Das Wort vom kranken Mann Europas macht wieder die Runde. Wie krank ist Deutschland?
Krank ist ein großes Wort, aber besonders leistungsfähig ist dieser Sportler, der im globalen Wettbewerb steht, momentan nicht. Teilweise wegen seines Lebenswandels, teilweise wegen ein paar Randbedingungen, die man nur schwer beeinflussen kann. Aber teilweise auch wegen Einschränkungen, die selbst gemacht sind. Um beim Sportler zu bleiben: auch Kleidung und Ausrüstung des Athleten Deutschland sind alles andere als zweckmäßig.
Stichwort Lebenswandel: Deutschland hat Fett angesetzt?
In gewisser Weise. Aber vor allem hat es sich zu viele Hemmnisse auf die Schultern geladen.
Um im Bild zu bleiben, was ist der größte Stein im Rucksack?
Das größte Problem ist, dass wir vor lauter Bürokratie, vor lauter Regulierung und lauter Beaufsichtigung uns in ein Knäuel eingewickelt haben, das uns überfordert und viel zu langsam macht. Wenn wir auf Innovation setzen, und das müssen wir, dann darf das nicht so bleiben. Innovation hat immer etwas mit Vorankommen, mit Geschwindigkeit zu tun. Daran mangelt es massiv.
An welcher Stelle?
Wir sind viel zu bürokratisch. Und das auf allen Ebenen. In Europa, im Bund, im Bundesland, im Landratsamt. Was sich da über Jahrzehnte herausgebildet hat, ist viel zu kompliziert und lähmend. Nehmen Sie das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Es stellt jedes einzelne Unternehmen vor enorme bürokratische Anforderungen. An der guten Absicht zweifelt niemand. Aber die eingeforderte Volldokumentation ist absolut überzogen. Würde man es aufs Privatleben übertragen, hieße es beispielsweise für Autofahrer, jeden Parkvorgang aktiv einer Behörde melden zu müssen: wann und wo und wie. Das klingt absurd? Ja. Aber genau so wirkt sich dieses Gesetz heute aus.
Was müsste man ändern?
Ganz einfach: Man stellt Regeln auf. Und deren Einhaltung wird stichprobenartig überprüft. Wer gegen die Regeln verstößt, wird zur Verantwortung gezogen. Was jetzt gemacht wird, ist das exakte Gegenteil: Alle müssen fortlaufend bis ins kleinste Detail erfassen und belegen, wer ihnen was liefert. Jeder wird unter Generalverdacht gestellt. Das strotzt vor Misstrauen und geht zu weit. Es ist völlig überzogen, was da stattfindet. Verschärfend kommt hinzu, dass wir sowieso überall unter Arbeitskräftemangel leiden – die Unternehmen und die Behörden auch. Es entsteht Bürokratie ohne Ende: In den Unternehmen durch die exorbitanten Berichtspflichten und in den Behörden, die diese Berichte auswerten. Heraus kommt ein völliges Missverhältnis von Aufwand und Mehrwert.
Politikerinnen und Politiker bis hinauf zum Kanzler kündigen unentwegt an, dass Bürokratie abgebaut werden müsse. Warum hängt das trotzdem?
Es wird immer mal ein Anlauf genommen und an einzelnen Stellen etwas gemacht. Aber die Grundrichtung bleibt: immer mehr Abfragen, Melde- und Dokumentationspflichten. Das wird schlimmer, nicht besser. Ich glaube, dass ein paar sehr fundamentale Fragen gestellt werden müssten. Föderalismus ist gut und schön und in vielem ein sehr richtiges Organisationsprinzip. Aber dass ein Schwertransporter auf dem Weg von Emden nach Niederbayern an jeder Landesgrenze eine neue Genehmigung braucht, ist absurd. Das ist Kleinstaaterei, die zum Himmel schreit. Und solche Beispiele gibt es viele. Die Antwort darauf muss heißen: Wir müssen an die Strukturen ran.
Hat die Politik es trotz aller schönen Worte nicht verstanden?
