Vor der letzten Bundestagswahl sorgte Brand New Bundestag (BNB) für viel Aufsehen. „Wie kann man den Etablierten ihre Ämter abjagen?“, „Partei egal, Hauptsache, progressiv“, „Sie wollen den Bundestag umkrempeln“ lauteten Schlagzeilen. Die selbst ernannte Graswurzelorganisation wurde 2019 nach dem Vorbild der US-Initiative Brand New Congress unter anderem von dem Juristen Max Oehl gegründet.
Der 34-Jährige war zuvor treibende Kraft bei der Etablierung von Refugee Law Clinics in Deutschland, einer kostenlosen Rechtsberatung für Geflüchtete. „Unter zukunftsorientierten Leuten – egal, ob von Linkspartei oder Union – gibt es viel Übereinstimmung“, glaubt Oehl. „Aber sie verlieren sich dann im tagespolitischen Kleinklein, anstatt sich darauf zu besinnen, dass es für die nötigen Paradigmenwechsel eine gemeinsame Basis braucht.“
BNB will diese Plattform schaffen. Die Initiative will eigenen Angaben zufolge eine Brücke sein zwischen Zivilgesellschaft und Politik, „damit die Stimmen der Bewegungen in die politische Entscheidungsfindung einbezogen werden“. BNB fußt auf der Berliner Politikberatungsgenossenschaft Wir für Zukunft, für die vor allem Ehrenamtliche arbeiten. Sie setzen auf Crowdfunding, also Kleinspenden. Weiteres Geld kommt von Stiftungen und Einzelpersonen wie dem Millionär Antonis Schwarz, der sich als Gründer der Initiative Tax me now für eine höhere Besteuerung Wohlhabender einsetzt und den Grünen 2021 eine halbe Million Euro spendete.
Zu den Grünen gehört mit Kassem Taher Saleh auch einer der drei Bundestagsabgeordneten, die BNB im Wahlkampf unter anderem mit Strategieberatung, Pressearbeit und Seminaren zu Kampagnenführung unterstützt hat. Die beiden anderen, Armand Zorn und Rasha Nasr, sind bei der SPD aktiv. Eine weitere Sozialdemokratin, Lena Werner, schloss sich an, nachdem sie bereits ins Parlament gewählt worden war. Die Initiative nennt sie „unsere Abgeordnete“. BNB-Mitgründer Oehl, heute Geschäftsführer, hat selbst in der Vergangenheit für die SPD-Abgeordneten Lars Castellucci und Ulla Schmidt gearbeitet. Er wolle aber auch Mitglieder anderer Parteien erreichen, sagt er.
Sein langfristiges Ziel: Mehrheiten in Bund und Ländern für progressive Politik – in Zukunft auch in Kommunen und in der EU. Gemeint ist damit etwa eine „sozial gerechte Transformation zur Klimaneutralität“ oder eine „Garantie auf eine sozio-ökonomische Teilhabe“ durch eine Reform der Grundsicherung. Diese und weitere Ziele finden sich in einem sogenannten Zukunftsprogramm, das die Initiative Ende 2022 nach einem mehrstufigen Prozess mit Beteiligten aus Politik, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft vorlegte.
Das Paper wird beworben als „Angebot an alle politischen Akteur*innen, alte Denkmuster, politische Gräben und gesellschaftliche Lager zu überwinden, um den Schulterschluss im Namen der Zukunft zu erreichen“. Davon ist die deutsche Politik laut BNB noch weit entfernt. Tatsächlich sind fraktionsübergreifende Initiativen im Bundestag selten. Im Rahmen der Initiative sind es vor allem SPD, Grüne und Linke, die sich vernetzen. Etwa über einen rund um die Organisation entstandenen progressiven Parlamentskreis, an dem etwa 30 Abgeordnete teilnehmen würden. In jeder dritten Sitzungswoche treffen sie sich zu einem Stammtisch.
