Themenschwerpunkte


„Die Realität war besser als unsere Annahmen“

Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur: „Dass das Jahr so extrem würde, war natürlich nicht vorauszusehen.“ (Foto: Imago/wolterfoto)

Berlin.Table: Herr Müller, vor einem Jahr kannten nur Energieexperten die Bundesnetzagentur – oder gar Ihren Präsidenten. Hatten Sie sich auf einen ruhigen Job gefreut, als Sie damals für das Amt nominiert worden sind?

Klaus Müller: Nein. Nach 16 Jahren im Verbraucherschutz kannte ich die Bundesnetzagentur als starke Verbraucherschutzbehörde. Und ich hatte Lust, die Energiewende und Digitalisierung mit voranzubringen. Insofern habe ich keinen ruhigen Job erwartet. Aber dass das Jahr so extrem würde, war natürlich nicht vorauszusehen.

Auf wie viele Stunden Arbeit pro Woche hatten Sie sich eingestellt – und wie viele sind es tatsächlich?

Ich finde, das ist nicht entscheidend. Ich glaube, dass gerade sehr, sehr viele Menschen deutlich über das hinaus arbeiten, was in Ihrem Vertrag steht. Wichtiger ist: Habe ich was bewirkt? Und da denke ich, dass beim Krisenmanagement in dem Jahr insgesamt viel gut gelaufen ist. Es gibt eine Reihe von Lerneffekten, wo man rückblickend etwas hätte besser machen können. Aber unterm Strich, glaube ich, hat sich der Einsatz vieler Kolleginnen und Kollegen in der Bundesnetzagentur gelohnt.

Fast gleichzeitig mit Ihrem Amtsantritt hat Russland die Ukraine angegriffen. Und Sie waren dann mit einem Schlag verantwortlich dafür, dass es trotzdem genug Strom und Wärme gibt – und auch dafür zu entscheiden, wer gegebenenfalls darauf verzichten muss. Hat Sie die große Aufmerksamkeit, die damit einherging, eigentlich gefreut, oder war das eher belastend?

Es bestand tatsächlich die Möglichkeit, dass die Bundesnetzagentur massiv ins Leben von Menschen und Unternehmen eingreift. Das muss man sehr gut rechtfertigen, da steht die staatliche Seite in einer absoluten Bringschuld. Insofern ist die Aufmerksamkeit gerechtfertigt, es gibt ein Recht auf Transparenz. Darum haben wir sehr, sehr viel kommuniziert.

„Ich glaube, dass es richtig ist, dass die Bundesregierung Vorsorge trifft“: Müller mit Wirtschaftsminister Robert Habeck (Foto: EPA-EFE/Clemens Bilan)

Im Frühjahr hieß es von Seiten der Bundesregierung und auch von Ihnen, ohne russisches Gas könnte Deutschland diesen und den nächsten Winter nicht überstehen, ohne die Wirtschaft massiv herunterzufahren. Nun kommt seit September kein Gas mehr durch Nord Stream 1, doch es fehlt nirgends Gas und die Speicher sind sogar viel voller als sonst. Warum lagen die Prognosen so krass daneben?

Die Prognosen lagen nicht daneben. Wir haben unsere Annahmen für die Prognosen immer transparent gemacht und wir waren sehr skeptisch, einen sofortigen Boykott gegen russisches Gas zu verhängen. Sie dürfen nicht vergessen: Das Gas, das jetzt in unseren Speichern ist, ist zu erheblichen Teilen noch russisches Gas. Wir sind im April mit 27 Prozent Speicherfüllstand gestartet und lagen Anfang September schon bei 85 Prozent. Entscheidend für die Frage, ob es zu einer Gasmangellage kommt, sind drei Zahlen: Wie viel Gas kommt nach Deutschland, wie viel leiten wir in andere Länder weiter und wie stark senken wir unseren eigenen Verbrauch. Im Rückblick sehen wir, dass wir bei den Einsparungen erfolgreicher waren, als viele Akteure sich vorstellen konnten. Zum Teil lag das an den milden Temperaturen, zum Teil aber auch am großen Einsatz von privaten Verbrauchern, die die Temperatur in den Wohnungen gesenkt haben, und von Unternehmen, die kurzfristig von Gas auf Öl umgestellt haben. Hier haben auch die hohen Preise gewirkt.

Aber das allein erklärt es nicht. In Ihren Szenarien waren auch bei angenommenen Einsparungen von 20 Prozent, die jetzt erreicht worden sind, die Speicher ziemlich leer.

Ja. Denn auch an einem anderen Punkt war die Realität besser als unsere Annahmen: Wir haben sehr viel weniger Gas in unsere Nachbarländer weitergeleitet als angenommen. Dort ist teilweise mehr eingespart worden als bei uns. Wir denken in Deutschland immer gern, wir sind Weltmeister – aber damit haben wir nicht nur beim Fußball falsch gelegen. Rückblickend würde ich sagen, in den Prognosen der Bundesnetzagentur haben wir diesen Faktor am wenigsten gewürdigt.

Wie kommt das?

Ein Grund dafür ist auch die Qualität der Daten. Was ich hier im Frühjahr 2022 vorgefunden habe, würde ich im Gasbereich bestenfalls als suboptimal bezeichnen. Wir haben viel Zeit darauf verwenden müssen, eine halbwegs valide Datenbasis zu erzeugen. Und es hat auch was mit weiteren Quellen zu tun. Einige Länder haben LNG-Terminals reaktiviert, die in der Vergangenheit schlecht ausgelastet waren.

