Normalerweise interessieren sich die Diplomaten des Auswärtigen Amtes während des Dienstes abgesehen von Nachrichten kaum für das Fernsehprogramm. Das könnte diesen Mittwoch anders sein. Zur besten Sendezeit strahlt die ARD den Spielfilm „Am Abgrund“ aus, dem direkt im Anschluss eine Dokumentation über das Rohstoffland Aserbaidschan folgt. Es geht bei dem Themenabend um ein ressourcenreiches und zugleich armes Land, um einen Diktator, um Korruption und einen Geheimdienst, der vor nichts zurückschreckt. Nicht zuletzt geht es um einen Staatspräsidenten, Ilham Alijew, seit 20 Jahren im Amt, der Wahlen fälscht, Oppositionelle wegsperrt und sich internationale Anerkennung erkauft. Seit vielen Jahren, vor allem in Brüssel und Berlin.
Kaum hatte Russland die Ukraine überfallen, war EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Sommer 2022 in die aserbaidschanische Hauptstadt Baku gereist, um die Gas-Beziehung zu intensivieren. Sie traf den Präsidenten, sie nannte Aserbaidschan einen „wichtigen Energiepartner“, der „schon immer verlässlich" gewesen sei. Kurz danach stiegen die Lieferungen aus Baku an die EU um das Vierfache. Dass Alijew 2021 das benachbarte Armenien überfallen hatte, dass er im vergangenen September die Enklave Nagorny-Karabach einnahm – es spielte alles keine Rolle. Das Gas war wichtiger.
Davon wie Alijew die Europäer seit Jahren einwickelt, wie er Politiker besticht und seine Geheimdienste losschickt, handelt der Spielfilm von Daniel Harrich. Im Mittelpunkt: Ein Bundestagsabgeordneter, der als Wahlbeobachter nach Aserbaidschan reist und dessen Staunen sich erst in Ungläubigkeit und dann in aktive Aufklärung verwandelt. Denn was er sieht, ist schwer vorstellbar: Ein allmächtiger Präsident, ein allgegenwärtiger Geheimdienst, der vor nichts zurückschreckt, Wahlen, die offenkundig gefälscht und von der OSZE entsandte Wahlbeobachter, die bestochen sind.
Den Abgeordneten im Film, gespielt von Hans-Jochen Wagner, gibt es wirklich, und es ist einer, der sonst nicht unbedingt das Rampenlicht sucht: Frank Schwabe (SPD), seit 2005 im Bundestag und direkt gewählter Abgeordneter aus dem Wahlkreis Recklinghausen. Schon immer gehörte er zum linken SPD-Flügel, engagierte sich für Menschenrechte, Flüchtlinge und Humanitäre Hilfe.
Seit Jahren schaut er genauer hin, was in Aserbaidschan passiert, nennt das System inzwischen „eine mühsam angestrichene Fassade einer Demokratie in einer faktisch knüppelharten Diktatur“. Vor allem aber beobachtet Schwabe auch, was mit aserbaidschanischem Geld in Europa passiert. Er war es, der zusammen mit anderen darauf hinwies, dass in Europarat und Bundestag Abgeordnete bestochen werden und sich bestechen lassen. Dass der Präsident und sein Geheimdienst nicht nur am Kaspischen Meer Unliebsame verfolgen, sondern dass sie auch in Deutschland Oppositionelle beobachten und einschüchtern.
Aufmerksam auf die Umtriebe Aserbaidschans wurde Schwabe zum ersten Mal im Jahr 2013, als sein Kollege Christoph Strässer (SPD) im Parlamentarischen Rat des Europarats mit einer Resolution zur Freilassung politischer Gefangener in Aserbaidschan scheiterte – begleitet von Hohn und Spott der aserbaidschanischen Delegation. Der aserbaidschanische Delegationsleiter Samad Seydow bestritt kategorisch die Existenz politischer Häftlinge in seinem Land. Solche Vorwürfe seien „lächerlich“. Der Russe Robert Schlegel assistierte und befand, nach diesen Maßstäben könne sich künftig „jeder Drogendealer und jeder Terrorist zum politischen Gefangenen erklären“.
Schwabe beschloss, genauer hinzuschauen. Er meldete sich 2015 als Wahlbeobachter für die Parlamentswahlen. Und er staunte: Er sah ein Wahlumfeld, das den Bedingungen für freie und faire Wahlen in keiner Weise entsprach. Er staunte erneut am Morgen nach der Auszählung, als der Chef der Mission befand, der Urnengang habe sich als „ein weiterer Schritt zu freien, fairen demokratischen Wahlen“ erwiesen. Auch andere Wahlbeobachter schienen ihren Auftrag auf sehr eigene Weise zu interpretieren.
Schwabe opponierte, teilte sein Staunen mit, verlor aber die interne Abstimmung: Für die Mehrheit der Beobachter und ihren Vorsitzenden war die Wahl ordnungsgemäß verlaufen. Zwei Jahre später, bei der Präsidentschaftswahl, war Schwabe wieder Beobachter, wieder gab es Unregelmäßigkeiten; diesmal machte die Kommission ihre Beobachtungen öffentlich – weil Schwabe die interne Abstimmung mit 14:12 Stimmen für sich entschied. Es war die Zeit, als auch der Europarat erwachte. Schwabe, Christoph Strässer, der Niederländer Pieter Omtzigt und der Migrationsexperte Gerald Knaus, der sich schon lange mit Aserbaidschan beschäftigt, stießen Untersuchungen an, aus denen hervorging, wie verzweigt das Netzwerk in Westeuropa war und wie viele Politiker, Agenturen und sogenannte Berater sich hatten einkaufen lassen.