Doch. Es gibt kein Erkenntnisdefizit; aber der Mut zum Aufbrechen von überholten Regeln bleibt auf der Strecke. Zurück zum Beispiel der Schwertransporte: Warum nicht eine durchgängige Genehmigung für den gesamten Weg?
Sind wir so verknotet, dass wir im internationalen Wettbewerb nicht mehr wettbewerbsfähig sind?
So schwarz-weiß ist die Welt nicht. Das ist von Thema zu Thema und von Branche zu Branche sehr unterschiedlich. Aber es gibt eine Menge Beispiele, wo wir uns selbst fesseln. Wenn wir Innovation immer zuerst unter dem Gesichtspunkt Risiken sehen, dann hat die Gleichung eine triviale Lösung: Ändere nichts, dann gehst Du auch kein Risiko ein. Der Haken ist aber: Ohne Innovationen verlieren wir unsere Wettbewerbsfähigkeit. Wir brauchen dringend eine mehr auf Chancen ausgerichtete Einstellung zu Innovationen. Es geht nicht darum, Risiken auszublenden, sondern Chancen zu ermöglichen.
Woran denken Sie?
Zum Beispiel an den sinnvollen Umgang mit Daten. Individuelle Datensicherheit ist etwas ausdrücklich Gutes. Zugleich müssen wir uns aber in die Lage versetzen, mehr aus unseren Datenbeständen herauszulesen und sie erkenntnisfördernd für Innovationen zu nutzen. Made in Europe könnte ein starkes Argument sein, indem man sagt: Im Gegensatz zu einer US-amerikanischen oder gar chinesischen Lösung hast du bei uns zusätzlich folgende Features, die der Datensicherheit dienen. Das wäre gut. Aber daraus Regulierung zu machen, die prohibitiv ist, das ist weit übers Ziel hinausgeschossen. Wir müssen uns Möglichkeiten schaffen, nicht verbauen.
Früher war Made in Germany ein fantastischer Werbespruch. Er hat überall rund um die Welt funktioniert. Tut er das noch?
Wenn es um den Innovationsaspekt geht: auf jeden Fall, ja. Ein Beispiel: Die Arabische Halbinsel fährt einen eigenständigen Pfad zur Dekarbonisierung. Die Saudis investieren massiv in synthetische Kraftstoffe und einen geschlossenen CO₂-Kreislauf. Die Elektrolyse-Kapazitäten, die dort entstehen, werden von Unternehmen mit Sitz und mit Engineering in Deutschland gebaut. Das ist kein Zufall. Es gibt jede Menge Innovationen Made in Germany, die immer noch einen tollen Ruf in der Welt haben.
Was bedeutet das?
Dass wir massiv auf Innovation setzen müssen! Das ist unsere größte Stärke. Wir waren nie die Billigheimer. Wir müssen aufpassen, dass wir uns im globalen Wettbewerb nicht zu große Handicaps und zu viele Steine in den Rucksack legen. Unser stärkstes Argument war immer Innovation und das muss auch so bleiben.
Der Begriff der Technologieoffenheit wurde im politischen Streit um E-Fuels und Wärmepumpen von manchen als Floskel belächelt. Kommt er für Sie hier zum Tragen?
Als Ingenieur wundere ich mich manchmal schon über die Selbstgewissheit von manchen in Politik und Ministerien, die mit weitem Blick in die Zukunft ganz genau zu wissen glauben, welche Technologien die besten sind und das größte Potenzial entfalten werden. Mehr Aufgeschlossenheit für Technologieoffenheit und mehr Vertrauen in den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren wünsche ich mir schon und würden unserem Land guttun.
Wachstumschancengesetz, sechs Milliarden. Ist das eine echte Hilfe oder nur ein Tropfen auf den heißen Stein?
Es ist erst mal ein Beweis dafür, dass es Mitglieder der Bundesregierung gibt, die das Problem verstanden und auch richtige Hebel identifiziert haben. Sind die sechs Milliarden genug? Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube auch nicht, dass der Finanzminister glaubt, dass die sechs Milliarden genug sind. Aber es ist eine positive Geste.
Aber?
