Analyse
Erscheinungsdatum: 14. Mai 2025

Die erste Debatte in neuen Rollen: Botschaften – Überraschungen – Gesamteindrücke

Zwischen Abschied und Aufbruch zeigt die Regierungserklärung, wie schwer der Rollenwechsel fällt und wie groß die Erwartungen sind.

Die Konstituierung ist vorbei, die Kanzlerwahl auch. Der Tag der ersten Regierungserklärung ist nun der Tag, an dem sehr viele in neuen Rollen auftreten. Der Oppositionsführer ist plötzlich Kanzler – und auch die, die auf ihn antworten, müssen sich erst neu zurechtfinden.

Dabei ist am Mittwoch deutlich geworden, wie schnell die einen plötzlich entschlossen optimistisch nach vorne schauen – und wie lange viele andere noch in der Vergangenheit hängen. Mal, weil sie mental noch nicht anders können; mal, weil sie die Schmerzen der Wahlniederlage noch verdauen müssen. Genau deshalb werfen wir heute einen Blick auf die Menschen. und Rollenwechsel, die zum Kern einer Demokratie gehören.

Friedrich Merz (CDU): Blick aufs große Ganze – Dank an Scholz – Ohne jede Schärfe. Der Kanzler fängt ganz oben an, beim wichtigsten Punkt: Wie sieht’s aus in der Welt – und was bedeutet das für Deutschland? Merz spricht über „eine Welt in Aufruhr“ und die Pflicht zur Verteidigung der Freiheit. Er will „die stärkste Armee“ in Europa schaffen. Denn: „Stärke schreckt Aggression ab; Schwäche lädt Aggression ein.“ Alles andere schließt sich an: Hilfe und Aufbruch für die Wirtschaft; Begrenzung der Zuwanderung; ein moderner Wiederaufbau des Landes. Und das alles als Beleg dafür, dass die Politik (und damit auch die Demokratie) Probleme lösen kann.

Die größte Überraschung: dass er mit einem Dank an Olaf Scholz anfängt – und die Verlierer der Wahl würdigt. Scholz habe Deutschland durch Zeiten außergewöhnlicher Krisen geführt. Seine Reaktion auf den russischen Angriffskrieg sei „wegweisend“ und „historisch“. Gewesen. „Dafür gilt Ihnen unser Dank, mein persönlicher Dank und – ich hoffe jedenfalls – die Anerkennung dieses ganzen Hauses.“ Zugleich dankt Merz der ausgeschiedenen Regierung für einen mustergültigen Machtwechsel. Der sei „professionell, reibungslos und kollegial“ abgelaufen. Und das zeuge von der „demokratischen Reife unseres Landes“.

Sein Gestus und seine Botschaft: Eine Neuformulierung von Merkels „Wir schaffen das“. Merz verspricht, dass seine Regierung eine für alle 84 Millionen in Deutschland sein will.Und er möchte trotz aller Probleme neues Selbstvertrauen begründen. „Unser Land ist stark“, sagt Merz. Und fügt hinzu: „Der Staat – das sind wir alle.“ Gerade deshalb wolle er sagen: „Wir können alle Herausforderungen, ganz gleich, wie groß sie auch sein mögen, aus eigener Kraft heraus bestehen und daraus etwas Gutes machen.“ Das klingt fast schon nach Merkel hoch zwei.

Größte Schwäche: Die alternde Gesellschaft hat nur am Rande stattgefunden. Und das, obwohl bei Gesundheit und Pflege schon sehr bald schwerste Fragen der Finanzierung anstehen. Trotzdem hat Merz das Thema nur gestreift. Und das gilt auch für die Wohnungsnot und die Mietpreis-Misere. Dass er Letzteres überhaupt anspricht, hat selbst die Linken überrascht. Merz betont, dass die Preise dort, wo sie zu hoch seien, wieder gesenkt werden müssten. Allerdings lautet sein Konzept: Bauen, bauen, bauen. Für Lösungen ist das zu wenig. Stefan Braun

Matthias Miersch (SPD): Zwischen Profilsuche und Loyalität. Wie dokumentiert man Loyalität zur Regierung und setzt zugleich eigene – sozialdemokratische – Akzente? Die Frage wird für den SPD-Fraktionschef zum Stresstest und zur Dauerherausforderung in dieser Legislaturperiode. Miersch rückt bei seinem ersten Auftritt in neuer Rolle das Wir, die Solidarität und das Miteinander in den Mittelpunkt. Der Koalitionsvertrag enthält in diesem Kontext eine Reihe von Details, etwa die Handlungsfähigkeit des Staates, die Verteidigung der Demokratie, die Soziale Sicherheit, das Tariftreuegesetz oder den Mindestlohn. Und das überragende öffentliche Interesse für die Planungs- und Genehmigungsverfahren. Mierschs Credo: „Das Ego zurückzunehmen und das öffentliche Interesse in den Mittelpunkt zu stellen“ – das müsse das Ziel sein.

