Analyse
Erscheinungsdatum: 07. Mai 2023

Bremens Sozialsenatorin vor Treffen mit Scholz: „Wir brauchen das Geld“

Die Flüchtlingszahlen sind hoch und die Last der Länder und Gemeinden bei ihrer Aufnahme ist es auch. Deshalb werden die Rufe nach mehr Geld vom Bund lauter. Bremens Sozialsenatorin Anja Stahmann gehört zu den Dienstältesten in Deutschland. Im Interview bittet sie den Kanzler, nicht vor dem Treffen am Mittwoch schon Nein zu sagen: „Ich finde es falsch, mit roten Linien in Verhandlungen zu gehen.“

Wie viele Geflüchtete haben Sie zurzeit in Bremen untergebracht und wie ist die Situation vor Ort?

Bremen bringt derzeit rund 6.000 Menschen in kommunalen und Landeseinrichtungen unter. Auf 100 Bremerinnen und Bremer kommt damit ein Mensch in unseren Flüchtlingseinrichtungen.

Können Sie den Bedürfnissen der ankommenden Menschen gerecht werden?

Menschen sind ganz unterschiedlich, sie reagieren individuell auf Krisensituationen. Das ist bei Geflüchteten nicht anders. Es gibt Menschen, die sind dankbar, dass sie in Sicherheit sind, ein Dach über dem Kopf haben, medizinisch versorgt werden und etwas Geld für die persönlichen Bedarfe bekommen. Und es gibt Menschen, die kommen mit hohen Erwartungen in unser Land, die einfach unrealistisch sind. Dazwischen gibt es alles.

Vielleicht muss sich anders fragen: Werden Sie Ihren eigenen Ansprüchen bei der Unterbringung gerecht?

Nein, oder: Nur zum Teil. Ich bin im Jahr 2011 angetreten mit der Vorstellung, dass wir alle Gemeinschaftsunterkünfte – bis auf die Landeserstaufnahme, die müssen wir vorhalten –, dass wir alle Gemeinschaftsunterkünfte auflösen und Geflüchtete konsequent in Wohnungen aufnehmen, verstreut über die ganze Stadt. Das fördert die Integration. Damals, 2011, kamen 500 Menschen im ganzen Jahr. 2015 und 2016 hatten wir so viele manchmal an einem einzigen Wochenende – und im Frühjahr 2022 genauso. Da ist uns zeitweise nichts anderes übriggeblieben, als Menschen zu Hunderten in Großzelten oder in Turnhallen unterzubringen.

Ist die Notlage zum Normalzustand geworden?

Nein. Wir haben alle Notlösungen 2015/2016, und auch jetzt, so schnell wie möglich abgebaut. Wir haben viele Ressourcen in die Vermittlung in eigenen Wohnraum gesteckt. Wir haben immer einen guten Betreuungsschlüssel in den Einrichtungen gehabt. Es gibt spezielle Unterkünfte für Frauen und für traumatisierte Frauen, Angebote für Menschen aus der LSBTIQ-Community, ein Gewaltpräventionskonzept, psychologische Angebote und noch vieles mehr. Das alles gibt es nicht überall in Deutschland.

Was ist anders als 2016, als ähnlich viele Menschen nach Deutschland kamen?

2015/2016 standen wir in einer Situation, wie wir sie so noch nie erlebt hatten nach Kriegsende. Mit der Öffnung der Grenzen in Ungarn und Österreich, mit Merkels „Wir schaffen das“ haben wir in Bremen allein im Jahr 2015 über 10.000 Geflüchtete dauerhaft aufgenommen – und mindestens ebenso viele vorübergehend. Zusätzlich kamen 2.500 unbegleitete Minderjährige, mehr als in allen fünf Bundesländern im Osten zusammen. Wir haben aus dem Stand Organisationsstrukturen aufgebaut und mit irrsinnig viel Engagement und täglichen Krisensitzungen den Laden am Laufen gehalten. Damals konnte man sprichwörtlich nichts mehr bekommen: keine Wohncontainer, keine Betten, keine Matratzen, keine Zelte. Und gleichzeitig klingelte ständig das Telefon: „Könnt ihr wenigstens einen Zug mit Menschen aufnehmen?“

Und das ist heute wieder so?