Achtung! Es besteht die Gefahr, dass auch dieses Gesetz wieder zerredet und mit so vielen Schleifchen versehen wird, dass es selbst in den sechs Milliarden nicht wirkt. Mitte der Woche habe ich gelesen: Vor 2025 wird es sowieso nichts. Begründung: Man brauche das Jahr 24, um alles auf den Weg zu bringen. Wie war das mit der Geschwindigkeit? An der fehlt es immer und immer wieder. Die Maßnahmen des Wachstumschancengesetzes sollten eine schnelle Reaktion auf die weltwirtschaftliche Lage sein, da klingt 2025 komisch. Noch ein Beispiel gefällig?
Bitte sehr.
Ich hatte vergangenen Herbst das zweifelhafte Privileg, in der Gaspreis-Kommission zu sitzen. Dort haben wir uns ein paar Wochen um die Ohren geschlagen, um eine praktikable Lösung zu finden. Einfach sollte sie sein und praxisgerecht – eine Versicherung gegen massive Preisausschläge. Wenn Sie sich anschauen, was anschließend rausgekommen ist, als der Gesetzgeber alle möglichen Anwendungsregeln erlassen hat, dann ist von der angestrebten Praktikabilität am Ende nicht mehr viel übrig geblieben. Dementsprechend niedrig ist die Zahl der Industriebetriebe, die davon Gebrauch machen konnten. Das Wachstumschancengesetz hat leider alle Ingredienzien dafür, genauso auszugehen.
Es gibt manche, die fordern, dass Deutschland wie die USA nach dem Vorbild des IRA viel Geld in die Hand nehmen sollte. Was halten Sie davon?
Wenn ich alle Programme zusammennehme, die die EU aufgelegt hat, sind wir bei einer vergleichbaren Größenordnung. Es ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern der unbürokratischen Organisation. Beim IRA kann ich sehr leicht ausrechnen, was ich als Unternehmen für eine Förderung bekomme, und mich darauf verlassen, dass es auch schnell geht. In Brüssel steht man dagegen einem Dickicht unterschiedlicher Programme, Fördertöpfe und Antragsbedingungen gegenüber. Als Großkonzern mit eigener Dépendance in Brüssel kann man sich da vielleicht durchnavigieren. Für Mittelständler ist das völlig unmöglich. Dem steht gegenüber, dass ein Unternehmer, der in die USA kommt und dort mit dem local congressman redet, mit offenen Armen empfangen wird: „Schön, dass Sie da sind, wie kann ich Ihnen helfen?“ Zwischen beiden Vorgehensweisen liegen Welten.
Wie lässt sich das ändern?
Deutschland muss für sich die Frage klären, ob es Industrieland, Exportland und Innovationsland bleiben will. Und wenn ja, dann müssen die Sorgen von Unternehmern ernst genommen werden.
Plötzlich aus Europa ein neues Amerika zu machen, dürfte schwer werden.
Aber weniger schwer ist es zu verstehen, wo die Unterschiede liegen. Wenn wir ein bisschen holzschnittartig draufschauen, dann haben sich die USA entschieden, grüne Energie billiger zu machen. Wir in Europa haben entschieden, fossile Energie teurer zu machen, um die Motivation hin zu Grün zu schaffen. Der Impuls mag derselbe sein. Aber im internationalen Wettbewerb ist in den USA Energie billiger geworden und bei uns teurer. Das ist ein Riesenunterschied in seiner Wirkung auf Unternehmen und die Wettbewerbsfähigkeit des jeweiligen Standorts.
Der atmosphärische Umgang miteinander spielt offenbar auch eine wichtige Rolle. Haben Sie das Gefühl, dass in Deutschland dieses Feindbild Wirtschaft stärker ist als anderswo?
Das Zerrbild vom Unternehmer, der immer nur klagt, sich bereichert und die eigenen Taschen nicht voll genug kriegen kann, gibt es. Ich erlebe parteiübergreifend allerdings viele Spitzenpolitiker, die solchen Vorurteilen ganz und gar nicht verfallen. Nur so richtig dagegen argumentieren tun leider nur sehr wenige.
Warum nicht?
