Analyse
Erscheinungsdatum: 13. Juni 2023

DFB-Präsident Bernd Neuendorf: „Wir brauchen mehr politisches Engagement"

Bernd NEUENDORF GER, DFB Praesident DFB Pokal Finale der Frauen 2023, VfL Wolfsburg WOB - SC Freiburg FR, am 18.05.2023 in Koeln / Deutschland. DFB regulations prohibit any use of photographs as image sequences and/or quasi-video  *** Bernd NEUENDORF GER, DFB Praesident DFB Pokal Finale der Frauen 2023, VfL Wolfsburg WOB SC Freiburg FR , am 18 05 2023 in Koeln Germany DFB regulations prohibit any use of photographs as image sequences and or quasi video Â
Bernd Neuendorf, 61, seit gut einem Jahr DFB-Präsident, hat den aufgewühlten Verband wieder in ruhigeres Fahrwasser geführt. Aber die Herausforderungen sind groß: Auf den Fußballplätzen des Landes geht es so ruppig zu wie nie, Bund und Länder stehen dem DFB bei der Männer-Europameisterschaft im kommenden Jahr aus Verbandssicht nur unzureichend zur Seite, und ob die Frauen-Weltmeisterschaft demnächst im Fernsehen zu sehen ist, bleibt ungewiss.

Herr Neuendorf, wir müssen über Gewalt im Fußball reden. Soeben ist in Frankfurt ein 15jähriger Jugendspieler tödlich verletzt worden. Man hat den Eindruck, die Gewalt nimmt ständig zu. Auf und neben dem Platz. Was tut der DFB dagegen?

Der Fall in Frankfurt hat mich zutiefst bestürzt und ist absolut tragisch. Wir haben beim Pokalfinale in Berlin und bei vielen anderen Gelegenheiten auf dieses unfassbare Ereignis aufmerksam gemacht und zu Gewaltfreiheit aufgerufen. Und es ist in der Tat so, dass es zuletzt zu zahlreichen Gewalttätigkeiten und Ausschreitungen auf unseren Fußballplätzen gekommen ist. Es geht um physische Gewalt, aber auch um Beleidigungen oder Rassismus. Das können wir nicht tolerieren.

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Das Problem ist vielschichtig. Aber wir alle haben doch das Gefühl, dass es in der Gesellschaft insgesamt ruppiger und aggressiver zugeht. Der Fußball ist Teil der Gesellschaft und man kann ihn nicht isoliert betrachten. Das ist keinesfalls als Ausrede gemeint. Wir legen auch nicht die Hände in den Schoß. Wir haben Projekte aufgelegt, Initiativen gestartet, vergeben Auszeichnungen für vorbildliches Verhalten und Zivilcourage. Und wir arbeiten, gerade was Gewalt auf dem Platz und Spielabbrüche angeht, auch mit der Wissenschaft zusammen.

Wieviele Spiele wurden in der abgelaufenen Saison abgebrochen?

In der Saison 2021/22 so viele wie noch nie, gemeldet wurden uns 911 Spielabbrüche. Das sind zwar nur 0,075 Prozent aller Matches, aber es ist ein Höchststand. Das ist leider Teil der Wahrheit. Aber wir machen das sehr bewusst sichtbar. Denn über Gewalt und Übergriffe auf unseren Fußballplätzen muss ein Diskurs geführt werden.

Die Tendenz ist steigend?

Die Zahlen waren jahrelang stabil. Jetzt verzeichnen wir aber einen Anstieg. Klar ist: Jeder Fall ist einer zu viel. Aber ich will nochmals die Relation andeuten: In der Saison 21/22 wurden 1,45 Millionen Fußballspiele in Deutschland ausgetragen. Dazu haben die Schiedsrichter 1,22 Millionen Online-Spielberichte erstellt. Insofern haben wir ein ganz gutes Lagebild. Erfasst wurden 5.582 Vorfälle, davon 3.544 Gewalthandlungen und 2.389 Diskriminierungen.

Reden wir dabei von Spielern oder Zuschauern?

Beides. Es gab 3.700 beschuldigte und 3.152 geschädigte Spieler und Spielerinnen. Unter den Zuschauern waren es 1.884 Beschuldigte und 421 Geschädigte. Und bei den Schiedsrichtern und Schiedsrichterinnen hatten wir 78 beschuldigte Personen und 2.399 geschädigte. Geschädigt heißt immer, es hat Gewalt oder Diskriminierung stattgefunden.

Das sind pro Wochenende weit über 100 Vorfälle. Ein bisschen viel, oder?