Die Bundesregierung scheint die Kapazitäten der LNG-Terminals in unseren Nachbarländern falsch eingeschätzt zu haben. Anders als angenommen, kann der Ausfall von Nord Stream 1 darüber derzeit weitgehend kompensiert werden. Braucht Deutschland angesichts dieser Erfahrung so viele eigene Terminals, wie derzeit geplant werden?

Ich glaube, dass es richtig ist, dass die Bundesregierung Vorsorge trifft, und das bedeutet im Zweifelsfall auch, auch auf einen extrem kalten Winter vorbereitet zu sein und Redundanzen einzuplanen für den Fall, dass ein Terminal oder eine weitere Pipeline ausfällt. Ebenso ist es richtig, nicht nur auf Deutschland zu schauen, sondern auch an unsere Nachbarn zu denken. Aber ich denke schon, dass man im Rückblick auf die ersten Winter ohne russisches Pipeline-Gas die Statistiken nochmal genauer anschauen wird. Ob am Ende alle derzeit diskutierten Terminals realisiert beziehungsweise voll ausgelastet werden, wird man sehen.

Auch beim Strom gab es große Sorgen, dass er in diesem Winter nicht reichen würde. Der Kanzler hat darum per Machtwort den Weiterbetrieb der drei verbliebenen Atomkraftwerke bis April angeordnet. War das aus heutiger Sicht notwendig?

Aktuell gäbe es auch ohne die Atomkraftwerke keine Versorgungsprobleme. Es gab dazu ja im Vorfeld den Stresstest der Netzbetreiber. Heute sieht man: Bei sechs der sieben Faktoren, die im Stresstest eine Rolle gespielt haben, können wir einen dicken grünen Haken dran machen. Nur bei den französischen AKWs ist die Verfügbarkeit so gering wie erwartet.

„Nur recht kleine Einschränkungen“: Auch bei Netzüberlastung sollen E-Autos zu Hause geladen werden können, stellt Müller klar – aber langsamer. (Foto: Imago/Robert Poorten)

Und kommen wir auch in den nächsten Wintern ohne Atomkraft aus?

Ja, für das Jahr 2023 und darüber hinaus lassen sich Versorgungssicherheit und Netzstabilität ohne Atomkraft und später auch ohne Kohle organisieren – unter Berücksichtigung einiger durchaus ehrgeiziger Annahmen zum Fortschritt der Energiewende.

Trotzdem liest man ja immer wieder Warnungen vor einem Blackout – zwischenzeitig sogar vom Chef einer anderen Bundesbehörde…

Es gibt da bisweilen eine Sprachverwirrung. Kurzzeitige, geplante Stromabschaltungen bei Unternehmen, die das freiwillig vereinbart haben, hat es in der Vergangenheit gegeben, und das ist auch für die Zukunft nicht auszuschließen. Erzwungene Abschaltungen hingegen halte ich für unwahrscheinlich. Und unter einem Blackout versteht man einen großflächigen, ungeplanten Stromausfall. Und damit müssen wir in Deutschland nicht rechnen. Ich glaube, das haben inzwischen alle Behörden verstanden.

Sie sagen, wir müssen keinen Strommangel fürchten. Trotzdem haben Sie gerade angekündigt, dass in Zukunft Wärmepumpen und Elektroautos gedrosselt werden können, wenn es nicht genug Strom gibt. Sorgt das nicht für große Verunsicherung bei denen, die gerade über einen Umstieg nachdenken?

Nein. Erstens geht es nicht um Strommangel, sondern um die Belastbarkeit des Netzes vor Ort. Und zweitens wollen wir damit gerade Sicherheit schaffen für diejenigen, die über einen Umstieg nachdenken. Denn ohne neue Regeln droht die Gefahr, dass Netzbetreiber pauschale Abschaltungen vornehmen oder neue Anschlüsse verweigern. Was wir vorschlagen, verlangt Verbraucherinnen und Verbrauchern dagegen nur recht kleine Einschränkungen ab: Die Leistung privater Ladestationen und Wärmepumpen kann, wenn wirklich eine Überlastung des Netzes droht, zeitweise verringert werden. Aber ein E-Auto ließe sich auch dann noch in drei Stunden so weit aufladen, dass es für den Weg zur Arbeit und zurück reicht. Und Wärmepumpen können trotzdem jederzeit genug Wärme erzeugen.

Sind Sie denn für den Fall der Fälle trotzdem auf mögliche Ausfälle vorbereitet? Haben Sie Taschenlampen, Batterien oder Campingkocher im Haus? Oder einen Heizlüfter?

Wichtig ist, dass die Bundesnetzagentur darauf vorbereitet ist. Das sind wir – aber in der Annahme, dass wir es nicht brauchen.

Und privat bei Ihnen zu Hause?

Ich habe mich nie zum Thema Duschen, Waschlappen und Ähnlichem geäußert. Das werde ich auch weiterhin nicht tun. Denn ich glaube, es ist nicht hilfreich, dieses Thema zu individualisieren. Aber Sie können davon ausgehen, dass ich ein fürsorglicher Mensch bin. Und trotzdem habe ich keinen Heizlüfter zu Hause.

Mehr zum Thema

    Die Koalition, der Ausschuss und die Neuaufstellung der Ampel
    Charles III. in Berlin: „Mut schöpfen aus unserer Einigkeit“
    Tierwohl: Streit um die Tötung von Huhn-Embryos
    „Der große Wurf wird zum Angriff auf die Demokratie verzerrt“