Analyse
Erscheinungsdatum: 03. Juli 2023

Erik Marquardt zu GEAS: „Die Genfer Flüchtlingskonvention wird angegriffen“

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Bis Frühjahr 2024 soll mit dem GEAS ein neues Asylsystem für die EU stehen, ein großes Paket bestehend aus sechs Verordnungen und zwei Richtlinien. Erik Marquardt, der asylpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im EU-Parlament, hält das für unrealistisch. Er plädiert dafür, schrittweise vorzugehen und mit einzelnen Änderungen konkrete Probleme zu lösen.

Table.Media: Hat Sie die Zustimmung der Bundesregierung zu den geplanten Verschärfungen des Asylrechts eigentlich überrascht?

Erik Marquardt: Ja, mich hat erst ihre Positionierung in den Verhandlungen überrascht, dass man sich da nicht am Koalitionsvertrag orientiert hat und als erste Priorität verpflichtende Grenzverfahren hatte oder die Rücküberstellungsfristen bei Dublin verlängern wollte. Also sehr restriktive Positionen, die eigentlich nicht den Parteifarben der Ampel entsprechen. Und dann hat mich die Zustimmung überrascht, weil Nancy Faeser einen Großteil der Punkte, die sie sich vorgenommen hatte, nicht erreichen konnte. Die verbindlichen Verteilungen, die Menschenrechtsstandards. Die Positionen der Bundesregierung finden sich im Beschlusspapier kaum wieder. Und normalerweise würde man Ergebnissen, in denen man sich nicht durchgesetzt hat am Ende nicht zustimmen.

Wie erklären Sie es sich dann?

Erstens war der Druck eine Einigung zu erzielen sehr hoch, weil im Prinzip alle EU-Staaten gesagt haben: Wir können jetzt nicht nochmal scheitern, wir müssen am Ende eine Position haben, wir müssen zeigen, dass wir hier handlungsfähig sind. Und da war es am Ende offenbar nicht mehr relevant auf was man sich einigt, sondern nur noch, dass man sich einigt.

Und zweitens?

Ich glaube, dass Kernpunkte der Reform nicht richtig verstanden wurden. Also zum Beispiel die Ausweitung des sicheren Drittstaaten-Konzepts, die dazu führt, dass ein Großteil der Menschen, die Asyl suchen, keinen Zugang mehr zu Schutz in Europa haben könnten, weil sie über einen sicheren Drittstaat kommen. Die Türkei, die Maghreb-Staaten, Belarus kann man alle als sicher einstufen und wenn Menschen über diese Länder einreisen, können ihre Anträge abgelehnt werden, ohne dass man sie noch inhaltlich prüfen muss. Das ist eine massive Änderung, bei der die Genfer Flüchtlingskonvention im Kern angegriffen wird. Mein Eindruck ist, dass das der Bundesregierung noch gar nicht richtig klar ist.

Hat sich diese Haltung – Einigkeit ist wichtiger als der Inhalt des Beschlusses, was Sie für die EU-Ebene beschrieben haben – dann im Kleinen auch bei den Grünen wiederholt?

Nein. In unserem Parteitagsbeschluss steht ja drin, dass wir die Asylrechtsverschärfung falsch finden. Die Partei war in die Entscheidung der Bundesregierung nicht eingebunden und die Anträge, sie mitzutragen, sind auf dem Kleinen Parteitag abgelehnt oder zurückgezogen worden. Jetzt steht im Beschluss, dass man sich bei den kommenden Verhandlungen für Verbesserungen einsetzt, dass man sich enger abstimmt und dass man es am Ende auch gemeinsam bewertet.

Wäre es für Sie der Moment gewesen, die Koalition nicht mehr mitzutragen?

Wir sind zweitstärkste Partei in dieser Koalition und viele Grüne fragen sich schon, welche Inhalte wir in der Ampel noch durchsetzen können. In den letzten Monaten ist der Eindruck entstanden, dass die FDP vor allem in der Regierung ist, um vereinbarte Projekte zu verhindern und schlechtzureden. So kann es nicht weitergehen. Die Ampel braucht einen Neustart, denn eigentlich könnten wir zusammen noch viele Dinge in die richtige Richtung lenken. Auch in der europäischen Asylpolitik.

Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Die Position der Europa-Fraktion ist klar. Wir haben die Asylverfahrensverordnung geschlossen abgelehnt. Die Frage, ob die Bundesregierung bei den Verschärfungen eine andere Position hat, müssen wir jetzt in den nächsten Monaten, vielleicht sogar Jahren klären. Die Diskussion hat gerade erst angefangen. Auch die Bundesregierung stimmt noch über den Trilog insgesamt ab. Und auch bei der Krisenverordnung, die Teil des GEAS ist, liegt noch kein Beschluss der Mitgliedstaaten vor. Ich bin mir sicher, dass sie der nicht so einfach zustimmen können, denn in dieser Verordnung soll das Asylrecht maßgeblich beschnitten werden.

