Der Finanzminister legte noch einmal nach: „Es ist legitim, dass sich der Kanzler als Wahlkämpfer betätigt“, gab sich Christian Lindner in einem Interview zu Wochenbeginn generös. Zuvor hatte Olaf Scholz seine Zustimmung für einen Mindestlohn von 15 Euro pro Stunde erkennen lassen. Aber Lohnfindung sei nicht Sache der Parteien, sagte Lindner. Im Übrigen lege die SPD anhaltend Vorschläge vor, „die nicht zum Koalitionsvertrag für diese Legislaturperiode passen. Das einzig Neue ist, dass sich daran nun auch der Kanzler beteiligt“.
Womit führende Sozialdemokraten schon wieder auf Betriebstemperatur waren. Gerade erst hatten sie ein Fünf-Punkte-Papier der Liberalen verdaut, das am Sonntag die Abschaffung der Rente mit 63, eine grundlegende Reform der Sozialsysteme sowie eine „generationengerechte Haushaltspolitik“ gefordert hatte. Eine Kampfansage an die Genossen – jedenfalls interpretierten viele von ihnen so den liberalen Punktekatalog.
Es herrscht Unruhe in der SPD-Führung. Wegen der aus ihrer Sicht anhaltenden Provokationen der Liberalen. Wegen der ungeklärten Haushaltslage, wegen der Sparvorgaben des Finanzministers, wegen seiner Unnachgiebigkeit, die Einnahmeseite zu verbessern – aber auch wegen der Strategie des Kanzlers im Umgang mit der FDP. Er lasse seit Monaten jede Provokation zu, so heißt es da; er lasse sich als „Wahlkämpfer“ etikettieren und setze selbst keine Grenzen, heißt es dort. Auch der Kanzleramtschef sei permanent bemüht, im Unterholz entfachte Feuerchen wieder auszutreten, anstatt selbstbewusst mal einen Pflock einzuschlagen und klare Ansagen zu machen.
Daran ändert auch die Tatsache wenig, dass das strittige Rentenpaket II nun doch unangetastet noch im Mai das Kabinett passieren soll, wie die Bild-Zeitung vermeldete. Denn schon deutet sich an, dass die FDP im parlamentarischen Verfahren die Hürden so hoch setzt, dass das Paket die Zweite und Dritte Lesung nicht mehr erreicht.
Auch deshalb war SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich am Dienstag mal wieder miserabel zu sprechen auf seinen Koalitionspartner. „Es ist müßig, mir Gedanken zu machen, dass ein Koalitionspartner jedes Wochenende eine neue Punktation durch die Welt schickt“, ließ er die versammelten Medienvertreter vor der Fraktionssitzung wissen. Adressat war – natürlich – die FDP. Anschließend ging es hinter geschlossenen Türen weiter. „Das wird immer so weitergehen“, grummelte Rolf Mützenich in der Sitzung; „das wird nie aufhören“. Und dann schob er in Richtung des Koalitionspartners noch hinterher: „Wir lassen uns das nicht länger gefallen.“
Überhaupt die Fraktion. Lange waren die SPD-Abgeordneten Zuschauer, wenn sich Liberale und Grüne beharkten. Inzwischen sind sie deutlicher. „Das sind provozierende Aussagen mancher FDP-Politiker vier Wochen vor der Europawahl“, heißt es bei der Parlamentarischen Linken. Andere müssen sich, wie ihr Fraktionschef, regelrecht zügeln. „Wir dürfen uns nicht unter dieses Diktat begeben“, sagt der Bochumer MdB Axel Schäfer. Die Parteilinke Wiebke Esdar und Tim Klüssendorf formulieren im Gleichschritt zur FDP-Sparstrategie: „Der Staat darf sich nicht zurückziehen.“
Auch wenn es wegen des Koalitionsvertrags eine unerfüllte Wunschliste bleiben wird, unverdrossen arbeitet eine Arbeitsgruppe der SPD-Fraktion an einer Verbesserung der Einnahmeseite des Haushalts. Die Begründung: „Die Schere zwischen Arm und Reich ist in der Krise weiter auseinandergegangen.“ Hinzu kommt, dass bei den Ampel-Abgeordneten in einer Fülle Alarmmails und -Anrufe anlanden, wie sie es noch nie erlebt haben: Verbände, Vereine, Ehrenamtler, die Zivilgesellschaft des Landes ist in Aufruhr – überall nagt die Angst vor Streichungen, Kürzungen und dem Kollaps lieb gewordener Projekte.
Der Koalitionspartner ist aber nur ein Grund für die anhaltenden Irritationen. Ein anderer ist die Strategie des Kanzlers. Sie ist für führende Genossen schon länger nur noch bedingt nachvollziehbar. Was sich in Präsidium und Vorstand, aber auch in den Runden der SPD-Staatssekretäre und abgeschwächter auch in den Treffen der A-Minister mit dem Kanzler äußert.
Auch das Interview des Kanzlers im STERN zu Beginn dieser Woche sorgte nicht für Entlastung, auch wenn Scholz womöglich glaubte, es anders intoniert zu haben. Er habe den Finanzminister in die Schranken gewiesen, soll er im Parteipräsidium am Montag versichert haben. Da war das Interview allerdings noch nicht zugänglich, deshalb gab es kaum Nachfragen. Umso größer war das Erstaunen danach: Wie ist etwa der Scholz-Satz zu interpretieren: „Der Finanzminister hat den Ressorts Limits genannt. Das war mit mir abgesprochen.“ Stützte der Kanzler damit den harten Kurs des BMF-Chefs? Oder sollte das ein neutraler Einstieg in die Haushaltsgespräche sein?