Viele der Stammgäste standen zuvor auf einer vor der Bundestagswahl veröffentlichten „Top50 Progressives“-Liste. Auf der Liste waren auch Namen von Union und Liberalen, etwa der neue Berliner Kultursenator Joe Chialo, CDU-Bundesvorstandsmitglied Wiebke Winter oder FDP-Fraktionsvize Konstantin Kuhle. Am BNB-Stammtisch nehmen bisher allerdings weder sie noch andere von ihren Parteien teil. Laut Geschäftsführer Oehl gibt es aber bilaterale Kontakte: Viele würden sich durchaus mit der Programmatik identifizieren. Dass eine stärkere Vernetzung fehlt, liege zum Teil an strengen Fraktionsführungen, die genau darauf achten, was ihre Mitglieder treiben.
Wenn es nach Oehl ginge, würde im Bundestag dagegen häufiger ohne Fraktionszwang diskutiert, würden andere Menschen als bisher in Machtpositionen landen. Junge Leute seien dabei nicht zwangsläufig fortschrittlicher im Denken als ältere: „Wenn sie genauso strukturkonservativ sind und nicht gegen systemische Benachteiligungen kämpfen, bringt Jugend nicht viel.“ Menschen, die klassische Parteikarrieren durchgemacht haben – zu denen ihm zufolge auch viele der 2021 eingezogenen Erst-MdBs gehören –, würden in den seltensten Fällen große Sprünge wagen oder Strukturen infrage stellen.
Auch die Sozialdemokratin Nasr aus Sachsen, eine der vier Abgeordneten von Brand New Bundestag, sieht Schwierigkeiten: Es gebe in allen politischen Gruppierungen Leute, die wenig Lust haben, ihren Posten freizumachen „für eine neue Generation, die Bock hat, mit anzupacken“. Das Problem aus ihrer Sicht: verkrustete Strukturen. Die Parteien müssten flexibler werden bei der Nachwuchsförderung und mehr Experimentierräume bieten: „Es gibt keine Möglichkeit zu sagen: Hey, SPD, ich habe drei Monate Zeit – kann ich mich irgendwie einbringen?“
Zudem hätten die im Parlament vertretenen politischen Kräfte Nachholbedarf beim Netzwerken, so Nasr: „Die Rechten haben es international fantastisch drauf, sich zu vernetzen. Wir im demokratischen Spektrum waren viel zu lange damit beschäftigt, zu behaupten, dass wir die jeweils Besseren sind.“ Geschäftsführer Oehl pflichtet ihr bei: „Wie schafft man es, all die Leute, die sich vereinzelt fühlen, zusammenzubringen, damit sie sich nicht nach vier Jahren völlig entnervt aus der Politik zurückziehen?“ Brand New Bundestag soll eine Antwort darauf finden. Und gleichzeitig die aktuelle parlamentarische Arbeit mitprägen, dabei aber anders vorgehen als traditionelle zivilgesellschaftliche Organisationen.
„Häufig finden Proteste erst dann statt, wenn ein Gesetz schon zu 95 Prozent steht“, behauptet Oehl. BNB versuche, bereits früh einzugreifen, um eigene Positionen einzubringen. Oder auch aktuell zu reagieren: Grüne und rote Mitglieder des Parlamentskreises forderten etwa im Herbst 2022 in einem gemeinsamen Papier Nachschärfungen bei der Gaspreisbremse.
Neben der Arbeit auf Bundesebene ist die Initiative auch auf Landesebene aktiv. Neben mehreren erfolglosen Anläufen schafften es bereits vier BNB-geförderte Kandidierende in einen Landtag. Zuletzt gelang das einer CDU-Politikerin in Bremen. Bei den in diesem Jahr noch anstehenden Landtagswahlen in Hessen und Bayern sollen weitere folgen, darunter eine FDP-Kandidatin.
Als Nächstes will die Organisation Kommunal- und Europawahlen in Angriff nehmen. Dabei kann jeder Bürger und jede Bürgerin jemanden online nominieren. Anschließend entscheidet eine zu verschiedenen Anlässen – wie beispielsweise den drei Landtagswahlen in diesem Jahr – jeweils neu zusammengesetzte Jury, wer unterstützt wird.