Es kommt nicht oft vor, dass ein kurzer Briefwechsel das politische Berlin in Wallung versetzt. Das Schreiben des Bundeswirtschaftsministers an den Finanzminister und die Replik von Christian Lindner hatten an diesem Donnerstag das Zeug dazu. Warum es jetzt und in dieser Schärfe zu dem ungewöhnlichen öffentlichen Austausch kam, ist unklar. Klar aber ist, dass die Spannungen nach der Wahl in Berlin noch einmal stark zugenommen haben. Nicht nur, aber auch angestoßen vom FDP-Politiker Wolfgang Kubicki, der den Wirtschaftsminister Robert Habeck noch am Wahlabend harsch angegangen war. Und der, so viel ist erkennbar, hat nun in Briefform seinerseits schweres Geschütz aufgefahren.
Mit Datum vom Dienstag und der förmlichen Anrede „Sehr geehrter Herr Kollege“ erinnerte Habeck Lindner daran, dass zwar die Schuldenbremse im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, aber „ebenfalls andere politische Projekte, die keinesfalls nachrangig zur Einhaltung der Schuldenbremse stehen “. Und schickte ihm den Hinweis: „Wir bitten Sie, keine weiteren öffentlichen oder internen Vorfestlegungen zu treffen, die einseitig weitere Ausgaben priorisieren (u.a. Aktienrente, Umsatzsteuerermäßigung für die Gastronomie, Bundeswehr).“
Für Christian Lindner war das eine Provokation, wenn auch eine, die er schnell für sich nutzte. Am Tag darauf antwortete er spöttisch, er habe mit „Erleichterung“ aufgenommen, "dass die von den Grünen geführten Ministerien das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland nicht in Frage stellen". Die dort verankerte Schuldenbremse sei allerdings „ökonomisch weise“. Von „Einnahmeverbesserungen“, die Habeck in seinem Schreiben vorgeschlagen hatte, halte er nichts: „Diese Anregung möchte ich nicht aufgreifen.“ Steuererhöhungen oder Mehrbelastungen seien im Koalitionsvertrag ausdrücklich ausgeschlossen. Für den Finanzminister ist es wichtiger, wie er schreibt, Ausgaben auf den Prüfstand zu stellen, Projekte neu zu priorisieren und „Ideen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands“ zu entwickeln.
Der ungewöhnliche Briefwechsel legt drei Punkte offen. Erstens ist die Ampel-Regierung in der Wirklichkeit angekommen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren können die Ressorts nicht mehr aus dem Vollen schöpfen, sondern müssen sparen. Zum Teil wohl auch schmerzhaft. Noch ist offen, ob auch Herzensprojekte dem Streichdiktat zum Opfer fallen werden.
Zum zweiten nähert sich die Koalition nun mit Höchstgeschwindigkeit der drängenden Frage, mit welchen Instrumenten sie die anstehenden Herausforderungen in den nächsten Jahren bewältigen will: Mit eisenhartem Sparen, unterstützt durch Subventionsabbau? Oder durch zusätzliche Kredite, womöglich unterfüttert durch zusätzliche Einnahmen, sprich Steuererhöhungen?
Der dritte und vielleicht wichtigste Punkt: Die Stimmung innerhalb der Ampel hat einen vorläufigen Tiefpunkt erreicht. „Solche Briefe schreibt man, wenn man sie öffentlich machen will“, sagt ein erfahrener Sozialdemokrat. Er sieht die Balance in Gefahr. „Das ist sehr grundsätzlich und keine Kleinigkeit.“ Offensichtlich – und das mit Unterstützung oder auch auf Drängen der übrigen grün geführten Häuser – wollte der Ökologe Habeck dem Liberalen Lindner die grünen Schmerzgrenzen deutlich machen.
Denn dass Geld fehlt, ist offensichtlich: Allein durch gestiegene Kosten für Sozialausgaben, Personal und Zinsen entsteht im Haushalt 2024 schon eine Lücke von 12 Milliarden Euro, wie Finanzstaatssekretär Werner Gatzer bereits Mitte Januar gewarnt hatte. Und dabei sind diverse neue Projekte der Regierung noch gar nicht abgebildet. Auf 70 Milliarden Euro beziffert gar das Handelsblatt den Fehlbetrag für 2024.