Wie gesagt: Jeder einzelne Vorfall stellt ein Problem dar. Für einzelne Personen, für den Verein, aber auch für den Fußball insgesamt. Deshalb gibt es in allen Landesverbänden inzwischen Anlaufstellen für Opfer von Gewalt und Diskriminierung. Auch diese sollen dazu beitragen, dass wir auf und neben dem Platz zu einem respektvolleren Miteinander kommen.

Haben Sie ausreichend Unterstützung der Politik?

Es gibt eine Reihe von Projekten, auch gemeinsam mit dem Bundesinnenministerium. Etwa das Projekt „Fußball vereint gegen Rassismus“. Aber bei diesem Thema ist klar: Auch die Vereine, jeder Einzelne ist beim Thema Gewalt gefordert.

Was ist mit den Fans, die ja immer wieder beteiligt sind an Gewaltaktionen? Schalke-Fans wurden überfallen, Fans von Dynamo Dresden haben einen ganzen Zug zerlegt. Die Grenzüberschreitung ist an Bundesligawochenenden Alltag. Wo ist da die Verantwortung des DFB?

Wer den Fußball zum Ausleben eigener Gewaltfantasien nutzt, schadet dem Verein, den er vorgibt zu unterstützen. Davon distanzieren wir uns entschieden. Als DFB legen wir einen besonderen Schwerpunkt auf das Thema Prävention: Wir fördern sozialpädagogische Fanprojekte, stärken den Dialog zwischen Klubs und Fans und haben zuletzt die Einführung von Fanbeauftragten in der 3. Liga verpflichtend gemacht. Auch bei den Vereinen selbst passiert viel. Aber wir werden trotz aller Vorsichtsmaßnahmen Ausschreitungen nie ganz verhindern können. Und was die Gewalt außerhalb der Stadien angeht: Hier liegt die Zuständigkeit bei den staatlichen Strafverfolgungsorganen.

Muss man den Fair-Play-Gedanken nicht auf und neben dem Platz revitalisieren?

Ja, und da lässt sich niedrigschwellig durchaus etwas machen. Zum Beispiel, wie man mit dem Schiedsrichter umgeht. Wenn er aus dem Auto steigt, sollte es selbstverständlich sein, dass er von der Heimmannschaft freundlich empfangen wird. Dass er eine ordentliche Kabine hat, in der eine Flasche Wasser steht. Dass er kurz mit den Spielführern sprechen kann, dass man sich vor dem Spiel die Hand reicht oder sich abklatscht. Ich glaube fest daran, dass die Hemmschwellen zur Ausübung von Gewalt nach strittigen Szenen deutlich höher sind, wenn man sich vor dem Spiel in die Augen schaut. Manchmal sind es ganz einfache Dinge, die aber eine bestimmte Atmosphäre schaffen und allen klarmachen: Wir sind alle Fußballer, wir lieben das Spiel.

Sind die Ultras wichtig für die Fankultur?

Jede Fangruppe ist wichtig. Wir alle mögen die Stimmung im Stadion. Die Ultras und andere Fangruppierungen sorgen für Choreographien, Kreativität, tolle Gesänge, überhaupt für Atmosphäre. Auch deswegen kommen doch Zuschauer, um genau das zu erleben. Und deshalb sind auch die Ultras wichtig für das Gesamterlebnis Fußball.

Es sind die Ultras, die gerne auffallen mit Sachbeschädigung, Gewalt und anderen Übergriffen.

Ultras predigen nicht per se Gewalt. Sie wollen maximal unterstützen. Wenn es zu Auswüchsen kommt, muss man das allerdings klar benennen. Und ja, unsere Erwartung ist dann schon, dass man sich dann auch als Gruppe davon deutlich distanziert.

Sind Bengalos eine Grenzüberschreitung?

Das unkontrollierte Abbrennen von bengalischen Feuern in Zuschauerblöcken ist aufgrund der vielfältigen Gefahren verboten – und zwar per Gesetz. Auch deshalb muss der DFB hier handeln. Da sind die Regeln ganz klar.

Aber durchgesetzt wird das Verbot nicht.

Bei Verstößen werden die entsprechenden Vereine sanktioniert. Wenn Fans oder Ordnungspersonal durch Pyro verletzt werden, handelt es sich um eine Straftat. So ist die Rechtslage. Aber ich räume ein: Die Durchsetzung des Verbots ist für die Vereine schwierig. Wir können nicht bei 60.000 Zuschauern an den Stadioneingängen Kontrollen vornehmen wie an Flughäfen.

Man hört aber wenig dazu vom DFB.