Es würde ja schon helfen, wenn allgemein stärker anerkannt würde, dass die allermeisten der 100.000 Unternehmerinnen und Unternehmer verantwortungsbewusst und mit viel Engagement für ihre Mitarbeitenden und ihre Kunden handeln, keine Ausbeuter sind, keine Kinderarbeit zulassen und ihren Job einfach gut machen.
Würden Sie das auch für den Kampf um die Transformation so sehen?
Absolut. Die grüne Transformation ist inzwischen in der Industrie weitestgehend unstrittig. Unter 100.000 Unternehmen gibt es immer auch ein paar Ausreißer. Aber das sind absolute Ausnahmen. Auf dem Pfad der Dekarbonisierung ist die Industrie längst. Jetzt sollten wir uns darauf konzentrieren, wie das gemeinsam am besten und möglichst schnell zu schaffen ist.
Sie sagen, im Grunde sei es in der Unternehmerschaft unstrittig, dass man sich wandeln muss. Dass grüner Wandel stattfinden muss. Gleichzeitig hat die Automobilindustrie lange gebraucht mit der Umstellung auf Elektromobilität. Wie viel Versäumnisse gibt es auf Unternehmensseite?
Ich bin der Letzte, der sagt, Unternehmen machten immer alles richtig. Ich glaube auch nicht, dass Vorstände oder Geschäftsführer sagen: „Wir sind fehlerlos.“ Aber man sollte die Kirche im Dorf lassen und die Europäer nicht leichtfertig abschreiben. Da passiert gerade sehr viel Positives. Außerdem muss man eines wissen: Die groß angelegt Subventionierung, mit der die Chinesen ihre kleinen Elektroautos so billig machen, gibt es in Europa nicht.
Aus der Wirtschaft ist derzeit viel zu hören, dass immer mehr Unternehmen überlegen, abzuwandern. Wie groß ist die Gefahr tatsächlich?
Wir versuchen, das durch Umfragen, die wir bei mittelständischen Unternehmen machen, zu quantifizieren. Daraus wissen wir, dass 30 Prozent ernsthafte Planungen für verstärkte Auslandsinvestitionen begonnen haben und 16 Prozent schon konkreter mit der Umsetzung befasst sind. Meine dringende Aufforderung an das Bundeswirtschaftsministerium ist: Lasst uns Indikatoren für das Investitionsverhalten der Unternehmen finden, damit wir zu verlässlichen Daten kommen. Der bisherige Indikator für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, die Arbeitslosenquote, funktioniert demografiebedingt nicht mehr – auch im Konjunkturtief gibt es Fachkräftemangel. Deshalb plädieren wir für einen Investitionsindikator. So wie wir früher jeden Monat an den offiziellen Daten zur Arbeitslosenstatistik den Puls der Wirtschaft messen konnten, sollten wir heute regelmäßig offizielle Daten zum Investitionsverhalten erheben und könnten dann daraus adäquate Schlüsse ziehen.
Der Frust wächst, man hört das aus den Betrieben, man kann es an den Umfragezahlen für die AfD ablesen. Wie sehr besorgt Sie das?
Für mich sind das zwei unterschiedliche Baustellen. Das eine ist die AfD; das andere die Frage: Gerät da was ins Rutschen? Ich würde das zunächst nicht parteipolitisch fassen. Aber es gibt ein wachsendes Misstrauen in Politik und Staat, verbunden mit der Frage: Kennen die eigentlich noch unser reales Leben? Oder herrscht eine Flughöhe, die mit unserer Realität nichts mehr zu tun hat? Das heißt aber nicht, alle, die mit der Situation hadern, wählen diese oder jene Partei. So einfach ist die Welt nicht.
Was heißt es dann?
