Auf einen Rückschlag waren die Grünen eingestellt. Es war klar, dass sie das Ergebnis von 2019 nicht würden halten können. Aber dass es so hart kommt, dass sie mehr als 8 Prozentpunkte von ihren damals gut 20 Prozent abgeben müssten, darauf waren sie nicht eingestellt. Nun ist die Unruhe in der Partei groß – was wiederum keine gute Voraussetzung ist, wenn man sich stabilisieren will.
11,9 Prozent, das hatten die Grünen lange nicht mehr. Das Bundestagswahlergebnis von 14,8 Prozent war für die Partei schon eine Enttäuschung gewesen. Das zumindest wollten sie halten. In Umfragen hatten sie es lange geschafft – als einzige der drei Ampelparteien. Aber es sind nicht nur die Verluste. Mit einem knappen zweistelligen Ergebnis, fast zwanzig Prozentpunkte hinter der Union, wirken Diskussionen über den richtigen Kanzlerkandidaten wie aus einer anderen Welt. Der Kampf um Platz eins, das war ein einmal. Anton Hofreiter, ehemaliger Fraktionsvorsitzender, hat das am Sonntagabend so ähnlich selbst gesagt.
So bitter das Ergebnis für die Grünen ist: Es gibt in der Partei durchaus Stimmen, die in der Krise eine Chance sehen wollen. „Besser als 14 Prozent“, so ist zu hören, denn das könne man irgendwie noch schönreden. Nun sind die Grünen zum Eingeständnis gezwungen, dass sie die Wahl verloren haben. Und sie müssen sich der Frage stellen, welche Konsequenzen sie daraus ziehen.
Das Problem ist: Die Meinungen unter Grünen darüber, was die richtigen Lehren sind, gehen auseinander. Haben sie zu viele Kompromisse gemacht, zu viele Abstriche beim wirksamen Klimaschutz, kurz: zu wenig „Grün pur“? Oder sind die Grünen zu sehr in ihrer eigenen Blase, zu weit weg von den Problemen der meisten Menschen? Die Partei hat rund eine halbe Million Wähler an die CDU verloren. Die beiden Realos Rezzo Schlauch und Daniel Mack kritisieren in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel eine „Kluft zwischen Parteifunktionären und der Bevölkerung“. Sie appellieren an ihre Partei „Stellt euch endlich konsequent hinter die Politik des eigenen Vizekanzlers, der genau das auf den Weg bringt, anstatt seine Vorschläge für Entlastungen und Anreize zu ignorieren und seine Kompromisse offen infrage zu stellen.“
Das führt zum zweiten Punkt, der unter Grünen nun heiß diskutiert wird: die Strukturen in der Partei. Sind Sechser und Fünferrunden noch zeitgemäß? Braucht es wirklich überall Doppelspitzen? Hier wirkt noch die Zeit der „Antiparteienpartei“ nach, als Kampagnenfähigkeit nicht zählte und man mit der Macht noch fremdelte. Gut möglich, dass die Koalitionspartner FDP und SPD übertreiben, wenn sie genervt berichten, wie sich Grüne bei Koalitionsausschüssen angeblich immer wieder zu Rücksprachen zurückziehen müssten. Aber es ist auch richtig, dass die Grünen vor allem dann wirklich erfolgreich waren, wenn sie ihre eigenen Dogmen nicht übermäßig ernst genommen haben. Winfried Kretschmann, der bislang einzige grüne Ministerpräsident, hat neben sich keine zweite Nummer eins.
Für die grüne Bundesebene geht es konkret um die Frage, wie viel Beinfreiheit die Partei ihrem Vizekanzler Robert Habeck gewährt. Immer wieder haben ihm Parteifreunde in den vergangenen Monaten dazwischen gefunkt. In der Frage der drei noch aktiven Atomkraftwerke wollte Habeck pragmatisch sein, die Fraktion hat ihn zu der Pseudolösung einer „Einsatzreserve“ gezwungen, die außerhalb der grünen Blase nicht vermittelbar war. Seine Kabinettskollegin, Bundesfamilienministerin Lisa Paus, blockierte im vergangenen Sommer das Wachstumschancengesetz und düpierte damit den Vizekanzler, der es mit den Koalitionspartnern verhandelt hatte. Bei der Bezahlkarte für Flüchtlinge schon wieder die Fraktion quer. Dieser Reflex hat nicht nur damit zu tun, dass Grüne mit inhaltlichen Punkten Schwierigkeiten hatten. Es gibt in der Partei ein grundsätzliches Misstrauen gegen Politiker, die auch oder vor allem in der Breite der Bevölkerung gut ankommen. Der Erfolg und der Argwohn haben die gleiche Wurzel: Diese Politiker nehmen sich die Freiheit, sich mal einen Millimeter vom Parteiprogramm wegzubewegen. Und die Partei versucht, sie einzuhegen. Habeck kennt das genauso wie Özdemir, Kretschmann und Palmer.
Mindestens so schmerzhaft wie diese Strukturfragen sind für Grüne Debatten über das Personal, vor allem wenn die Leistung nicht stimmt. Als am Wahlabend das Gerücht aufkam, dass der Stuhl von Emily Büning, der Politischen Geschäftsführerin, wackle, war die Empörung groß. Was wiederum Beobachter überrascht. Es gab von Anfang Zweifel, ob Büning die richtige für den Job ist. Sie hat viele Qualitäten, arbeitet gut in die Partei hinein, aber die Bühne ist einfach nicht ihr Ding. Vor ihrer Wiederwahl auf dem Parteitag im November zirkulierten ein paar Namen, doch am Ende kandidierte niemand gegen sie, auch wegen Flügelarithmetik und Parität. Büning ist in der Parteizentrale verantwortlich für den Wahlkampf, wenn auch nicht alleine. In anderen Parteien wäre es ein Wunder, wenn nach einem Erdrutsch von mehr als acht Prozent nicht über einen Wechsel in dieser Position nachgedacht werden würde. Bei den Grünen ist es anders. Weil Büning öffentlich angezählt ist, solidarisieren sich viele Parteifreunde, vor allem Linke, mit ihr. Und die Realos, die kritisch auf ihr Wirken blicken, sind verärgert, weil es dadurch schwieriger wird, den Posten neu zu besetzen.
Bei aller Kompliziertheit sind die Grünen aber doch eine lebendige Partei – und deshalb wird letztlich doch alles diskutiert, nur öffentlich soll es eben nicht werden. Auch über die Parteivorsitzenden Nouripour und Lang wird nun gesprochen: Sind sie die richtigen? Können sie mobilisieren? Warum zieht Lang, die ehemalige Sprecherin der Grünen Jugend, nicht bei der Jugend? Unter den Erstwählern ist die Partei eingebrochen, ein Viertel weniger als 2019. Aber: Wer soll ihnen nachfolgen? Das ist schwierig. Von Habeck und Baerbock ist die Rede, Minister und zugleich Parteivorsitzende. Das wiederum wäre eine echte grüne Revolution. Die Frage ist, ob das Ergebnis dafür schlecht genug ist.