Das Verhältnis zwischen DFB und den Fans ist nicht unbelastet. Ich gebe mir seit meiner Wahl im vergangenen Jahr aber alle Mühe, mit den Fans ins Gespräch zu kommen. Am Rande von Spielen oder auch im Rahmen der von uns neu geschaffenen Kommission „Fans und Fankulturen“. Es geht um gute Kommunikation, es geht darum zuzuhören und Vorurteile abzubauen, Lösungen zu finden.

Mit welchem Erfolg?

Ich stand als 15jähriger schon bei Alemannia Aachen im Fanblock. Ich kann nicht verstehen, dass ich über 40 Jahre lang Alemannia-Fan bin, dann plötzlich DFB-Präsident werde und es dann heißt: Der ist ein Funktionär, der weiß doch gar nicht, wie Fans ticken oder wie es im Stadion zugeht. Ich glaube, dass ein regelmäßiger und guter Austausch letztlich auch zu weniger Vorurteilen und Grenzüberschreitungen führt.

Im Juli beginnt die Frauen-Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland. Bisher haben sich Fifa und die deutschen TV-Sender nicht auf eine Übertragung einigen können. Unsere Mannschaft ist qualifiziert. Findet die WM statt – und wir können sie nicht verfolgen?

Das ist für mich kaum vorstellbar. Schon bei der letzten EM haben wir gesehen, welche Entwicklung der Frauen-Fußball genommen hat. Die Vereine haben enormen Zulauf, in der Frauen-Bundesliga sind die Zuschauerzahlen deutlich gestiegen, Sponsoren interessieren sich und sind bereit einzusteigen. Es wäre ein herber Nackenschlag, wenn es nicht gelingt, die WM zu übertragen.

Die Verhandlungen ziehen sich hin, kann der DFB vermitteln?

Letztlich müssen die FIFA und die Fernsehanstalten eine Lösung finden. Ich empfinde als DFB-Präsident und als Mitglied des FIFA-Councils aber natürlich eine Verantwortung, auf eine Lösung hinzuwirken. Sie können davon ausgehen, dass ich mit den an den Verhandlungen Beteiligten im Gespräch bin und versuche, einen Blackout zu verhindern.

Bis wann muss eine Einigung da sein, damit es noch klappt?

Angesichts des Austragungsortes der WM und der enormen Distanzen bräuchten die Sender jetzt eigentlich schnell Planungssicherheit. Die Technik, das Personal – es gibt viele ganz praktische Fragen, die einen gewissen Vorlauf benötigen. Jeder Tag zählt.

Sind die Summen, die genannt werden – zehn Millionen Euro will die FIFA, fünf Millionen wollen die deutschen Sender zahlen – völlig falsch?

Das möchte ich nicht kommentieren.

Es wären ja lächerlich geringe Beträge im Vergleich zu einer Männer-WM.

Wie gesagt, ich kann die Zahlen weder bestätigen noch dementieren. Aber ganz unabhängig davon sollte eine Verständigung möglich sein.

Glauben die Sender nicht an die deutsche Mannschaft – oder glauben sie nicht an den Frauen-Fußball?

Natürlich wird man sich dort Gedanken über ein „marktgerechtes“ Angebot gemacht haben. Aber es gibt sicher auch einen ideellen Wert. Man sollte sich auch die Frage stellen: Was bedeutet es, ein solches Turnier nicht zu zeigen? Das würde mit einem enormen Imageverlust für alle Beteiligten einhergehen. Und der Entwicklung des Frauenfußballs, seiner Sichtbarkeit, würde es ganz gewiss schaden.

Oder hat es mit den Übertragungszeiten zu tun, die ja nicht nachmittags oder abends sein werden?

Natürlich schauen die Sender auf die Einschaltquoten. Aber auch daran kann und sollte es nicht scheitern.

Im nächsten Jahr findet die Männer-EM in Deutschland statt. Sie haben von den politischen Instanzen in Bund und Ländern mehr Unterstützung angemahnt. Woran fehlt es?

Alle würden das Sommermärchen von 2006 gerne wiederholen – aber das kommt nicht von selbst. Und die Verbände können das auch nicht allein stemmen. Wir brauchen schon ein wenig mehr politisches Engagement, finanziell, aber auch Ideen und Kreativität sind gefragt, wie sich das Turnier insgesamt für unser Land nutzen lässt.

Wie meinen Sie das?

Es ist doch eine einmalige Chance, unsere vielfältige Kultur, Deutschland als guten Wirtschaftsstandort, als Ort mit guten Arbeitsbedingungen für Fachkräfte, überhaupt in jeder Hinsicht positiv zu präsentieren. Wir erwarten Millionen Menschen aus Europa und der ganzen Welt, Milliarden werden vor den Bildschirmen sitzen. Diese Chance sollten wir gemeinsam nutzen.