In zwei Punkten setzt er sich ab von seiner Regierung. So gewährt der ehemalige Umweltpolitiker dem Klimaschutz eine eigene Passage. Der Schutz des Klimas sei „eine Chance und die notwendige Voraussetzung, wirtschaftliche Stabilität in diesem Land zu schaffen“. Und dann ist da noch der Blick nach draußen und der drohende Zwang, an der Entwicklungszusammenarbeit zu sparen. Miersch bescheinigt der Bundesregierung „eine riesige Verantwortung für diese Welt“. Deutschland müsse „die Zusammenarbeit auf diesem Globus vorantreiben“ und dürfe sie nicht zurückfahren, „in unserem eigenen Interesse, weil sonst alle Probleme auch bei uns sein werden“. „Das werden vier spannende Jahre“, so Miersch. Da könnte er recht haben. „Vier Jahre, die das Land voranbringen werden.“ Was zu beweisen wäre. Horand Knaup

Jens Spahn (CDU): Der neue Innenverteidiger der schwarz-roten Koalition. Ein bisschen Opposition hat sich der Chef der Unionsfraktion im neuen Bündnis erhalten. Zumindest, was den Sound angeht. Zu Beginn seiner Rede teilt er noch einmal aus und kontert Kritik aus den Reihen der Grünen. Spahn mahnt, die Volksparteien seien geschwächter und die politischen Ränder gestärkter denn je. Der Vertrauensverlust sei massiv. „Nach zwei Jahren Rezession, nach Jahren zu hoher illegaler Migration, nach dreieinhalb Jahren Ampel und rot-grüner Minderheitsregierung, waren und sind Frust, Wut und Enttäuschung so groß, wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik.“ Damit liefert der Fraktionschef jene Schärfe, die der Kanzler bewusst vermieden hat.

Dann kommt Spahn zur Zukunft und zu einem großen Versprechen. Unter dem neuen Kanzler beginne endlich der Neustart. „Germany is back“, lautet sein Versprechen. Die lang angekündigte Politikwende sei in Arbeit. Inhaltlich schaut Spahn dabei auf drei Themen: Migration, Wirtschaft und Finanzen. Allerdings wird er auch hier direkter als Merz. Ein Beispiel: „Die illegale Migration der letzten Jahre gefährdet die politische Stabilität Deutschlands und Europas.“ Zurückweisungen an den Grenzen seien deshalb nur der Startpunkt für noch mehr. Zur Lage der Wirtschaft sagt Spahn, die Deutschen seien ärmer geworden. Deshalb setze die neue Koalition auf Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit statt auf „grünem Staatsdirigismus“. Wirklich konkret aber wird Spahn noch nicht. Das überlässt er dem Kanzler. Sara Sievert

Alexander Hoffmann (CSU): Schärfen nur gegen Linke und Rechte. Der neue CSU-Landesgruppenchef gedenkt zu Beginn der in der vergangenen Woche verstorbenen Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer. Etwas überraschend folgt darauf keine Attacke gegen die AfD, sondern gegen die Linke. „Sie sind antibürgerlich, Sie sind antikapitalistisch und ja, Sie sind auch antisemitisch und damit beschämend für dieses Haus“, schimpft Hoffmann. Er stellte klar, dass es mit der Linken „nie eine Zusammenarbeit inhaltlicher Art geben“ werde. Ihm ist offenbar ganz gleich, dass ebendiese Linke der Union eine Woche zuvor noch geholfen hatte, Friedrich Merz zum Kanzler zu wählen. Die AfD adressiert er nur kurz, vor allem wegen ihres Vorwurfs, Merz sei ein Kriegstreiber: „Heute müssen Sie beschämt zur Kenntnis nehmen, dass er der größte Friedenstreiber in Europa ist.“

Ansonsten gibt sich Hoffmann staatstragend. Überraschend ist, was er alles auslässt. Außer ein paar wenigen Sätzen zur Verschärfung der Migrationspolitik lässt er die CSU-Lieblingsthemen von Mütterrente über Heimat bis Raumfahrt aus, verzichtet auf scharfe Attacken gegen die Vorgänger-Regierung und zeigt sich demütig angesichts der Herausforderungen, vor denen die neue Koalition steht. „Aus Enttäuschung über Politik müssen wir Vertrauen in die Politik machen“, lautet seine Botschaft. Maximilian Stascheit

Alice Weidel und Tino Chrupalla: Sie wütet, er glättet. 17 Minuten lang fährt Alice Weidel Frontalangriffe gegen Friedrich Merz, gegen die CDU, die Linke und die Behörden. Dem Kanzler wirft sie „Schwäche und Instabilität“ vor, steigert dann ihre aggressive Tonlage und endet bei schneidender Abscheu. Statt ihren Ton zu mäßigen, was manche Parteijuristen der AfD mit Blick auf das anstehende Verfahren gegen den Verfassungsschutz geraten haben, eskaliert Weidel noch, spricht mit Blick auf Geflüchtete vom „Morden, Messern und Vergewaltigern.“ Den Linken unterstellt sie, Reiche „erschießen oder in Arbeitslager stecken“ zu wollen. Der neuen Regierung attestiert sie eine „martialische Rhetorik“, während sie selbst mit Begriffen wie „Exzessen“, „ermächtigt“ oder „Kriegstreiberei“ hantiert.

