dar und kommt jedes Jahr bei rund 50.000 Personen zum Tragen – von denen jede vierte ohne Fahrschein erwischt wurde. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass zwei unbeglichene Tagessätze nur noch zu einem Tag Haft führen. Außerdem sollen die zuständigen Behörden verpflichtet werden, auf Möglichkeiten hinzuweisen, Gefängnisaufenthalte – die den Staat je nach Bundesland zwischen rund 100 und 200 Euro pro Tag kosten – ganz zu vermeiden.

Dazu gehört neben Optionen zur Ratenzahlung vor allem die Verrichtung gemeinnütziger Arbeit. Juristisch heißt das „freie Arbeit“, in den Bundesländern sind solche Projekte zumeist unter dem Titel „Schwitzen statt Sitzen“ bekannt. Stärker eingebunden werden sollen darüber hinaus die Gerichtshilfe sowie Träger der freien Straffälligenhilfen. Bei der Vorstellung der Pläne im Dezember nannte Justizminister Marco Buschmann sie „eine historische Reform“.

Das sehen nicht alle so. Das Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe etwa trägt seine Forderung bereits im Namen. Das aktuelle System stelle eine Form von Klassenjustiz und die Kriminalisierung von Armut dar, so die Kritik. Zudem stelle es Strafe vor Gesundheit: Denn bei der Ersatzfreiheitsstrafe greife ein Paragraf des Betäubungsmittelgesetzes nicht, wonach die Strafvollstreckung zurückgestellt werden kann. Und zwar dann, wenn die Tat aufgrund einer Sucht begangen wurde und die Person sich in Behandlung befindet oder sich dazu bereiterklärt. Das Bündnis hat gut ein Dutzend Mitglieder – darunter die Berliner Obdachlosenhilfe, die 2014 von Inhaftierten gegründete Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) und das Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., Mitherausgeber des jährlich im Fischer-Verlag erscheinenden Grundrechte-Reports.

Dabei ist auch die spendenfinanzierte Initiative Freiheitsfonds, die sich auf Fälle mit Bezug zum sogenannten Schwarzfahren konzentriert. Sie hat für Mittwoch einen „Freedom Day“ ausgerufen: In zehn Bundesländern werden dann rund 70 Personen aus dem Gefängnis entlassen. In Deutschland kann nämlich jeder die Geldstrafe eines Fremden begleichen. „Wir erhalten Anträge aus fast allen Gefängnissen Deutschlands“ , sagt Gründer Arne Semsrott. Teilweise würden diese ihre internen Prozesse sogar so umstellen, dass Menschen schneller als sonst entlassen werden können. Manche Haftanstalten rufen auch direkt an und fragen, ob die Initiative jemanden freikaufen kann.

Bisher sind durch die Aktionen, die die Verantwortlichen als die „größte Gefangenenbefreiung der bundesdeutschen Geschichte“ bezeichnen, seit Ende 2021 mehr als 600 Menschen freigekommen. Fahren ohne Fahrschein muss entkriminalisiert werden, fordern sie. Tatsächlich gilt es juristisch bisher anders als Parken ohne Parkschein nicht als Ordnungswidrigkeit, sondern als Straftat.

Unterstützung kommt von den Justizministerinnen und Justizministern der Länder: Auf ihrer Herbsttagung im November 2022 baten sie den Bundesjustizminister, „einen Gesetzesvorschlag zur Aufhebung der Strafbarkeit zu unterbreiten sowie den entsprechenden Gesetzgebungsprozess anzustoßen“. Dem kam Buschmann bisher noch nicht nach, kündigte jedoch an, sich in der zweiten Jahreshälfte mit dem Thema zu beschäftigen. Eine komplette Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe, wie sie die Partei Die Linke fordert, lehnt die Bundesregierung mit der Begründung ab, sie würde die „wirksame Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs bei der Geldstrafe grundsätzlich in Frage stellen“. Ebenfalls nicht in Betracht kommt demnach die Hochstufung gemeinnütziger Arbeit als vorrangiger Ersatz für nicht beglichene Geldstrafen, wie sie die damalige rot-grüne Koalition bereits 2004 plante. Dies ließe „kein Zurückdrängen der Zahl der zu vollstreckenden Ersatzfreiheitsstrafen erwarten“, heißt es im aktuellen Gesetzentwurf des BMJ.

Noch besteht innerhalb der Ampelkoalition nicht in allen Details Einigkeit. Canan Bayram, Obfrau der Grünen im Rechtsausschuss, fordert im Namen ihrer Fraktion Nachbesserungen in drei Punkten:

Bayram verweist außerdem auf den Koalitionsvertrag, wonach für Beschuldigte vor Gericht eine Verteidigung auch ohne vorherigen Antrag sichergestellt werden soll. „Wir erwarten einen entsprechenden Referentenentwurf aus dem Bundesjustizministerium“, so die Abgeordnete. Ebenfalls noch nicht zufrieden ist die SPD. Zwar sei die Reform, so Carmen Wegge, „ein großer Schritt für mehr Gerechtigkeit in unserem Strafsystem“. Dennoch ist es der Rechtspolitikerin zufolge nicht hinnehmbar, dass insbesondere Armutsbetroffene ins Gefängnis müssen : „Daher werden wir uns nach der ersten Lesung im Bundestag zusammensetzen, um darüber zu sprechen, ob es noch weitere Möglichkeiten des Gesetzgebers gibt, um Ersatzfreiheitsstrafen zu verhindern.“ Die FDP wiederum will laut Stephan Thomae, einem der Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktion, mit Blick auf eine geplante öffentliche Anhörung „die Expertenmeinungen abwarten, bis eine finale Entscheidung zu möglichen Änderungen im Gesetzentwurf getroffen wird“.

Das Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe möchte nicht so lange warten und ist deshalb schon länger auf Bundes- und Landesebene mit der Politik im Gespräch. 2022 lud die Linke zu einem Gespräch, Anfang März war das Bündnis bei einer Arbeitsgruppe der SPD-Fraktion zu Gast. Die Veränderung des Umrechnungsverhältnisses von zwei Tagessätzen auf einen nennt Manuel Matzke, Sprecher der Gefangenen-Gewerkschaft, eine Farce, da sie im Grundsatz nichts ändere: „Die Ersatzfreiheitsstrafe löst keine Probleme, sondern ist selbst Teil eines problematischen Strafsystems.“ Dagegen will das Bündnis am Mittwoch vor dem Bundestag protestieren und Geld zum Freikaufen von Inhaftierten sammeln – bevor drinnen die Abgeordneten das Gesetz debattieren.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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