Millionen waren geflossen, und selbst der spanische Präsident der Parlamentarischen Versammlung gehörte zu den auffälligen Apologeten Aserbaidschans. Vor allem Unionspolitiker – darunter Eduard Lindner (CSU), Axel Fischer,Mark Hauptmann oder auch die später unter dubiosen Umständen verstorbene Karin Strenz waren für Zahlungen aus Baku empfänglich. Dutzende von regimetreuen aserbaidschanischen Praktikanten im Bundestag, ein von Baku bezahlter Lehrstuhl an der Humboldt-Universität und zahlreiche Reisen einflussreicher deutscher Politiker nach Baku: Das deutsche Netzwerk war Präsident Alijew einiges wert.
Für die Präsidentschaftswahl 2020 war Schwabe wieder vor Ort. Diesmal jedoch war er Leiter der Beobachtermission. Wieder kam ein überaus kritischer Bericht zustande. Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist er „unliebsame Person" bei den Herrschenden des Landes, wie er sagt.
Präsident Alijew zog Konsequenzen. Vor der vorgezogenen Präsidentschaftswahl im Februar 2024 verkündete er Ende des vergangenen Jahres eigenmächtig, es brauche diesmal keine Wahlbeobachter. Er hatte die Wahl kurzfristig angesetzt, die Gefängnisse füllten sich mit politischen Gefangenen, und als Herausforderer traten ausschließlich Marionetten auf. Die Opposition verzichtete auf Gegenkandidaten.
Weil sich nach westlichen Maßstäben Demokratie anders definiert, reagierte der Europarat. Die Parlamentarische Versammlung schloss Aserbaidschan für ein Jahr aus. Danach rückte Schwabe noch ein bisschen mehr in den Fokus der staatstreuen Aseris, auch in Deutschland. Er sei islamophob, ein Freund der Opposition, ein Feind Aserbaidschans. In den Sozialen Medien hetzte die aus Aserbaidschan stammende Influencerin Elvira Michieva gegen Harrichs Film, Schwabe und Deutschland: „Digga, dieses Land verarscht uns von vorne bis hinten.“ Und der Staatspräsident höchstselbst warf Schwabe vergangene Woche vor, er wolle „Aserbaidschan, eines der beiden nichtchristlichen Länder in der PACE (Parlamentarische Versammlung des Europarates), verdrängen, und das tut er demonstrativ und zielstrebig“.
Etwa ein halbes Dutzend Mal war Schwabe inzwischen am Kaspischen Meer, er geht fest davon aus, dass er penibel überwacht wird, sobald er die Grenze überschreitet, dass es Filmaufnahmen gibt, dass er im Hotel lückenlos beobachtet wird. Dass aserbaidschanische Truppen im vergangenen September die armenisch besetzte Enklave Nagorny-Karabach einnahmen, ist für ihn nicht nur ein historischer Erfolg des Präsidenten Alijew. Es geht auch um die Rohstoffe, die dort im Boden liegen. Es sind hochwertige Ressourcen, auch deutsche Unternehmen sind längst im Geschäft, was den Abbau angeht. „Dort werden schon jetzt die Claims verteilt“, sagt Schwabe.
Für das Auswärtige Amt kommt der Themenabend am Mittwoch zur Unzeit. Denn es stellen sich Fragen: Wie geht man um mit einem Land, für das die Bestechung ausländischer Politiker zum Geschäftsmodell gehört, das zugleich auf Rohstoffen sitzt, die in Deutschland für „strategisch bedeutsam“ erachtet werden? Welche Rolle spielt eigentlich die deutsche Botschaft in Baku? Und was bekommt das Bundesamt für Verfassungsschutz mit vom Treiben des aserbaidschanischen Geheimdienstes, überhaupt ausländischer Agenten in Deutschland?
Aber noch aus einem anderen Grund passt das Thema gerade nicht auf die Agenda des Auswärtigen Amtes. Unter deutscher Moderation haben in Berlin soeben aserbaidschanisch-armenische Friedensgespräche begonnen. Es geht um die Frage: Wie weiter mit Nagorny-Karabach, nachdem die Aseris einmarschiert sind und den größten Teil der ansässigen Armenier vertrieben haben? „Nachdem wir unsere territoriale Integrität und Souveränität wiederhergestellt haben“, wie es Präsident Alijew formulierte. Einen Friedensvertrag jedenfalls gibt es bisher nicht. Außenministerin Annalena Baerbock höchstpersönlich hatte ihre beiden Amtskollegen aus Baku und Eriwan vergangene Woche im Amt begrüßt.Eine kritische öffentliche Debatte über das Regime in Baku und seine generöse Mittelvergabe im europäischen Ausland käme da eher ungelegen.
Auch an anderer Stelle wird Aserbaidschan die Welt noch herausfordern: Im kommenden November findet in Baku die 29. Klimakonferenz (COP) statt. Erneut in einem Land, das zu den größten Öl- und Gasproduzenten der Welt gehört und in dem persönliche und politische Interessen der handelnden Politiker eng miteinander verflochten sind.
Frank Schwabe jedenfalls steht auf einmal im Rampenlicht. Eine Bekanntheit, auf die er gerne verzichtet hätte. Er bewegt sich vorsichtiger, er wählt seine Kontakte sensibler aus, er schützt sein Privatleben. Aber seinen Kampf wird er weiter führen. Seine Begründung: „Wenn sich diese Art von Politik durchsetzt, macht sie den Europarat als Hüter von Menschenrechten und Demokratie kaputt.“