Die größte Überraschung ist ihr Co-Chef. Nachdem er zuletzt immer wieder über Geopolitisches gesprochen hat, was ihm viel Kritik aus den eigenen Reihen einbrachte, besinnt sich Tino Chrupalla dieses Mal auf seine Wurzeln. Er spricht über wirtschaftliche Ungerechtigkeiten und Missstände in Ostdeutschland. Ganz ohne Verhaspler kommt er auch dieses Mal nicht aus, etwa wenn er erklärt, dass die neue Ostbeauftragte zu wenige Wähler hinter sich „verneigte“ – statt „vereine“. Und er spricht ein bisschen hölzern, als würde er alles ablesen. Aber neben Weidel wirken Chrupallas Worte geradezu konstruktiv. Auch Merz überzieht er nicht mit Schimpf-Tiraden, sondern betont, dass der Union alle Gesprächskanäle zur AfD offen stünden. Franziska Klemenz

Katharina Dröge: Offene Rechnungen und neue Anerkennung. Die Oppositionspolitikerin sagt alles, was man von einer grünen Fraktionschefin erwarten würde: Kritik an der unübersichtlichen Grenz- und Migrationspolitik, an der Abschaffung des EU-Lieferkettengesetzes, an den aus ihrer Sicht offenen Fragen zu Energie und Klimaschutz. Ausgerechnet in der Europapolitik habe der Kanzler „neues Chaos in diese Koalition gebracht“ und Polens Ministerpräsident Donald Tusk durch die Ankündigung von Zurückweisungen an der polnischen Grenze „maximal verärgert“. Zentrale Fragen zu Energie und Klima seien offen: die nach der Fortsetzung des Ausbaus der Erneuerbaren, nach der Höhe des CO2-Preises, nach dem Verbrenner-Aus.

Einen wesentlichen Teil der Rede bestreitet Dröge aber aus der Perspektive der ehemaligen Ampelpolitikerin, die mit Merz noch eine Rechnung offen hat. In den vergangenen drei Jahren habe Merz mit falschen Aussagen und mit seinem auf AfD-Stimmen setzenden Migrationsantrag „sehr viele Gelegenheiten genutzt, um zu polarisieren“. Sie erwarte, dass er „Kanzler aller Menschen in diesem Land“ werde und nicht fortsetze, was er in der Vergangenheit getan habe. So ganz passt das nicht zu dem Merz, der kurz zuvor in seiner Rede fast ganz ohne Polarisierung ausgekommen ist. Deshalb muss Dröge anerkennend hinzufügen, Merz habe wenigstens jetzt und hier einen anderen Ton gefunden. Sven Siebert

Sören Pellmann (Linke): Soziales Gewissen aus dem Osten. Der Ko-Fraktionschef erinnert daran, dass viele Menschen von Politikern vor allem eines erwarteten: dass sie sich „um reale Probleme“ kümmern. Die neue Koalition aber stehe eher für „soziale Kälte“ und gefährde die Gleichstellung von Frauen. Damit bleibt Pellmann erwartbar in der Rolle jener Opposition, die vor allem über soziale Probleme redet, statt sich andere Themen aufzwingen zu lassen. Er spricht über Armut und zu niedrige Renten. Und über zu hohe Mieten. Allerdings hat Merz ausgerechnet bei diesem Thema überrascht. Als der Kanzler darüber spricht, wenn auch ohne schnelle Lösungen anzubieten, sorgt er für staunende Gesichter in den Reihen der Linken.

Anders als die allermeisten spricht Pellmann auch über den Osten. Dass es im Koalitionsvertrag kein Kapitel zum Osten gebe, sei kein Versehen, sondern politisch gewollt; der Direktwahlkreisgewinner aus Leipzig fordert einen Transformationsfonds Ost. Denn: „Wer Ostdeutschland übergeht, riskiert den sozialen Zusammenhalt in ganz Deutschland.“ Bei der Außenpolitik bleibt er der Linie der Linken treu, fordert eine „Friedens- statt einer Kriegspolitik“, ist sich aber nicht zu schade, Merz für seinen Vorstoß zur Waffenruhe zu loben. Leonard Schulz

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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