Aus Sicht der Grünen gehört zu den Herzensprojekten die Kindergrundsicherung, für die Familienministerin Lisa Paus einen Bedarf von elf Milliarden Euro angemeldet hat. Ebenso sind die Mittel für zivile Konfliktbewältigung, die ursprünglich mal im gleichen Umfang wie die Verteidigungsausgaben steigen sollten, noch nicht eingeplant. Auch für die Finanzierung wichtiger Projekte der Energiewende fehlen absehbar die Mittel.
Empört hat die Grünen, dass der Finanzminister bei ihren Projekten zwar mauert, sich bei Vorhaben, die der FDP oder der SPD am Herzen liegen, dagegen generös zeigt: Für die „Aktienrente“ habe er bereits zehn Milliarden Euro an Haushaltsmitteln angekündigt und der Forschungsministerin auf dem FDP-Parteitag mal eben eine zusätzliche „Bildungsmilliarde“ zugesagt, während der Prüfauftrag für den Abbau umweltschädlicher Subventionen im Finanzministerium unbearbeitet auf Halde liege.
Empörung gibt es allerdings auch beim Koalitionspartner. Aus Sicht der FDP ist der Brief das Unterlaufen getroffener Vereinbarungen, das gelte insbesondere für das gemeinsam beschlossene Eckpunktepapier zum Haushalt 2024. Was den Liberalen auch aufstößt: der aus ihrer Sicht wiederholte Versuch der Grünen, mit eigenen Themen und Botschaften vorzupreschen, ohne sie vorzubesprechen. Ein besonderer Aufreger ist auch hier die im Familienministerium geplante Kindergrundsicherung.
Die Liberalen haben das Etikett des Blockierers gründlich satt. Finanz- und Justizministerium müssten nun mal standardmäßig sämtliche Projekte prüfen, heißt es. „Die Grünen preschen vor und wollen dann eine Prüfung binnen 24 Stunden“, klagt ein FDP-Prominenter, „dabei besagt das Gesetz, dass der Justizminister vier Wochen Prüfzeit hat“. Zum Zorn der Liberalen tragen bisweilen auch die Sozialdemokraten bei. Etwa Neu-Verteidigungsminister Boris Pistorius mit seinem Wunsch nach zehn Milliarden Euro mehr für sein Ressort. Es kam bei den Freidemokraten wie eine Provokation an – immerhin verfüge das BMVg mit seinem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro erst einmal über genügend Geld.
Wenn zwei sich streiten, könnten sie manchmal einen Dritten gut gebrauchen. Doch die Rolle des Kanzlers und seiner SPD ist in dem jetzt aufgebrochenen Konflikt zwischen Habeck und Lindner durchaus zwiespältig. Und das verunsichert bis ärgert Grüne wie Liberale gleichermaßen. Aus Sicht der FDP bewegen sich die Sozialdemokraten in der Schuldenfrage eher an der Seite der Grünen. Zugleich verweisen prominente Liberale gerne darauf, dass es bei der Planungsbeschleunigung genau umgekehrt sei; hier sympathisiere die SPD mit den Freidemokraten. Gleichermaßen unzufrieden sind Grüne und Liberale über die Zurückhaltung des Kanzlers. In beiden Lagern gibt es offensichtlich eine Sehnsucht nach Führung. „Die Rolle des vermeintlich unschuldigen Schiedsrichters – das geht nicht“, heißt es jedenfalls aus der Grünen-Fraktion und ist von den Liberalen ganz ähnlich zu hören.
Und der Angesprochene selbst? Er hält sich bedeckt, wie meistens, wenn es nach Pulverdampf riecht. „Ein Schlichter ist nicht nötig“, sagt Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Im Übrigen sei er, des Kanzlers Sendbote, ein großer Freund davon, „wenn weniger Post verschickt und mehr miteinander geredet wird“.