Nach der Sommerpause beginnen die Verhandlungen zwischen Rat und Parlament – ist der Zeitplan realistisch?

Überhaupt nicht! Es liegen noch nicht alle Ratspositionen vor und bei denen, die nun beschlossen sind, gibt es große politische Unterschiede zu denen des Parlaments. Zum 1. Juli hat die spanische Ratspräsidentschaft begonnen. Aber in Spanien sind bald Wahlen; es wird also dauern, bis die neue Regierung handlungsfähig ist. Das wird die Verhandlungen verzögern. In die belgische Ratspräsidentschaft fällt im Frühjahr schon der Europawahlkampf – und wenn das überstanden ist, kommen eine polnische und eine ungarische Ratspräsidentschaft.

Das heißt, das Thema wird über die Europawahl hinweg und auch bis zur Bundestagswahl weiterkochen?

Genau, es ist nicht realistisch, dass man sich schnell einigt. Es geht ja auch nicht darum, einfach Kompromisse auf dem Papier zu finden, sondern das Asylsystem muss besser funktionieren. Auch Staaten wie Polen und Ungarn müssen sich beteiligen. Außerdem gibt es offenbar bei den Innenministerien der Mitgliedstaaten gar kein so großes Interesse, dass es schnell geht. Ich glaube, man wollte mit dem Beschluss im Rat vor allem Einigkeit demonstrieren.

Warum sollten die Länder die Reform nicht schnell umsetzen wollen?

Nachdem sie nochmal komplett gelesen haben, was sie da seit 2016 verhandelt haben, werden sie merken, dass kein sinnvoller Vorschlag herausgekommen ist. Die Mitgliedsländer tun seit Jahren so, als bräuchte es nur neue Gesetze, um die Probleme zu lösen. Und sie rechtfertigen die Rechtsbrüche, die Pushbacks und das Leid mit einem Mangel an Regelungen. Aber das stimmt nicht. Es gibt schon ein gemeinsames europäisches Asylsystem, aber es hält sich niemand daran. Die meisten Probleme könnten schon jetzt gelöst werden. Niemand hält die Mitgliedsstaaten davon ab, Menschen an den Außengrenzstaaten zu registrieren, menschenwürdige Bedingungen, eine bessere Integration oder eine sinnvolle Verteilung zu beschließen. Dass das niemand tut, wird sich auch durch neue Gesetze, durch ein neues Asylsystem nicht automatisch ändern.

Was ist die Alternative?

Man sollte sich überlegen, was man grundsätzlich erreichen will. Wenn man sagte: Die Außengrenzstaaten sollen mehr Verantwortung übernehmen, also zum Beispiel die Registrierungen an den Außengrenzen durchführen. Und dafür gibt es dann mehr Solidarität; andere Staaten nehmen mehr Flüchtlinge auf. Wenn man dieses neue System erstmal testen will, dann vielleicht nicht gleich mit einer neuen Asylverfahrensverordnung, wie es das GEAS vorsieht und die faktisch die Asylgesetze in allen 27 EU-Staaten überschreibt.

Sondern?

Man könnte im ersten Schritt zum Beispiel die Screening-Verordnung umsetzen. Indem man sagt: Man will, dass die Leute an den Außengrenzen registriert werden. Das machen wir schon jetzt, aber dann machen wir es ein bisschen strukturierter. Dazu gibt es ein Menschenrechtsmonitoring, also man überprüft, ob die Menschenrechte an den Außengrenzen eingehalten werden. Und auf der anderen Seite gibt es dann mehr Solidarität: Wir verteilen nach der Registrierung mehr Leute. Außerdem werden die Einrichtungen vielleicht von der EU bezahlt und nicht von Griechenland.

Also einen Schritt nach dem anderen?

Ja, man sollte das Paket auflösen und mit einem Minipaket starten, das realistisch ist. Man könnte zum Beispiel nur die Screening-Verordnung, Eurodac und den Solidaritätsmechanismus beschließen. Und wenn das funktioniert, dann könnte man schauen, ob man bei den Asylverfahren noch mehr draufsattelt, oder regeln, was in Krisensituationen passiert. Aber jetzt alles auf einmal zu machen, mit einer Asylverfahrensverordnung, die die Asylgesetze aller 27 EU-Staaten auf einmal überschreibt, wird nicht zum Ziel führen, sondern zusätzliches Leid und Chaos erzeugen.

Würde ein Menschenrechtsmonitoring, wie es das EU-Parlament will, ausreichen, um die Menschen an den Grenzen besser zu schützen?

Wir brauchen ein unabhängiges Menschenrechtsmonitoring. Wir brauchen das Recht, dort die Schutzstandards zu sichern. An den Grenzen zu sein und zu gucken, was da passiert. An den Außengrenzen ist die Pressefreiheit verdrängt, Zivilgesellschaft und Hilfsorganisationen sind kriminalisiert worden. Und selbst die Mechanismen, die bei Frontex und bei der Küstenwache gelten sollten, um Menschenrechtsverletzungen sichtbar zu machen, funktionieren nicht.

