Analyse
Erscheinungsdatum: 29. August 2023

Bürgergeld: Warum Sozialverbände die Berechnungsgrundlage kritisieren

ARCHIV - 28.06.2023, Berlin: Eine Frau tippt auf einem Tablet auf einen Link zum Beantragen des Bürgergeldes im Kundenbereich im Jobcenter Berlin Mitte. Bezieherinnen und Bezieher von Bürgergeld sollen im kommenden Jahr höhere Leistungen erhalten. Foto: Carsten Koall/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Das Bundesarbeitsministerium hat bekannt gegeben, wie stark die Regelsätze für Empfängerinnen und Empfänger von Bürgergeld zum 1. Januar 2024 steigen sollen. Neben positiven Reaktionen gibt es auch Kritik – nicht nur an der Höhe, sondern auch an der Methode dahinter.

„Methodisch problematisch“, „statistische Manipulationen“, „willkürliche Kleinrechnerei“: Die Kritik an den von Hubertus Heil am Dienstag bekannt gegebenen neuen Regelsätzen beim Bürgergeld geht ins Detail, auch wenn es grundsätzlich Lob für die Steigerung gibt. Es sei zwar gut, dass die Preisentwicklung nun schneller in die Fortschreibung der Grundsicherungs-Regelbedarfe eingeht, sagt etwa Florian Blank von der Hans-Böckler-Stiftung. Politisch müsse aber diskutiert und entschieden werden, „ob die Grundsicherungssysteme nicht generell ein Leben oberhalb der Armutsschwelle ermöglichen sollen“. Die Bestimmung der Regelbedarfe bleibe zudem problematisch.

Sozialverbände bemängeln schon lange, wie die Höhe berechnet wird. Die Forschungsstelle des Paritätischen Wohlfahrtsverbands beispielsweise veröffentlicht jedes Jahr eine eigene Berechnung. Für 2024 kommt sie statt den vom Arbeitsministerium für Alleinstehende künftig vorgesehenen 563 Euro auf 813 Euro. Um die Methode nachvollziehen zu können, ist zunächst wichtig, zu wissen, wie der Regelsatz zustande kommt.

Er wird jedes Jahr zum 1. Januar an die allgemeine Lohn- und Inflationsentwicklung angepasst. Grundlage ist ein „Mischindex“: Die Entwicklung der Preise für bestimmte Güter und Dienstleistungen geht zu 70 Prozent und die der durchschnittlichen Nettolöhne und -gehälter zu 30 Prozent ein. Weil diese sogenannte Fortschreibung aber nur die Zeit zwischen Juli des Vorvorjahres und Juni des Vorjahres berücksichtigt, wird sie inzwischen um einen zweiten Schritt ergänzt, der die Inflation zeitnäher abbildet.

Daher rührt auch die vergleichsweise starke Erhöhung von derzeit 502 auf 563 Euro zum neuen Jahr. Mit der Einführung des Bürgergelds Anfang 2023 war der Betrag zwar auch um vergleichsweise hohe 53 Euro gestiegen, im Jahr davor aber nur um 3 Euro. Mehr Geld bekommen auch die sich auf fünf weitere Regelbedarfsstufen aufteilenden Personen: Wer mit Partner oder Partnerin zusammenlebt, erhält 506 Euro (+ 55 Euro), Jugendliche zwischen 15 und 17 471 Euro (+ 51 Euro). Kinder zwischen 14 und 17 sollen 390 Euro bekommen (+ 42 Euro) und Unter-Sieben-Jährige 357 Euro (+ 39 Euro).

Alle fünf Jahre wird der Regelsatz auf Basis der vom Statistischen Bundesamt durchgeführten Einkommens- und Verbraucherstichprobe (EVS) zudem neu berechnet. Derzeit findet eine EVS statt, eine Neuermittlung auf dieser Basis kann aber frühestens 2025 erfolgen, weil die Erhebung vorher noch ausgewertet werden muss. Diese zeichnet den offiziellen Angaben zufolge „ein repräsentatives Bild der Lebens­situation nahezu der Gesamt­bevölkerung in Deutschland“. Dafür werden „Referenzhaushalte“ befragt, manche ihrer Ausgaben aber als „nicht regelbedarfsrelevant“ bewertet und dadurch nicht oder in geringerem Maße berücksichtigt. Das gilt etwa für ein Auto, Alkohol, Haustiere sowie Besuche in Cafés und Restaurants. Für ein Fahrzeug, das für die Arbeit genutzt wird, gibt es aber eine Kilometerpauschale. Für Schulkinder gibt es zudem die sogenannten Bedarfe für Bildung und Teilhabe, etwa für Schulbedarf und Freizeitangebote.

Laut Sozialgesetzbuch sind Posten für den Regelbedarf relevant, „soweit sie zur Sicherung des Existenzminimums notwendig sind und eine einfache Lebensweise ermöglichen“. Als Orientierung dienen dabei einkommensschwache Haushalte, die ihren Lebensunterhalt nicht ausschließlich aus Sozialleistungen bestreiten, so die offizielle Vorgabe. Bei Alleinstehenden und bei Familien mit Kindern werden die 15 beziehungsweise 20 Prozent der Haushalte mit dem niedrigsten Einkommen als Vergleich herangezogen.

Andreas Aust, sozialpolitischer Referent bei der Forschungsstelle des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, stellt infrage, dass man davon ausgehend darauf schließen kann, was ein Mensch braucht : „Das wird immer unterstellt, wurde aber nie wirklich kontrolliert.“ Er verweist etwa auf das Problem, dass verdeckt Arme nicht herausgerechnet werden: Haushalte, die Anspruch auf Sozialleistungen hätten, sie aber nicht beantragen – was zu einer Verzerrung der Statistik führt.

Der Verband macht keine Unterscheidung danach, was „regelbedarfsrelevant“ ist und was nicht – und kommt so auf die 813 Euro. Für das laufende Jahr kam er auf 725 statt 502 Euro Regelsatz. Wie die Forschungsstelle dabei vorgegangen ist, ist in einem entsprechenden Papier nachzulesen. Auf Nachfrage von Table.Media sagte Hubertus Heil am Dienstag, die derzeitige Berechnungsgrundlage erfülle die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, auch wenn es wahrscheinlich immer Diskussionen über die Methode geben werde. Laut BMAS bleiben die Regelsätze „weiter eine existenzsichernde Maßnahme“. Eine Änderung der Vorgehensweise und eine „weitreichende“ Erhöhung der Regelbedarfe lassen sich „objektiv und verfassungsrechtlich“ nicht begründen, so das Ministerium.

Heil verwies darauf, dass die erhöhten Regelsätze auch in die Berechnung der Kindergrundsicherung eingehen, die 2025 starten soll. Eine tatsächliche Neuberechnung des soziokulturellen Existenzminimums, wie von Lisa Paus angekündigt, gebe es aber nicht, sagt Aust vom Paritätischen. Verändert würde nur die Aufteilung einzelner Posten bei den Ausgaben eines Haushalts mit Blick auf die Frage, was davon den Eltern und was dem Kind zugerechnet wird. Eine wichtige Grundlage ist der sogenannte Existenzminimumbericht. Aust schlägt vor, den Anteil der Haushalte mit Kindern bei der EVS auszuweiten, zum Beispiel von 20 auf 30 Prozent; das würde demnach helfen, die Leistungshöhe wie ursprünglich von Paus beabsichtigt am Leben der „gesellschaftlichen Mitte“ auszurichten. Eine solche Veränderung hatte auch Heil im Zuge der Diskussion um die Bürgergeld-Reform 2022 vorgeschlagen, aber nicht umgesetzt.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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