Immer mehr Unternehmer fragen sich: Hält mich die Politik eigentlich vom Grundsatz her für einen Missetäter, den man auf Schritt und Tritt überwachen und ihm vorschreiben muss, was er tun soll, muss oder nicht darf? Oder akzeptiert die Politik, dass ich einen vernünftigen eigenen ethischen Kompass habe, motiviert bin, einen guten Job zu machen, dabei durchaus auch Verantwortung für andere übernehme und ein Verständnis dafür habe, was ich meinen Kindern und meinen Enkeln an Umwelt hinterlasse? Da gerät tatsächlich etwas ins Rutschen. Besonders gilt das für diejenigen, die nicht die Option haben, im Zweifel in ein anderes Land zu gehen und gerade deshalb hier so wichtig sind; die ihre Arbeit lieben, aber jedes Wochenende gezwungen sind, Berichte abzuliefern, Anträge auszufüllen, mit Papierkram überhäuft werden und händeringend Arbeitskräfte suchen. Das ist es, was viele an den Rand der Verzweiflung bringt.
Hat die Politik in Berlin das verstanden?
Ich glaube, es kommt dort zunehmend an. Ich erlebe aber eine große Ratlosigkeit. Viele Politiker fragen sich, was sie wirklich substanziell tun könnten, ohne sich wieder im Kleinklein der Einzelmaßnahmen zu verlieren.
Und in Brüssel, kommt Ihre Botschaft dort an? Viel Regulierung kommt ja von dort, Green Deal, EU-Lieferkettengesetz, Taxonomie.
Wohl weniger. Wahrscheinlich liegt es daran, dass deutsche Politiker öfter und länger in ihren Wahlkreisen unterwegs sind und mit der Realität konfrontiert werden. Das komplexe Institutionen- und Kompromissgefüge von Kommission, Rat und Europaparlament in Brüssel neigt zu einem Eigenleben entfernt von der Alltagswelt der Bürger.
Wächst die EU-Verdrossenheit in der Unternehmerschaft?
Nein, das sehe ich nicht. Unternehmerinnen und Unternehmer sind sich der Tatsache bewusst, wie wichtig die Europäische Union für unseren wirtschaftlichen Erfolg ist. Aber die Erwartung ist auch, dass ein Land wie Deutschland wegen seiner Größe, aber auch wegen seines wirtschaftlichen Gewichts einen gewissen Einfluss in Brüssel haben sollte. Ich spreche im Konjunktiv, weil man sich in der Ampel und auch schon unter Vorgängerkonstellationen oft nicht einig war, und sich Deutschland deshalb im Rat immer wieder enthält, also selbst neutralisiert.
Das sprichwörtliche German Vote...
Nehmen wir das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Wir haben ein in Deutschland gültiges Gesetz, und Frankreich hat ein vergleichbares. Als Europäer mit deutschem Pass frage ich mich: Wenn sich Deutschland und Frankreich einig sind, warum können die vorhandenen Gesetze nicht als Grundlage für eine EU-weite Regelung dienen? Stattdessen wird in Brüssel über die Corporate Sustainability Due Diligence Directive beraten, die völlig ungeeignet zu werden droht.
Von der Leyen hat als Trostpflaster angekündigt, ein Viertel der Berichtspflichten für Unternehmen kürzen zu wollen.
Na ja, es wird vermutlich einige anekdotische Beispiele geben. Aber ich bezweifele, dass die Kommission fundamental etwas ändert, solange wir gleichzeitig über ein Komplettverbot von Tausenden verschiedener Materialen der PFAS-Gruppe diskutieren.
Das neue Mantra in Brüssel ist „europäische Souveränität“. Was bedeutet das für die international aufgestellte deutsche Industrie?
Was mir in der Diskussion um strategische Souveränität fehlt, ist ein Gesamtbild mit konkreten Zielen und Zahlen. Wir sollten sagen, welche Technologien wir in Europa haben wollen und wie umfänglich, dann können wir als Industrievertreter konkrete Preisschilder dahinter setzen und ermitteln, was das kostet. Und auf der Basis muss die Politik im Dialog mit uns klären, wie das finanzierbar ist. Nehmen wir das Beispiel Chipindustrie: Wenn es das angestrebte Ziel ist, in der EU Halbleiter von weniger als zehn Nanometer Gitterweite produzieren zu wollen, und wir dabei im Wettbewerb mit Subventionen anderer Länder stehen, dann muss man sich darauf einlassen und Ansiedelungen mit Milliardenbeträgen unterstützen, sonst gehen wir leer aus.