Mit welchen Folgen?

Viele Menschen verstehen nicht, wie verbrecherisch inzwischen an den Außengrenzen mit Geflüchteten umgegangen wird. Man weiß, es gibt vielleicht Pushbacks und das ist irgendwie nicht in Ordnung. Wie systematisch die Küstenwache und die Grenzpolizei in Kroatien oder Griechenland vorgehen, ist vielen nicht klar: Die Leute tragen Masken, sie nehmen ihre Abzeichen ab, sie rauben Geflüchtete aus, nehmen ihr Geld weg, zerstören die Handys oder nehmen sie weg, ziehen die Leute nackt aus, legen sie gefesselt auf den Boden, verbinden ihnen die Augen mit Klebeband. Es ist eine grausame Politik, die da umgesetzt wird und die gar nichts mit irgendeiner Rechtslage zu tun hat.

Würden Sie sagen, die Zustände in den Lagern, in denen die Menschen bis zum Ende ihres Asylverfahrens festgehalten werden sollen, sind das kleinere Übel?

Es braucht einfach Rechtsdurchsetzung. Es ist nicht erlaubt, Menschen zu misshandeln. Wir brauchen deutlich mehr Härte gegenüber Staaten, die die Menschenwürde missachten und trotzdem EU-Gelder wollen. Wir müssen auch unterscheiden zwischen Screening und Asylverfahren. Das sind zwei unterschiedliche Verordnungen. Beim Screening, wie es das EU-Parlament vorschlägt, werden die Menschen registriert und danach kommen die normalen Asylverfahren. Die Registrierung an den Außengrenzen ist auch wichtig, weil wir merken, dass Leute, die nicht registriert sind, komplett schutzlos sind. Wenn die aber in der Eurodac-Datenbank sind, also auch über ihren Fingerabdruck nachweisen können, dass sie schon in Europa waren, dann schützt es sie auch vor einem Pushback.

Horst Seehofer hat im Interview mit Table.Media gesagt, dass es auch deutsche Beamte brauche, um menschenwürdige Standards an den Außengrenzen zu gewährleisten. Braucht es da von Deutschland mehr Bereitschaft?

Naja, eigentlich gibt es dafür europäische Strukturen. Die EU hat eine europäische Asylagentur, die diese Aufgaben wahrnehmen könnte und sie hat Frontex. Mit dem neuen Frontex-Chef besteht die Chance, dass die Agentur sich wieder an rechtsstaatlichen Prinzipien orientiert.

Warum muss es aus Sicht des Rats der große Wurf, das große Paket auf einmal sein?

Der Hintergedanke war, man könne nicht einzelne Verordnungen beschließen, weil dann nur die Asylrechtsverschärfungen durchkommen und die Solidarität und die Änderungen bei der Verteilung nicht. Jetzt haben sich im Rat allerdings sehr rechte Positionen durchgesetzt. Die Asylverfahrensverordnung kommt einem AfD-Wahlprogramm recht nahe. Das muss man verhindern. Und deswegen kann es aus meiner Sicht keinen Erfolg geben bei einer Paketverhandlung. Und gleichzeitig können wir auch nicht das ganze Paket ablehnen – und es ändert sich nichts. Die Situation ist ja insgesamt nicht gut.

Sehen Sie einen Ausweg aus der Paketlösung?

Die Probleme im Asylsystem sind so groß, dass man nicht alle auf einmal lösen können wird. Ich glaube, es wird darauf hinauslaufen, dass man schrittweise vorgeht: Dafür muss man werben. Die Vorstellung, man könne sechs Verordnungen und zwei Richtlinien gleichzeitig durchverhandeln, ist absurd. Da blickt auch bei den Nationalstaaten niemand richtig durch, das ist einfach zu komplex.

Und wie können Sie vermeiden, dass nur die Verschärfungen durchkommen?

Die Illusion muss fallen, dass man Schutzsuchende morgen nur immer noch etwas schlechter als gestern behandeln müsse und schon hörten sie auf zu kommen. Es gibt jetzt sechsmal mehr Zäune als 2014 an den Außengrenzen sowie umfangreiche Abschreckungs- und Abschottungsmaßnahmen. Trotzdem geht der Plan der Konservativen nicht aus. Abschottung ist einfach keine Lösung, das müssen auch diejenigen verstehen, die seit Jahren immer wieder gegen die gleiche Wand laufen. Die EU-Staaten – allen voran Deutschland – müssen zu ihren Positionen stehen und bessere Vorschläge machen, statt sich von den Populisten in die Ecke drängen zu lassen und ihnen inhaltlich entgegenzukommen. Eine bessere Asylpolitik ist möglich. Aber sie bedeutet einen Kraftakt. Man kann nicht einfach am Spielfeldrand stehen und zuschauen, wie die Rechtspopulisten Tore schießen.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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