Stimmen denn die finanziellen Hilfen?

Auch das ist überschaubar. Wir bekommen über den Bund für Projekte rund um die EM 13,2 Millionen Euro. Damit kann man nicht so furchtbar viel machen. Zum Vergleich: Allein die Stadt Berlin als Austragungsort nimmt 60 Millionen Euro in die Hand, Düsseldorf 21 Millionen Euro. Da könnte ich mir von Bund und Ländern mehr vorstellen. Diese EM ist doch ein unglaublicher Hebel, eine unglaubliche Chance.…

Die EM soll möglichst klimaneutral stattfinden, zum ersten Mal. Das wird nicht ohne Kompensationszahlungen gehen. Wie ist der Stand der Verhandlungen?

Wir haben selbstbewusst gesagt, dass wir beim Thema Nachhaltigkeit beispielhaft vorangehen wollen. Das ist ein hoher Anspruch; aber Nachhaltigkeit bedeutet nicht zuallererst Kompensation, sondern zunächst einmal Vermeidung. Wie vermeiden wir Flüge, CO2-Emissionen, Müll? Da versuchen wir intelligente Lösungen zu finden. Das hat absolute Priorität. Und ja, am Ende wird es auch zusätzliche Emissionen geben, und da schauen wir, inwieweit wir das kompensieren können. Darüber gibt es gerade Gespräche zwischen DFB, Uefa und Bundesregierung.

Eine Studie aus dem vergangenen Jahr spricht von einer Summe zwischen 12 und 48 Millionen Euro an Kompensationen. Wer kommt dafür auf?

Das ist Gegenstand der Gespräche. Klar ist aber auch: Es gibt – sei es im Bereich des Sports oder der Kultur – viele Großveranstaltungen in Deutschland. Es gab aber bisher noch nie die Erwartung, dass Veranstalter die anfallenden Emissionen vollumfänglich kompensieren. Ich bin zuversichtlich, dass man sich am Ende verständigen wird. Die Uefa ist sich ihrer hohen Verantwortung jedenfalls durchaus bewusst.

Der DFB hat selbst das Ziel Klimaneutralität ausgegeben. Zudem verdienen Uefa und DFB mit der Europameisterschaft viel mehr Geld als jede Kulturveranstaltung.

Wir haben gesagt, dass wir ein ehrgeiziges Nachhaltigkeitskonzept erstellen. Und genau das tun wir gemeinsam mit der Uefa. Und was das Geld betrifft: DFB und auch die Uefa haben einen Auftrag. Wir fördern den Fußball. Aufgabe der Uefa ist es zum Beispiel, in jedem der 55 Mitgliedsverbände dafür zu sorgen, dass der Fußball eine gute Entwicklung nimmt. Also in Albanien ebenso wie in Lettland oder Nordirland. Das kostet Geld, welches unter anderem über solche Turniere eingenommen wird.

Das hat wenig mit Deutschland zu tun.

Noch einmal: Ausrichter des Turniers ist die Uefa. Wir haben in Deutschland eine vergleichsweise gute Infrastruktur, intakte Stadien, einen neuen DFB-Campus, unglaublich viele Fußballplätze auch im unterklassigen Bereich. Aber wie sieht es in anderen europäischen Ländern aus? Es gibt nun mal Länder, wo die Voraussetzungen weniger gut sind. Und da wird seitens des europäischen Fußballverbandes auch entsprechend unterstützt.

Man hat den Eindruck, dass der DFB in der Frage der Kompensation eher die Interessen der Uefa als der Bundesregierung vertritt?

Ich kann die Argumente der Uefa nachvollziehen. Wir arbeiten maximal an der Vermeidung. Wir sträuben uns auch nicht gegen irgendeine Art von Kompensation, aber es darf die Verbände nicht überfordern. Es geht auch bei uns dann um Mittel, die wir dem gemeinnützigen Sport entziehen würden.

Der Anspruch der Klimaneutralität kam nicht von politischer Seite…

Unser Turnierdirektor Philipp Lahm hat klargemacht, dass die Fußball-EM 2024 die nachhaltigste EURO der Geschichte werden soll. Diesem Anspruch wollen wir in der Tat gerecht werden. Und wir haben konkrete Dinge, die wir umsetzen werden: Wir haben zum Beispiel von Anfang an überlegt, wie wir die Spielorte bei den Gruppenspielen clustern können, um die Wege von Teams und Fans zu minimieren. Damit sich die Fans nicht von Hamburg nach München, sondern eher von Dortmund nach Köln bewegen müssen.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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