Und wie hat er demgegenüber die Bemerkung gemeint: „Wir dürfen uns weder am sozialen Zusammenhalt versündigen noch darauf verzichten, das Wachstum anzukurbeln.“ Denn, so die Interpretation vieler Genossen, Wachstum lässt sich ohne zusätzliche Investitionen und zusätzliches Geld kaum ankurbeln. Die Steuerschätzung am Donnerstag dieser Woche jedenfalls wird kaum für Entlastung sorgen. Im Gegenteil, die Einnahmen stagnieren, „sie wird die Lage zusätzlich erschweren“, wie Scholz am Dienstag in der Fraktion durchblicken ließ. Besonders im Blickpunkt stehen umso mehr BMI, BMZ und Auswärtiges Amt, die die Sparvorgaben des Finanzministers glatt ignorierten. Allein das BMI soll 2025 1,2 Milliarden weniger erhalten als im Jahr 2024. „Wenn das so kommt, kann ich für die innere Sicherheit nicht mehr garantieren“, sagt die Bundesinnenministerin.
So leben die Irritationen in der Parteispitze weiter. In der Führung werden in kleinen Zirkeln inzwischen längst alle denkbaren Szenarien durchgespielt. Inhaltlich, dass kaum noch substanzielle Gesetze Bundestag und Bundesrat passieren. Oder, schlimmer noch, dass kein ordentlicher Haushalt für 2025 zustande kommt. Es wäre mutmaßlich das Ende der Koalition, mit einem freiwilligen Abgang oder aktiven Rausschmiss der FDP-Minister. Eine Mehrheit hätten Olaf Scholz und seine Leute dann nicht mehr, aber bis Ende dieses Jahres wären immer noch alle Projekte finanziert. Danach würde die vorläufige Haushaltsführung unter einem SPD-Finanzminister einsetzen; das allerdings ist kein Neuland, sondern in Wahl-Nachfolgejahren erprobte Praxis. Es gäbe unter diesen Vorzeichen einen kurzen, heftigen Wahlkampf und vorgezogene Bundestagswahlen im Frühjahr 2025.
Dass sich die Union unter Friedrich Merz unter diesen Umständen auf eine Regierungsbeteiligung einlassen könnte, gilt als ausgeschlossen. Umgekehrt dürfte es dem CDU-Chef aber auch nicht zu einer eigenen Mehrheit reichen – es sei denn, er wollte sich von der AfD zum Kanzler wählen lassen. Der Vorteil für Scholz im Falle einer Entlassung der FDP-Minister: Er wäre zumindest vorübergehend die Aura des Zauderers los, er könnte sich innen- und außenpolitisch einige wenige Monate lang als Macher präsentieren.
In der SPD jedenfalls will man auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Scholz glaubt sich des Rückhalts seiner Genossen sicher. Vermutlich hat er recht, aber das Eis ist nur bedingt tragfähig. Denn so umfassend ist die Irritation, dass in kleinsten Kreisen inzwischen auch Denkmodelle ohne einen Kanzler Scholz durchgespielt werden. Dann rückt zwangsläufig Umfrageliebling Boris Pistorius in den Vordergrund, dessen Ehrgeiz sich umgekehrt proportional zum einst guten Verhältnis zum Kanzler entwickelt hat. Die Beziehung hat sich auf eine Arbeitsbeziehung zurechtgeschrumpft. Im Hintergrund arbeitet zudem Co-Parteichef Lars Klingbeil an seiner Zukunft. Wenn über die Führungsreserve der SPD gesprochen wird, fällt zwangsläufig auch sein Name.
Erst einmal aber steht nun der Haushalt an. Die Terminkalender sind freigeräumt, die Beratungen im Dreierkreis (Scholz, Habeck, Lindner) haben begonnen. Parallel dazu werden in den nächsten Tagen die Staatssekretäre der Ministerien im Finanzministerium vorsprechen. Kommt bilateral keine Einigung zustande, müssen sich die Ministerinnen und Minister vor der Troika erklären. Als sich Christian Lindner mit dem Kanzler und Robert Habeck auf das Verfahren verständigte, beschied er auch, dass Habeck die grünen Minister und der Kanzler die SPD-Ressortchefs auf Sparkurs zu trimmen habe. So delegierte er die unangenehmen Auseinandersetzungen an die beiden Ampel-Kollegen, Einzelgespräche umging er damit.
Formal hat der Finanzminister bei seiner Sparoperation ein Argument durchaus auf seiner Seite: Er hat sich am Finanzplan von 2022 orientiert, dem seinerzeit alle Ressorts zugestimmt hatten. Im parlamentarischen Verfahren hatten wohlgesonnene Haushälter insbesondere dem AA und BMZ dann noch viele Millionen dazu gegeben. Lindner sagt nun, das war immer zusätzliches Geld der Haushälter, das entsprach nie der fünfjährigen Finanzplanung. An die sollten sich die besonders leidenden Ressorts auch nun wieder wenden.
Allerdings: Der Finanzplan, auf den sich Lindner beruft, entstand zu einer Zeit, als es noch keinen Krieg in Europa gab, Russlands Cyberangriffe noch überschaubar schienen und auch die Energiewende als deutlich weniger kostspielig erschien.