Analyse
Erscheinungsdatum: 14. Mai 2023

Bremer wählen anders

14.05.2023, Bremen: Andreas Bovenschulte, Spitzenkandidat der SPD in Bremen, gibt im Wahllokal seine Stimme ab. Im Bundesland Bremen finden die 21. Wahl zur Bremischen Bürgerschaft sowie Kommunalwahlen in Bremen und Bremerhaven statt. Foto: Sina Schuldt/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
An diesem Sonntag war Wahltag in Bremen. Das Bremer Wahlsystem bietet – nicht erst seit seiner Reform – einige Besonderheiten. Bremer wählen mit dicken Wahlheften, können fünf Stimmen abgeben und wählen am selben Tag auf Bezirks-, Kommunal- und Landesebene. Nicht wählbar war in diesem Jahr die AfD, doch ihre Wähler hatten eine Alternative.

Sie haben gekämpft – aber am Ende haben die Bremer Grünen deutliche Verluste nicht verhindern können. Eine nicht unbedingt populäre Spitzenkandidatin, dazu wenig bis gar kein Rückenwind aus Berlin: Am Ende steht ein Ergebnis, das erheblich von den grünen Umfrageergebnissen der jüngeren Vergangenheit entfernt ist. Der Wahlsieger ist unstrittig, es ist der alte Bürgermeister Andreas Bovenschulte. Und auffällig ist noch eines: Die rechtsnationalen „Bürger in Wut“ haben ein zweistelliges Ergebnis eingefahren.

Mehr Details waren am Abend nicht absehbar. Denn die Bremer wählen persönlicher – und das hat mit einem besonderen Wahlsystem zu tun. Seit 2011 bekommen Bremerinnen und Bremer vor der Bürgerschaftswahl ein dickes Wahlheft zugeschickt und können dort vorab die kompletten Kandidatenlisten einsehen – und einzelne Kandidaten oder eine gesamte Parteiliste wählen. Die Wählerinnen und Wähler können fünf Stimmen bündeln (kumulieren) oder verteilen (panaschieren). So kann der Lieblingskandidat mit fünf Stimmen gezielt unterstützt werden und möglicherweise trotz schlechtem Listenplatz in die Bürgerschaft einziehen.

Die Wahlrechtsreform von 2011 habe den Willen der Wählerinnen und Wähler zulasten der Parteien gestärkt, sagt Lisa Peyer, Demokratie-Referentin der Landeszentrale für politische Bildung Bremen. Doch das neue Wahlsystem bietet auch Herausforderungen. Die Komplexität der Wahlentscheidung mit fünf Stimmen könne überfordernd wirken, besonders für unentschlossene Wähler. Zudem bedeutet das neue System einen personellen und finanziellen Mehraufwand – unter anderem, weil umfangreiche Wahlhefte gedruckt werden und Wahlhelfer mehr Stimmen auswerten müssen.

Bremerinnen und Bremer haben seit der Reform schon mit 16 Jahren Wahlrecht. Bremen war das erste Bundesland, das das Wahlalter auf Landesebene abgesenkt hat. Deutschlandweit wird auf Landesebene nur in Hamburg mit einem ähnlichen System gewählt. Da die Hansestadt Bremen aus zwei Städten besteht, werden zusätzlich zwei Kommunalparlamente gewählt. Bremer wählen ihre Stadtbürgerschaft gleichzeitig mit den Stimmen zur Landtagswahl, Bremerhavener bekommen für ihre Stadtverordnetenversammlung einen extra Stimmzettel. EU-Bürger mit Wohnsitz in der Hansestadt dürfen wie überall in Deutschland nur kommunal wählen. In der Stadt Bremen werden zudem Beiräte auf Bezirksebene gewählt – allerdings auf anderen Zetteln (Infografik). Mehr als zwei (dicke) Stimmzettel muss also niemand ausfüllen.

Im Jahr 2006 hatte die Bremische Bürgerschaft die Verhältniswahl mit offenen Listen beschlossen. Vorausgegangen war ein Volksbegehren der Bürgerinitiative „Mehr Demokratie“, das 71.365 Stimmen zusammen brachte. Wegen des Bürgerschaftsbeschlusses war kein Volksentscheid mehr nötig. „Unsere Analyse war damals, dass man die Wähler unterschätzt und unterfordert, wenn man ihnen nur die Möglichkeit gibt, ein Kreuzchen bei einer Partei zu machen“, sagt Wilko Zicht. Der Bremer ist Mitglied bei Mehr Demokratie und war damals Vertrauensperson des Volksbegehrens. Ziel war es, die Wählerinnen und Wähler auch bei der personellen Zusammensetzung des Parlaments mitreden zu lassen.

Seit der letzten Bürgerschaftswahl im Jahr 2019 gibt es eine signifikante Änderung des Wahlverfahrens: Die Sitze werden zunächst nach der Personen-, dann nach der Listenwahl vergeben. Generell gilt: Aus dem Verhältnis von Listenstimmen und Personenstimmen einer Partei wird ermittelt, wie viele Sitze entsprechend der Listenreihenfolge und wie viele Sitze entsprechend der Stimmenzahl der Kandidaten verteilt werden. Die Priorisierung der Personenstimmen erschwert die Situation von Partei-Underdogs, weil sie nun deutlich mehr Stimmen brauchen, um mit den vielen Stimmen von Partei-Promis konkurrieren zu können, die vorne auf den Listen stehen. Früher war das einfacher, weil die Promis durch die Listenwahl bereits gewählt waren.

Nicht zur Wahl stand diesmal die AfD. Die zerstrittenen Rechtsnationalen hatten verschiedene Wahlvorschläge eingereicht. Der Landeswahlausschuss ließ die Partei daraufhin nicht zur Wahl zu. Davon haben mit einem voraussichtlich zweistelligen Ergebnis die „Bürger in Wut“ profitiert, die bisher mit nur zwei fraktionslosen Abgeordneten vertreten waren. Die Partei mit Beziehungen zu Rockern und Neonazis (taz berichtete) ist Nachfolger der sogenannten Schill-Partei.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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