Es gibt schüchterne Ansätze wie den Net-Zero Industry Act, in dem gewisse klimafreundliche Technologien definiert werden.
Ich würde einen konkreteren Ansatz bevorzugen. Wird eine europäische Solarindustrie als strategisches Ziel ausgegeben, also definiert, x Prozent unserer Solarmodule wollen wir hier produzieren, dann muss man klären: Was muss dafür alles passieren? Wir müssten mit Experten sprechen und beziffern, welche Kapazitäten wir brauchen und wie wir diese so aufbauen, dass sie global wettbewerbsfähig sind.
Der BDI war lange Zeit Vorreiter in der Diskussion über China. Inzwischen gibt es eine China-Strategie der Bundesregierung. Wie viel Orientierung gibt diese der Industrie?
Ich halte die Strategie für ziemlich ausgewogen. Aber es gibt einige Fakten in dem Zusammenhang, die in der öffentlichen Diskussion noch zu wenig reflektiert werden. In einer Studie von Merics und dem Institut der Deutschen Wirtschaft aus dem April dieses Jahres kann man nachlesen, dass die Investitionen deutscher Unternehmen in China in der Summe vollständig aus dem Gewinn des Geschäfts in China finanziert werden. Aus Makroperspektive fließt also kein Geld aus Deutschland nach China. Das sollten auch jene im Blick behalten, die fragen, wie es denn sein könne, dass die Unternehmen dort noch immer so viel investieren.
Die Abhängigkeit einzelner Unternehmen von China sinkt dadurch aber nicht.
Die Unternehmen sollten Abhängigkeiten reduzieren und betreiben das systematisch. Unternehmensinterne globale Wertschöpfungsverbünde sollten zum Beispiel nicht auf einzelne Komponenten aus Werken in China angewiesen sein. Das kann jedes Unternehmen recht schnell lösen. Bei Rohstoffen und Komponenten, die es nur oder fast nur aus China gibt, ist das Ziel ähnlich, aber hier dauert die Anpassung deutlich länger. Hier reden wir über Zeiträume von fünf bis zehn Jahren, die es im Regelfall braucht, um neue Bezugsquellen zu erschließen und Investoren für neue Minen und für Aufbereitungsanlagen zu finden und diese dann zu bauen. Ich wünsche mir, dass die Bundesregierung jetzt das Deutschland-Tempo auch bei der Rohstoffversorgung aufbringt. Dann gelingt uns die Diversifizierung schneller. Eine verstärkte heimische Förderung in Deutschland und Europa sollte Teil der Lösung sein. Was den Absatz in China und den Export dorthin betrifft, stelle ich die Frage: Was würde denn besser dadurch, wenn ein Unternehmen jetzt bewusst weniger in China verkaufte, als es kann? Natürlich sollten die Firmen zusätzliche neue Absatzmärkte in anderen Ländern erschließen, dafür brauchen wir unter anderem auch dringend mehr Freihandelsabkommen. Aber es würde überhaupt niemandem helfen, wenn deutsche Unternehmen jetzt ihr Vertriebsvolumen in China reduzierten.
Die deutschen Autohersteller machen teils 40 Prozent ihres Umsatzes in China. Wenn ein zunehmend autoritär agierender Präsident Xi irgendwann nach Taiwan greifen und die EU Sanktionen verhängen sollte, könnten die Unternehmen ins Wanken geraten. Im Zweifelsfall rufen sie dann nach dem deutschen Steuerzahler.
Wer unternehmerische Risiken eingeht, muss dafür geradestehen. Das ist Vorständen und Aufsichtsräten völlig klar und auch, dass too big to fail kein Argument ist, auf das man setzen kann. Aber noch mal: Was wäre besser daran, wenn sich Unternehmen rein vorsorglich aus China zurückzögen?
Wirtschaftsminister Robert Habeck will vor allem chinesische Investitionen in Deutschland schärfer prüfen lassen. Halten Sie das für richtig?