Nein, das war im vergangenen Jahr anders. Außerdem hatten wir in unserer Institution noch das Wissen darum, wie man viele Menschen in kurzer Zeit aufnimmt. Das hat manches leichter gemacht. Ein ganz wichtiger Faktor war aber, dass sehr viele Ukrainerinnen mit ihren Kindern privat untergekommen sind. Das gab es so in 2015/2016 nicht.

Welche Erwartungen haben Sie an die Ministerpräsidentenkonferenz am 10. Mai?

Ich würde lügen, wenn ich nicht sagen würde: Wir brauchen das Geld, um die Versorgung der Menschen auf allen Ebenen sicherzustellen: Unterbringung und Verpflegung, Wohnungsbau, Krankenversorgung, Schule, Ausbildung, Sprachkurse – da werden gerade unglaubliche Ressourcen benötigt.

Das Kanzleramt hat bereits klar gemacht, dass es nicht mehr Geld geben soll. Was ist Ihre rote Linie in den Verhandlungen mit dem Bund?

Ich finde es falsch, mit roten Linien in Verhandlungen zu gehen – und schon gar nicht sollte man sie im Vorfeld in die Öffentlichkeit tragen. Wir wissen, dass der Bund auch vor immensen Herausforderungen steht. Geld wächst nicht an Bäumen. Das gilt für uns allerdings genauso. Wir müssen nicht nur Unterkünfte und Schulen neu bauen, wir brauchen auch Personal – im Sozialbereich, an Schulen, im Gesundheitswesen – und nicht zuletzt für Sprach- und Integrationskurse. Das alles gibt es nicht zum Nulltarif, und die Schuldenbremse legt uns enge Fesseln an. Da brauchen wir Auswege.

Hat sich im Verhältnis zwischen Bund und Ländern etwas geändert, seit in Berlin nicht mehr Angela Merkel mit einer Großen Koalition, sondern Olaf Scholz regiert?

Ganz gleich, ob eine Kanzlerin der CDU angehört und Angela Merkel heißt oder der Kanzler Olaf Scholz heißt und die SPD regiert: Es ist wichtig, dass die Bundesregierung den Ländern und Kommunen zuhört und die Probleme nicht ignoriert. Länder und Kommunen üben seit Jahren große Solidarität mit dem Bund, sie sind aber auch auf die Solidarität des Bundes angewiesen. Ich sage es mal diplomatisch: Derzeit gibt es einige Stimmen, die mehr Beachtung der Probleme vor Ort einfordern.

Wie beurteilen Sie den Zusammenhalt unter den Ländern? Mehr Konkurrenz? Oder mehr „Wir gegen Berlin“?

„Wir gegen ...“ gibt es nach meiner Wahrnehmung in den meisten Sachfragen derzeit nicht, vor allem nicht in der Flüchtlingspolitik. Die Bundesländer arbeiten im Bundesrat und auch in anderen Zusammenhängen, wie etwa den Ministerkonferenzen, durchweg sehr lösungsorientiert und im Respekt vor der manchmal abweichenden Haltung des anderen. Das mag auf der großen politischen Bühne manchmal anders erscheinen, aber unter den Ländern nehme ich eher den Willen wahr, gemeinsam etwas zu bewegen und Probleme zu lösen. In Bezug auf die Zuwanderung wollen die Länder auf vergleichbare Lebensbedingungen hinaus. Und wie immer nehmen die Stadtstaaten – letztlich ja stellvertretend für die großen Städte in der Bundesrepublik – immer wieder eine Sonderrolle ein. Wir haben zum Beispiel mit unseren engen räumlichen Ressourcen und den irrsinnig hohen Baupreisen, aber auch mit der Konzentration der Zuwanderung, oftmals mehr gemeinsame Interessen untereinander als mit den Flächenländern. In der Flüchtlingspolitik sehe ich aber eher die Einigkeit unter den Ländern im Vordergrund.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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