Ich halte es da eher mit der amerikanischen Herangehensweise: hohe Zäune, aber nur um ein kleines Gebiet. Sprich: Investitionsprüfungen für scharf abgegrenzte sicherheitsrelevante Bereiche, auf die bestimmte Länder keinen Zugriff bekommen sollen. Die Diskussion in Deutschland ist mir viel zu unspezifisch. Und Populismus hilft nicht weiter.
Habeck will den Geltungsbereich ausweiten.
Wir sollten die Prüfungen nicht einfach auf Verdacht ausdehnen. Auch eine Beweislastumkehr, die jetzt kolportiert wird, fände ich ziemlich schräg in unserem Rechtssystem. Nach dem Motto: Das Unternehmen muss beweisen, dass es nicht sicherheitsrelevant ist. Es sollte auch keine Lex China geben, sondern eine Lex Germany. Wir sollten also diskutieren, wie wir mit Investitionen aus Ländern umgehen, deren Vorgehen wir nicht als vertrauenswürdig ansehen, egal, wie diese Länder heißen.
Die Skepsis gegenüber China wächst auch mit Blick auf den wissenschaftlichen Austausch. Die Forschungsministerin plädiert dafür, hier sehr vorsichtig zu sein und den Austausch im Zweifel einzuschränken. Wie stehen Sie dazu?
Ganz einfach: Austausch guter Ideen ist gut, aber wechselseitig und ohne Missbrauch. Also wissenschaftliche Zusammenarbeit – unbedingt! Es gibt ein paar ziemlich fundamentale Fragen, die wir zum Beispiel ohne China weltweit nicht lösen können. Aber ich kann gut nachvollziehen, dass eine deutsche Universität sagt: Wenn ein Promotionsstipendiat von einer ganz bestimmten staatlichen Organisation eines Landes mit offenkundigen Absichten zu 100 Prozent finanziert wird, dann möchten wir diesen lieber nicht in die Herzkammer unserer Innovation lassen.
Sie haben viele Missstände geschildert. Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Wie würden Sie diesen Staat und das Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft neu organisieren?
Wir befinden uns in einer massiven Transformation, Stichwort Dekarbonisierung, Stichwort Digitalisierung, Stichwort Demografie. Ich würde mir wünschen, dass es einen Grundkonsens der demokratischen Parteien mit einer breiten Akzeptanz in Wirtschaft und Gesellschaft gibt für diese Prozesse, auf den über längere Laufzeit als eine Legislaturperiode Verlass ist. Ich habe weiterhin die Hoffnung, dass man etwa zum deutschen Weg zur Dekarbonisierung auch einen Konsens aller Demokraten finden kann. Das würde den Unternehmen Investitionssicherheit über viele Jahre hinweg geben. Und dann könnten Demokraten auch gemeinsam den Rattenfängern entgegentreten, die vorgaukeln, mit einfachen Lösungen seien anspruchsvolle Zukunftsthemen zu meistern oder schlicht behaupten, alles könne bleiben, wie es immer schon war.
Sie meinen die AfD.
Die AfD zu ignorieren geht nicht. Also muss man den Menschen zeigen, warum deren vermeintliche Antworten keine sind. Nein, die „guten alten Zeiten“ früher waren nicht besser. Mein Vater hat drei Monatsgehälter für den ersten Farbfernseher bezahlen müssen. Ein Einigeln von Deutschland hilft nicht. Wir sind mehr als alle anderen Länder auf internationalen Handel, auf internationale Zusammenarbeit angewiesen. Und es gibt eine ethische Dimension. Man kann doch nicht im Ernst eine Partei unterstützen, deren Vordenker Behinderte nicht mehr gemeinsam mit Nichtbehinderten in die Schule gehen lassen wollen! Was ist das für ein Menschenbild, das dahintersteckt?
Die Parteien, auch die in der Ampel, beschäftigen sich leider vor allem mit sich selbst.
Die Demokraten sollten sich zu einem Minimalkonsens zusammenfinden und aufhören mit den Sandkastenspielchen: Du hast mir meine Schaufel weggenommen, also klaue ich dir deine Schaufel. Und dann gehen wir gemeinsam in Klausur nach Meseberg und verteilen die Schaufeln neu – das ist doch kindisch.